Leitsatz (amtlich)

1. Wird eine Fabrikhalle um eine weitere Fabrikhalle von nahezu gleichen Baumaßen und gleicher Bauausführung erweitert, entsteht in der Regel ein neues Wirtschaftsgut unter Einbeziehung des bereits vorhandenen Gebäudes.

2. Bei einer derart gegebenen Identität der Alt- und Neubauteile ist grundsätzlich auch die Annahme ausgeglichener Wertverhältnisse gerechtfertigt.

 

Normenkette

UStG 1967 § 30 Abs. 2

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) betreibt eine Garnspinnerei. Im Jahre 1966 hatte sie auf ihrem Betriebsgrundstück eine Fabrikationshalle von 112 m Länge und 25,6 m Breite errichtet (Halle I). An eine Längsseite dieser Halle baute sie im Jahre 1969 gleichgerichtet eine weitere Halle (Halle II) von ebenfalls 112 m Länge und 25 m Breite an. Beim Bau der Halle I waren ihre tragenden Elemente auf der jetzt der Halle II zugewandten Längsseite (16 Stahlbetonpfeiler) so ausgelegt worden, daß sie über die Außenwand der Halle I hinausragten; sie sollten insoweit bei einem Hallenbau als Auflieger für ein weiteres Dach dienen. Dementsprechend wurde das Dach der Halle II auf diese Stützpfeiler der Halle I aufgelegt. Die Halle II besitzt auf der gemeinsamen Längsseite zur Halle I keine eigene Wand; vielmehr dient die bisherige Außenmauer der Halle I nunmehr als gemeinsame Trennwand und Brandmauer. Fünf eingebaute feuerhemmende Stahltüren bilden die Durchlässe zwischen beiden Hallen. Die Hallen weisen dieselbe Höhe, dieselbe Dachform und dieselbe Linienführung auf. Die Bauweise ist einheitlich. Die Halle I hat einen umbauten Raum von 17 500 cbm, die Halle II von ca. 17 100 cbm. Die Baukosten der Halle I betrugen ca. 640 000 DM, die der Halle II 443 202,61 DM. Eine Trafostation, die bislang der Stromversorgung der Halle I diente, wurde in die Halle II verlegt und versorgt jetzt beide Hallen. Außerdem wird die Halle II über eine Kompressorstation, ein Druckluftnetz, ein Dampfnetz und ein Wassernetz aus der Halle I versorgt. Beide Hallen haben eine nahezu gleiche Maschinenausstattung mit Ausnahme einer nur in Halle I vorhandenen Wollmischanlage. In ihr wird die Wolle zum Spinnen gemischt und dann durch dicke Druckrohrleitungen in die Materialkammern der Hallen I und II geblasen. Im übrigen verläuft die Produktion in den Hallen gleichartig parallel.

Der Beklagte und Revisionskläger (FA) hat nach einer Betriebsprüfung durch den Umsatzsteuerbescheid 1969 die Inbetriebnahme der Halle II im Jahre 1969 als einen selbstverbrauchsteuerpflichtigen Tatbestand im Sinne des § 30 Abs. 2 UStG 1967 beurteilt und die Klägerin deswegen mit der Bemessungsgrundlage von 443 202,61 DM zur Selbstverbrauchsteuer in Höhe von 31 024,14 DM herangezogen.

