Entscheidungsstichwort (Thema)

Umsätze und Vorsteuerbeträge als neue Tatsache nach Schätzungsbescheid: Zusammenhang nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO 1977, Vorsteuern abziehbar im Schätzungsweg nach Verhältnis der ursprünglichen zu den geschätzten Umsätzen - Kostenentscheidung des BFH auch für erstinstanzliches Verfahren bei Erfolg der Revision

 

Leitsatz (amtlich)

1. Umsätze, die --nach Steuerfestsetzung aufgrund einer Schätzung-- in einer Umsatzsteuererklärung angegeben werden, sind regelmäßig nur insoweit nachträglich bekanntgewordene Tatsachen i.S. des § 173 Abs. 1 AO 1977, als sie die vom Finanzamt im Schätzungsbescheid bereits erfaßten Umsätze übersteigen.

2. Die in der Umsatzsteuererklärung erklärten, im Schätzungsbescheid nicht erfaßten Vorsteuerbeträge stehen mit den nachträglich bekanntgewordenen Umsätzen grundsätzlich nur insoweit im Zusammenhang i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO 1977, als sie zur Ausführung dieser Umsätze verwendet wurden. Die Vorsteuerbeträge können im Schätzungswege im Verhältnis der geschätzten zu den erklärten Umsätzen aufgeteilt werden.

NV: Hat die Revision Erfolg und ändert der BFH die finanzgerichtliche Entscheidung ab, so hat er nicht nur über die im Rechtsmittelverfahren, sondern auch über die im erstinstanzlichen Verfahren entstandenen Kosten zu entscheiden, und zwar getrennt, wenn die Streitwerte in den beiden Verfahren unterschiedlich sind (vgl. BFH-Urteil vom 21.04.1989 IV R 40/88).

 

Orientierungssatz

NV: Hat die Revision Erfolg und ändert der BFH die finanzgerichtliche Entscheidung ab, so hat er nicht nur über die im Rechtsmittelverfahren, sondern auch über die im erstinstanzlichen Verfahren entstandenen Kosten zu entscheiden, und zwar getrennt, wenn die Streitwerte in den beiden Verfahren unterschiedlich sind (vgl. BFH-Urteil vom 21. 4.1989 IV R 40/88).

 

Normenkette

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nrn. 1, 2 Sätze 1-2; FGO § 143 Abs. 1; UStG 1973 § 15 Abs. 1 Nr. 1; UStG 1980 § 15 Abs. 1 Nr. 1

 

Tatbestand

I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) führte in den Streitjahren (1979 und 1981) im Erhebungsgebiet steuerpflichtige Umsätze aus. Da sie keine Umsatzsteuererklärungen abgab, schätzte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) die Besteuerungsgrundlagen und setzte die Umsatzsteuer im März 1983 für 1979 auf 198 000 DM und für 1981 auf 195 000 DM fest. Vorsteuerbeträge berücksichtigte das FA nicht.

Die Klägerin gab im Juni 1983 Umsatzsteuererklärungen ab, die für beide Streitjahre höhere als die vom FA schätzungsweise ermittelten Umsätze enthielten. Aufgrund der in den Steuererklärungen ebenfalls angegebenen Vorsteuerbeträge ist für 1979 Umsatzsteuer in Höhe von 78 437 DM und für 1981 in Höhe von ./. 236 316,80 DM errechnet. Die Klägerin beantragte, die Schätzungsbescheide gemäß § 173 der Abgabenordnung (AO 1977) entsprechend den eingereichten Steuererklärungen zu ändern.

Das FA wies den Antrag auf Änderung der Umsatzsteuerbescheide zurück. Der Einspruch blieb erfolglos.

