Leitsatz (amtlich)

Ein Verlust der Erwerbsgrundlage im Sinne von § 10 a EStG liegt auch dann vor, wenn der Steuerpflichtige vor der Vertreibung zwangsweise dienstverpflichtet war, dieser Arbeitseinsatz aber nur seine bisherige Tätigkeit als Arbeitnehmer fortsetzt (Abgrenzung zu BFH-Urteil vom 20. Oktober 1961 VI 61/61, StRK, Einkommensteuergesetz, § 10 a, Rechtsspruch 68).

 

Normenkette

EStG § 10a

 

Tatbestand

Streitig ist bei den Einkommensteuerveranlagungen 1960 und 1961 des Klägers und Revisionsklägers (Kläger), ob die nichtentnommenen Gewinne wegen Verlustes der früheren Erwerbsgrundlage nach § 10 a EStG steuerbegünstigt sind.

Der Kläger - Inhaber des Flüchtlingsausweises A - war zunächst als Verkaufsleiter und Buchhalter tätig. Im Jahre 1938 trat er als Finanzanwärter in die Reichsfinanzverwaltung ein, im Jahre 1939 wurde er zur Wehrmacht einberufen. Während seiner Kriegsdienstzeit wurde er zum außerplanmäßigen Steuerinspektor ernannt. Ab 1946 war er als angestellter, später als beamteter Betriebsprüfer bei dem Beklagten und Revisionsbeklagten (FA) tätig. Seit 1960 ist er Steuerbevollmächtigter.

Die Ehefrau des Klägers - ebenfalls Inhaberin des Flüchtlingsausweises A - war von 1928 bis 1936 zunächst bei der Firma A, später bei der Firma E als Kontoristin angestellt. Nach Angaben des Klägers war sie danach wieder bei der Firma A beschäftigt. Während des Krieges war sie aufgrund einer Aufforderung des Arbeitsamts in einem Rüstungsbetrieb tätig. Nach Kriegsende bis zu ihrer Vertreibung am 25. November 1945 war sie aufgrund einer Dienstverpflichtung durch die tschechische Verwaltung bei ihrem früheren Arbeitgeber beschäftigt. Diese Tätigkeit war in der Zeit von Mai bis November 1945 ihre alleinige Existenzgrundlage.

Der Kläger beantragte für die Streitjahre den Abzug eines Teils des nichtentnommenen Gewinns vom Gesamtbetrag der Einkünfte (§ 10 a EStG). Das FA lehnte den Abzug u. a. mit dem Hinweis ab, daß die Ehegatten ihre Erwerbsgrundlage nicht verloren hätten.

Einspruch und Klage blieben erfolglos.

Mit der Revision beantragt der Kläger, die Vorentscheidung aufzuheben und seiner Klage stattzugeben. Er rügt die Verletzung materiellen Rechts (§ 10 a EStG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

1. Sowohl der Kläger als auch seine Ehefrau sind Inhaber des Flüchtlingsausweises A. Sie erfüllen damit - wenn nicht von der Verwaltungsbehörde die Betreuungsbeendigung festgestellt ist (vgl. dazu Urteil des BFH vom 5. Februar 1974 VIII R 73/69, BFHE 112, 41, BStBl II 1974, 380) - die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Rechten und Vergünstigungen aufgrund des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG). Wenn das FA der Ansicht war, diese Voraussetzung sei bei beiden Ehegatten nicht - oder nicht mehr - gegeben, so hätte es bei den zuständigen Behörden einen Antrag auf Betreuungsbeendigung stellen müssen (§ 13 Abs. 3 letzter Satz BVFG).

2. Ob der Kläger oder seine Ehefrau eine frühere Erwerbsgrundlage durch die Vertreibung verloren haben, kann der Senat anhand des vom FG festgestellten Sachverhalts nicht entscheiden.

Zutreffend ging das FG zwar davon aus, daß dieses Tatbestandsmerkmal auch bei Verlust einer unselbständigen Stellung erfüllt sein kann (vgl. z. B. BFH-Urteil vom 4. Juni 1969 VI R 229/68, BFHE 96, 273, BStBl II 1969, 615, mit weiteren Nachweisen) und daß d e r K l ä g e r sich auf diesen Verlust nicht berufen kann. Ursache für diesen Verlust war nicht die Vertreibung des Klägers, sondern das Erlöschen aller Beamtenverhältnisse am 8. Mai 1945 (BFH-Urteil vom 21. März 1969 VI R 234/68, BFHE 95, 495, BStBl II 1969, 484). Dieser - auch vom Bundesverfassungsgericht (Beschluß vom 6. August 1969 2 BvR 276/69, HFR 1969, 633) gebilligten - Rechtsprechung hat sich der erkennende Senat angeschlossen (vgl. Urteil vom 11. Dezember 1973 VIII R 119/69, BFHE 111, 148, BStBl II 1974, 166).