Der von der Klägerin unmittelbar zum FG erhobenen Klage mit dem Antrage, die Umsatzsteuer 1969 um 31 024,14 DM herabzusetzen, hat das FG stattgegeben. Es hat in seinen Entseheidungsgründen ausgeführt: Durch den Neubau (Halle II) sei lediglich der Altbau (Halle I) erweitert, nicht aber ein selbständiges Wirtschaftsgut geschaffen worden. Alt- und Neubau seien aufgrund der bautechnischen Gestaltung miteinander verschachtelt. Die Halle II sei in ihrer Standfestigkeit von den tragenden Pfeilern der Halle I abhängig und damit bautechnisch untrennbar mit der Halle I verbunden. Auch äußerlich böten beide Hallenteile das Bild eines einheitlichen Gebäudes. Dieser Gesamteindruck werde auch nicht dadurch beeinträchtigt, daß aufgrund der Dachneigung der beiden Hallen zueinander, einer unterschiedlichen Dachfärbung und einer senkrechten Linie an der Verbindungsstelle der beiden Hallen zu erkennen sei, wo sie aneinandergebaut seien. Wenn auch im Inneren des Hallenkomplexes die gemeinsame Wand eine gewisse räumliche Trennung bewirke, so falle dies jedoch gegenüber den für eine Verschachtelung sprechenden Umständen nicht entscheidend ins Gewicht. Die Hallen seien auch funktionell als Einheit zu betrachten, was sich aufgrund der gleichartigen Produktion auf gleichartigen Maschinen sowie der gemeinsamen, hierauf abgestellten Versorgungsanlagen ergebe.

Durch den Anbau der Halle II sei von der Klägerin ein neues einheitliches Wirtschaftsgut unter Einbeziehung der bereits vorhandenen Halle I geschaffen worden. Bei der Halle II handele es sich um einen Anbau, denn die Halle I gebe dem Gesamtkomplex das Gepräge. Zwar sei sie nur unwesentlich größer als Halle II; sie überwiege aber hinsichtlich der Wertverhältnisse ganz beträchtlich, da sie als Grundstock des Gesamtgebäudes mit Vorrichtungen für einen Anbau geplant und errichtet worden sei und demgemäß höhere Baukosten verursacht habe. Demgegenüber seien Besonderheiten, die abweichend von den Größen- und Wertverhältnissen dazu hätten führen können, daß die Halle II dem Gesamtkomplex das Gepräge gebe, nicht ersichtlich. Im übrigen handle es sich entgegen der Auffassung des FA nicht um ein einheitliches Bauvorhaben aufgrund einer von vornherein geplanten Erweiterung. Die von der Rechtsprechung des BFH im Urteil vom 20. Februar 1975 IV R 241/69 (BFHE 115, 133, BStBl II 1975, 412) insoweit geforderten Voraussetzungen fehlten, da erst geraume Zeit nach Fertigstellung der Halle I ein Bauantrag für die Halle II gestellt worden sei, neue Ausschreibungen vorgenommen sowie neue Bauaufträge erteilt worden seien.

Gegen diese Entscheidung wendet sich die Revision des FA, die auf die Verletzung formellen (§ 76 FGO) und materiellen Rechts (§ 30 Abs. 2 UStG 1967) gestützt wird. Das FA führt dazu im wesentlichen aus: Entgegen der Auffassung des FG sei Halle II ein selbständiges Wirtschaftsgut im Sinne des § 30 Abs. 2 UStG 1967. Die Frage der Selbständigkeit von Gebäudeanbauten sei in erster Linie nach der baulichen Gestaltung zu beurteilen. Demgegenüber trete die betriebliche Verflechtung bei industriellen Mehrzweckbauten - um die es sich bei den Hallen I und II handle - zurück. Aus der Sicht der baulichen Gestaltung sei Halle II gegenüber Halle I selbständig; denn beide Hallen seien in ihrer gesamten Länge von 112 m voneinander durch eine Mauer getrennt; nur fünf Türen von normalem Maß gewährten einen Durchlaß. Dadurch gewinne der Betrachter im Inneren der beiden Hallen den Eindruck eines jeweils selbständigen Gebäudes. Dem entspreche auch das äußerliche Erscheinungsbild beider Hallen. Die Halle II unterscheide sich von der Halle I insbesondere in der Dachneigung und Dachfärbung, in der Form der Stahlbeton-Skelettträger sowie in der Gestaltung der Türen. Im Gegensatz zur Halle I seien bei der Halle II keine Glasbausteine verwendet worden. Die Selbständigkeit beider Hallen werde ferner dadurch betont, daß jede über ausreichende Zugänge von außen verfüge. Insgesamt betrachtet sei keine der Hallen der anderen übergeordnet. Entgegen der Auffassung des FG sei auch die betriebliche Verflechtung der Hallen nicht von solchem Ausmaß, daß sie für eine Einheitlichkeit des Hallenkomplexes sprechen könnte. Denn die Produktionsanlagen seien in beiden Hallen parallel zueinander montiert. Der Transport von Halbfabrikaten durch die Verbindungstüren zum Zweck einer vollen Kapazitätsausnutzung beeinträchtige somit nicht die Selbständigkeit der beiden Produktionsanlagen. Aus der Unterbringung der Versorgungsanlagen könne nichts für die Auffassung des FG hergeleitet werden. Einerseits befinde sich in der Halle I die Kompressoranlage; demgegenüber sei aber die betrieblich stärker ins Gewicht fallende Trafoanlage in der Halle II untergebracht. Daß die Versorgung der Halle II mit Dampf und Wasser durch die Leitungen der Halle I erfolge, sei ohne Bedeutung, da Dampf und Wasser außerhalb beider Hallen gewonnen und durch Halle I lediglich hindurchgeleitet würden.