Auf die Klage verpflichtete das Finanzgericht (FG) das FA, die Umsatzsteuerveranlagungen 1979 und 1981 unter Auswertung der abgegebenen Umsatzsteuererklärungen zu ändern. Zur Begründung führte das FG im wesentlichen aus, sowohl die in den Umsatzsteuererklärungen angegebenen, über den bisherigen Schätzungen liegenden Umsätze als auch die Geschäftsvorfälle, die den geltend gemachten Vorsteuerbeträgen zugrunde lägen, seien Tatsachen i.S. des § 173 AO 1977, die jeweils getrennt nach der zitierten Vorschrift zu würdigen seien. Die Mehrumsätze einerseits und die den Vorsteuerbeträgen zugrundeliegenden Geschäftsvorfälle andererseits stellten Tatsachen dar, die zueinander in einem mittelbaren Zusammenhang i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO 1977 ständen. Das --unzweifelhaft vorhandene-- grobe Verschulden der Klägerin an dem nachträglichen Bekanntwerden sei demnach unbeachtlich.

Dagegen wendet sich das FA mit seiner Revision. Es rügt Verletzung von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 und trägt dazu vor, bei der Frage, inwieweit das grobe Verschulden der Klägerin am nachträglichen Bekanntwerden der Vorsteuern infolge eines unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhangs mit den steuererhöhenden Tatsachen unbeachtlich sei, dürfe --entgegen der Rechtsansicht des FG-- nicht unberücksichtigt bleiben, daß ein Teil der in den Steuererklärungen angegebenen Vorsteuer auf die schätzungsweise erfaßten Umsätze entfalle. Demzufolge sei eine Aufteilung der erklärten Vorsteuerbeträge vorzunehmen in einen auf die geschätzten Umsätze entfallenden und deshalb nicht zu gewährenden Anteil und die übrige Vorsteuer, die den nachträglich bekanntgewordenen, die Schätzungen übersteigenden Umsätzen zuzuordnen und mithin gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO 1977 bei der Steuerberechnung abzuziehen sei. Zur Ermittlung der gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO 1977 zu berücksichtigenden Vorsteuerbeträge seien die erklärten zu den geschätzten Umsätzen ins Verhältnis zu setzen und die geltend gemachten Vorsteuern diesem Verhältnis entsprechend zu kürzen.

Das FA beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage hinsichtlich des Streitjahres 1979 im vollen Umfang und bezüglich des Streitjahres 1981 insoweit als unbegründet abzuweisen, als die Klägerin die Festsetzung eines höheren Überschusses zu ihren Gunsten als ./. 33 675,31 DM begehrt.

Die Klägerin ist der Revision entgegengetreten.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist begründet. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

Das FA ist nicht verpflichtet, den Umsatzsteueränderungsbescheid 1979 zu ändern und hinsichtlich des Streitjahres 1981 einen höheren Überschuß festzusetzen, als vom FA mit der Revision beantragt worden ist. Entgegen der Auffassung des FG stehen die Leistungsbezüge, die den von der Klägerin nachträglich erklärten Vorsteuerbeträgen zugrunde liegen, nicht im vollen Umfang mit den von ihr nachträglich erklärten Umsätzen in einem mittelbaren Zusammenhang i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO 1977.

1. Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 und 2 AO 1977 ist ein Steuerbescheid aufgrund von nachträglich bekanntgewordenen Tatsachen, die zu einer niedrigeren Steuer führen, trotz groben Verschuldens des Steuerpflichtigen am nachträglichen Bekanntwerden zu ändern, wenn die Tatsachen in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang mit nachträglich bekanntgewordenen Tatsachen stehen, die zu einer höheren Steuer führen. Ein Zusammenhang zwischen steuererhöhenden und steuermindernden Tatsachen im Sinne dieser Vorschrift ist gegeben, wenn der steuererhöhende Vorgang nicht ohne den steuermindernden Vorgang denkbar ist (Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 8. August 1991 V R 106/88, unter II. 2. b, 7. Absatz, BFHE 165, 424, BStBl II 1992, 12, und vom 21. Februar 1991 V R 25/87, unter 3., letzter Absatz, BFHE 164, 1, BStBl II 1991, 496). Zwischen nachträglich bekanntgewordenen steuerpflichtigen Umsätzen und den vorsteuerbelasteten Leistungen an den Unternehmer besteht der danach erforderliche Zusammenhang nur insoweit, als die Leistungen zur Ausführung der nachträglich bekanntgewordenen Umsätze verwendet wurden (BFH-Urteil in BFHE 165, 424, BStBl II 1992, 12 unter II. 2. b, 6. Absatz).