Für die Selbständigkeit der Hallen spreche letztlich auch, daß die Klägerin eine von ihnen an ihre Gesellschafterin "W-Werk KG" vermietet habe.

Das FA beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin tritt der Revision entgegen. Sie macht sich im wesentlichen die Auffassung des FG zu eigen und führt zusätzlich aus: Die Darstellung des FA, daß eine der beiden Hallen an die KG vermietet worden sei, treffe nicht zu. Der KG habe lediglich vorübergehend ein Anteil von ca. 20 v. H. der Gesamtfläche der Halle II, die zu dieser Zeit von ihr, der Klägerin, nicht benötigt worden sei, gegen entsprechende Zahlung zur Verfügung gestanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage.

1. Selbstverbrauch nach § 30 Abs. 2 UStG 1967 liegt vor, wenn - neben anderen Voraussetzungen, die hier erfüllt sind - selbständige körperliche Wirtschaftsgüter der Verwendung oder Nutzung als Anlagevermögen zugeführt werden. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats wird bei einem Anbau an ein bereits bestehendes Gebäude der Tatbestand des Selbstverbrauchs nur verwirklicht, wenn entweder der Anbau als selbständiges, neben das Altgebäude tretendes Wirtschaftsgut zu beurteilen ist, oder wenn ein neues Wirtschaftsgut unter Einbeziehung des Altgebäudes geschaffen wird, dem die Neubauteile das bestimmende Gepräge geben.

Zutreffend hat das FG die erste Alternative verneint und ohne Rechtsfehler erkannt, daß beide Hallen baulich verschachtelt und betrieblich verflochten sind. Die bauliche Verschachtelung konnte das FG zutreffend schon darauf stützen, daß die Halle II auf einer Längsseite (von 112 m) völlig der tragenden Bauelemente entbehrt und in ihrer Standfestigkeit von den 16 Betonstützpfeilern der Halle I abhängt. Bei Abriß der Halle I müßten zur Herrichtung der Halle II nicht nur bislang unterlassene Baumaßnahmen nachgeholt werden, die der Senat im gewissen Umfang als unbeachtlich angesehen hat (wie z. B. die Ausmauerung der Stahlkonstruktion, um eine bislang fehlende Wand einzuziehen). Vielmehr würde der Abriß der Halle I wegen der damit verbundenen Entfernung seiner Stützpfeiler auf der gemeinsamen Längsseite eine vorherige Beseitigung des Daches der Halle II oder dessen vorübergehende Abstützung bedingen, soweit dieses auf den vorbezeichneten Pfeilern ruht. Dies wären jedoch nicht unerhebliche Bauaufwendungen, deren Erforderlichkeit im Falle der angenommenen Veränderung der Senat als Merkmal baulicher Verschachtelung betrachtet. Die aufeinander abgestimmte betriebliche Nutzung beider Hallen hat das FG ebenfalls zu Recht bejaht, da mit der Halle II lediglich die Produktion ausgeweitet wurde. Der Umstand räumlicher Verteilung der Versorgungseinrichtungen unterstützt diese Beurteilung.