2. Die von der Klägerin in den Umsatzsteuererklärungen angegebenen Umsätze beruhen nur insoweit auf nachträglich bekanntgewordenen Tatsachen i.S. des § 173 Abs. 1 AO 1977, als sie die vom FA in den Schätzungsbescheiden bereits erfaßten Umsätze übersteigen.

Das FA ging bei seiner Schätzung davon aus, daß die Klägerin im Rahmen ihrer dem FA bekannten steuerpflichtigen Tätigkeit Umsätze mit einer Bemessungsgrundlage ausgeführt hatte, die zu der in den Schätzungsbescheiden festgesetzten Steuer führten. Der von der Klägerin später erklärten größeren Summe von Umsätzen (§ 16 Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes --UStG-- 1973 bzw. 1980) liegen nur insoweit nachträglich bekanntgewordene, zu einer höheren Steuer führende Tatsachen zugrunde, als diese Summe über die Summe der geschätzten --und damit als dem FA bekannt geltenden-- Umsätze hinausgeht. Hierbei kommt es nicht darauf an, inwieweit die zu geringe Höhe der Schätzung durch das FA auf der Annahme einer zu niedrigen Zahl von Umsätzen oder auf nicht hoch genug angesetzten Bemessungsgrundlagen oder auf beiden Gründen für das Zurückbleiben der Schätzung hinter den tatsächlichen Verhältnissen beruht.

3. Die den von der Klägerin geltend gemachten Vorsteuerbeträgen zugrundeliegenden Leistungsbezüge stehen mithin --entgegen der Auffassung des FG-- grundsätzlich nur insoweit in dem in § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO 1977 geforderten Zusammenhang mit den nachträglich bekanntgewordenen --über den Ansatz in den Schätzungsbescheiden hinausgehenden-- Umsätzen, wie die Leistungsbezüge zur Ausführung dieser Umsätze verwendet wurden. Nur insoweit sind die steuererhöhenden Vorgänge nicht ohne die steuermindernden Vorgänge denkbar. Sofern die Leistungsbezüge hingegen zur Ausführung der bereits im Schätzungsbescheid erfaßten Umsätze --gegenständlich oder wirtschaftlich-- verwendet wurden, fehlt es an einem Zusammenhang mit den steuererhöhenden Tatsachen (größere Zahl von Umsätzen bzw. höhere Bemessungsgrundlagen), so daß die Vorsteuer hieraus nicht nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO 1977 berücksichtigt werden kann. Die von der Klägerin geltend gemachte Vorsteuer ist daher entsprechend aufzuteilen.

Dies kann nur auf dem Wege der Schätzung erfolgen, wenn --wie hier-- der ursprünglichen Steuerfestsetzung eine Umsatzschätzung zugrunde liegt, bei der das FA --wie im Regelfall-- davon abgesehen hat, die Umsatzsteuer auf der Grundlage des Ansatzes einer Vielzahl einzelner Umsätze mit jeweils genau bezifferter Bemessungsgrundlage zu ermitteln. Für derartige Umstände hält der erkennende Senat es nicht für gerechtfertigt, darauf zu bestehen, daß ein Zusammenhang i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO 1977 lediglich dann vorliege, wenn die nachträglich bekanntgewordenen Leistungsbezüge zur Ausführung der nachträglich bekanntgewordenen Ausgangsumsätze verwendet wurden (vgl. Senatsurteil in BFHE 165, 424, BStBl II 1992, 12, unter II. 2. b; siehe auch oben II. 1. a.E.).

Die vom FA in der Revisionsbegründung vorgenommene Aufteilung nach dem Verhältnis der geschätzten und erklärten Umsätze ist unter den gegebenen Umständen für die Ermittlung der zu berücksichtigenden Vorsteuerbeträge ein sachgerechtes Schätzungsverfahren. Anhaltspunkte dafür, daß weniger oder mehr Vorsteuerbeträge im Zusammenhang mit den nachträglich bekanntgewordenen Umsätzen stehen als sich nach dieser Aufteilung ergibt, sind nicht ersichtlich.

Die Aufteilung der Vorsteuerbeträge nach dem Verhältnis der geschätzten zu den erklärten Umsätzen führt für die Streitjahre zu folgenden Umsatzsteuern:

a) 1979:

Umsätze lt. Schätzungsbescheid 1 550 000,00 DM

Umsätze lt. Umsatzsteuererklärung 7 054 995,00 DM

Anteil der nachträglich

bekanntgewordenen Umsätze = 78,03 v.H.

Vorsteuer lt. Schätzungsbescheid 0,00 DM

Vorsteuer lt. Umsatzsteuererklärung 824 862,56 DM

Zu berücksichtigende Vorsteuer im Wege der schätzungsweisen Aufteilung: 824 862,56 DM x 78,03 v.H. = 643 640,26 DM

Umsatzsteuer 1979

Umsatzsteuer lt. Erklärung 903 299,60 DM

Vorsteuer 643 640,26 DM

259 659,34 DM

=============

Da das FA die Umsatzsteuer 1979 im Schätzungsbescheid bereits niedriger

(198 000 DM) festgesetzt hat, war die Klage mangels Rechtsschutzinteresses

der Klägerin für eine Änderung dieses Bescheides nach § 173 Abs. 1 AO 1977

abzuweisen.

b) 1981:

Umsätze lt. Schätzungsbescheid 1 500 000,00 DM

Umsätze lt. Umsatzsteuererklärung 18 365 881,00 DM

Anteil der nachträglich

bekanntgewordenen Umsätze = 91,83 v.H.

Vorsteuer lt. Schätzungsbescheid 0,00 DM

Vorsteuer lt. Umsatzsteuererklärung 2 480 311,92 DM

Zu berücksichtigende Vorsteuer im Wege der schätzungsweisen Aufteilung: 2 480 311,92 DM x 91,83 v.H. = 2 277 670,44 DM

Festzusetzende Umsatzsteuer 1981

Umsatzsteuer lt. Erklärung 2 243 995,13 DM

Vorsteuer 2 277 670,44 DM

./. 33 675,31 DM

===================

Der Klage auf Änderung des Umsatzsteuerbescheids 1981 war somit insoweit stattzugeben, als das FA gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 Satz 2 AO 1977 verpflichtet ist, die Umsatzsteuer zugunsten der Klägerin auf ./. 33 675,31 DM festzusetzen. Ein Anspruch auf Festsetzung eines höheren Überschusses steht der Klägerin hingegen nicht zu. Die Klage war daher insoweit abzuweisen.

++/ 4. Die Kostenentscheidung beruht für das erstinstanzliche Verfahren auf § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO, für das Revisionsverfahren auf § 135 Abs. 1 FGO. Da die Revision Erfolg hat, war über die Kosten beider Instanzen zu befinden (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 143 Rz. 6), und zwar wegen der unterschiedlichen Streitwerte getrennt (vgl. BFH-Beschluß vom 21. April 1989 IV R 40/88, BFH/NV 1990, 182 m.w.N.). /++

 

Fundstellen

Haufe-Index 65762

BFH/NV 1996, 9

BStBl II 1996, 149

BFHE 179, 1

BFHE 1996, 1

BB 1996, 40

BB 1996, 942

BB 1996, 942-944 (LT)

DB 1996, 24 (L)

DStR 1996, 179-180 (KT)

HFR 1996, 118-119 (L)

StRK, R.50 (LT)

KFR, 1/96, S 83 (H 4/1996) (LT)

UStR 1996, 101-103 (KT)

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