2. Dem FG kann jedoch nicht in seiner Beurteilung gefolgt werden, daß die Halle II schon aufgrund vorstehender Erörterungen als Anbau zur Halle I gewertet werden müsse. Das FG hat nicht die Gesamtheit derjenigen Merkmale gewürdigt, die nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. zuletzt Urteile vom 9. August 1974 V R 11/74, BFHE 114, 569, BStBl II 1975, 342, und vom 19. Dezember 1974 V R 86/74, BFHE 115, 154, BStBl II 1975, 467) dafür maßgebend sind, welche Bauteile dem neu entstandenen, weil baulich verschachtelten und betrieblich verflochtenen Gebäudekomplex das Gepräge geben. Das FG durfte sich zudem nicht nur mit einem nominalen Abgleich der Baukosten begnügen, ohne den Gründen für die höheren Baukosten der Halle I nachzugehen. Bei einem Vergleich beider Hallen nach ihren Größenverhältnissen, von dem nach Auffassung des Senats in jedem Einzelfall auszugehen ist, ergibt sich, daß beide Hallen praktisch gleich groß sind. Diese Gleichgewichtigkeit beider Hallen der Größe nach, die zudem wegen der weitestgehend gleichartigen Bauausführung deutlich in Erscheinung tritt, schließt es aus, die Halle II als einen untergeordneten Anbau zur Halle I zu beurteilen. Bei dieser Sachlage ist der Grundsatz zu beachten, daß nicht erst bei größenmäßigem Überwiegen der Neubauteile, sondern schon bei größenmäßiger Gleichgewichtigkeit von Alt- und Neubauteilen ein neues Wirtschaftsgut entstehen kann, sofern nicht die Wertverhältnisse oder sonstige gewichtige Umstände zu einer abweichenden Beurteilung nötigen (vgl. BFH-Urteil vom 9. August 1974 V R 79/74, BFHE 113, 261, BStBl II 1974, 760). Dabei ist noch zu berücksichtigen, daß bei völliger Identität von Alt- und Neubauteilen (d. h. neben identischen Baumaßen auch identische Bauausführung) unterschiedliche Baukosten im Regelfall vernachlässigt werden können, da sie dann zwangsläufig auf Faktoren beruhen, die bei einem Wertvergleich zu einer Ermittlung bereinigter Zahlen führen müßten (z. B. Berücksichtigung des allgemeinen Preisverfalls sowie besonderer Preis- und Lohnkostenbewegungen; Einflüsse der jeweiligen Konjunkturlage auf die Preiskalkulation des Bauunternehmers). Bei Anwendung vorstehender Grundsätze erübrigt sich im vorliegenden Fall eine ins einzelne gehende Ermittlung der Wertverhältnisse. Denn aufgrund der vom FG festgestellten Identität der Hallenteile in Ausmaß und Bauausführung ist es gerechtfertigt, auch vom Vorliegen gleicher Werte auszugehen, zumal die bei Errichtung der Halle I vorgezogenen Bauaufwendungen auf den Gesamtkomplex umzuschichten sind (vgl. das BFH-Urteil vom 13. April 1972 V R 151/71, BFHE 105, 198, 202, BStBl II 1972, 654).

3. Unbeschadet des aus dieser Beurteilung folgenden Ergebnisses, daß durch den Neubau der Halle II ein einheitlicher neuer Hallenkomplex (unter Einbeziehung der Halle I) entstanden ist, beschränkt sich die Besteuerung nach dem Selbstverbrauch auf den Teil des vorbezeichneten neuen Wirtschaftsgutes, der nach dem 31. Dezember 1967 geschaffen wurde. Maßgeblich dafür ist der in § 30 Abs. 9 UStG 1967 enthaltene und dem Sinn und Zweck der Selbstverbrauchbesteuerung entsprechende Rechtsgedanke, eine Doppelbelastung von zum Unternehmen gehörenden Gegenständen mit kumulativer Allphasensteuer alten Rechts und mit Selbstverbrauchsteuer zu vermeiden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 72602

BStBl II 1978, 46

BFHE 1978, 165

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