Unzutreffend ist jedoch - nach dem festgestellten Sachverhalt - die Ansicht des FG, die Tätigkeit d e r E h e f r a u habe im Zeitpunkt der Vertreibung keine Erwerbsgrundlage gebildet.

a) Der Begriff der Erwerbsgrundlage ist im Gesetz nicht näher definiert. Er ist jedoch weit auszulegen (vgl. Urteile des BFH VI R 229/68 und zuletzt vom 18. Dezember 1973 VIII R 72/69, BFHE 111, 261, BStBl II 1974, 167). Es reicht aus, daß der Steuerpflichtige zur Zeit seiner Vertreibung seinen Lebensunterhalt im wesentlichen aus seinem Vermögen oder seiner Tätigkeit bestritten hat. Werden die Ehegatten - wie im Streitfall - zusammen veranlagt, genügt es für die Anwendung des § 10 a EStG, wenn einer der Ehegatten diese Voraussetzungen erfüllt (§ 62 c Abs. 2 EStDV). Dabei ist davon auszugehen, daß in den Fällen, in denen die Ehegatten bereits vor ihrer Vertreibung verheiratet waren, die Ehefrau ihren Lebensunterhalt dann im wesentlichen selbst bestritten hat, wenn der von ihr geleistete Beitrag zum Familienunterhalt zur Begründung einer eigenen Existenzgrundlage ausgereicht hätte (so wohl auch BFH-Urteile vom 21. März 1969 VI R 311/67, BFHE 95, 530, BStBl II 1969, 500, und vom 30. Mai 1969 VI R 303/67, BFHE 96, 391, BStBl II 1969, 647). Diese Voraussetzung ist im Streitfall sowohl für die Zeit nach als auch für die Zeit vor Kriegsende erfüllt.

b) Die weite Auslegung des Begriffes der Erwerbsgrundlage hat auch zur Folge, daß die auf einer Dienstverpflichtung durch die tschechische Verwaltung beruhende Beschäftigung der Ehefrau nicht losgelöst von ihrer früheren Tätigkeit als Arbeitnehmerin betrachtet werden darf. Für eine solche Betrachtung könnte zwar - wie das FG ausführt - sprechen, daß Zwangsarbeitsverhältnisse dieser Art oft nur vorübergehender Natur waren, eine Erwerbsgrundlage aber nur dann vorliegt, wenn das Arbeitsverhältnis auf eine gewisse Dauer abgestellt ist (BFH-Urteile VI R 303/67 und VI R 229/68 mit weiteren Nachweisen). Mit dem Hinweis auf die - voraussichtliche oder tatsächliche - kurze Dauer des Zwangsarbeitsverhältnisses kann jedoch im Streitfall das Fehlen einer Erwerbsgrundlage nicht begründet werden. Der Begriff der Erwerbsgrundlage wird nicht allein von dem im Zeitpunkt der Vertreibung bestehenden Arbeitsverhältnis, sondern von der in diesem Zeitpunkt bestehenden sozialen und wirtschaftlichen Stellung des Vertriebenen geprägt. Das ergibt sich aus Sinn und Zweck der steuerlichen Begünstigung des entnommenen Gewinns, dem Steuerpflichtigen bei der Eingliederung in das wirtschaftliche und soziale Leben in einem nach seinen früheren wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen zumutbaren Maße zu helfen (vgl. § 13 Abs. 1 BVFG und Ehrenforth, Bundesvertriebenengesetz, Kommentar, 1959, § 13 Anm. 2 f., § 73 Anm. 1). Es kommt deshalb darauf an, ob der Vertriebene seinen Lebensunterhalt aus Arbeitslohn bestritt und dies seiner bisherigen - freiwilligen und mit der Absicht der Begründung einer eigenen wirtschaftlichen und sozialen Lebensgrundlage ausgeübten - Tätigkeit entsprach. Zutreffend sah deshalb auch das Urteil VI R 303/67 in der zwangsweisen Unterbrechung der Erwerbstätigkeit durch Einberufung zum Kriegsnotdienst und in der bloßen Möglichkeit eines späteren Arbeitsplatzwechsels keinen zureichenden Grund, um das Vorliegen einer Erwerbsgrundlage zu verneinen. Denn diese Einberufung hatte der Steuerpflichtige nicht zu vertreten; sie konnte deshalb auch nicht zu seinen Lasten zu einer Veränderung der wirtschaftlichen und sozialen Lebensgrundlage führen. Der in dieser Weise Betroffene bleibt eingliederungsbedürftig.

Diesem Ergebnis steht das vom FG zitierte Urteil des BFH vom 20. Oktober 1961 VI 61/61 (Steuerrechtsprechung in Karteiform, Einkommensteuergesetz, § 10 a, Rechtsspruch 68, und HFR 1962, 331) nicht entgegen. Auch in diesem Falle war zwar die Frage zu entscheiden, ob ein zwangsweiser Diensteinsatz durch die tschechische Verwaltung zur Begründung einer Erwerbsgrundlage führte. Der Sachverhalt ist jedoch mit dem Streitfall nicht vergleichbar. Es handelte sich dort um eine dienstverpflichtete Schülerin. Im Ergebnis zutreffend ging deshalb der BFH davon aus, daß eine - vorübergehende - Zwangsarbeit keine Erwerbsgrundlage darstellt. Durch sie wird der wirtschaftliche und soziale Status des Vertriebenen nicht geprägt.

c) Für die Entscheidung im Streitfall kommt es danach wesentlich darauf an, ob die Zwangsarbeit als Grundlage des Lebensunterhalts nur eine Modalität der bisherigen Tätigkeit als Arbeitnehmerin war. Das ist stets anzunehmen, wenn sie sich als kontinuierliche Fortsetzung der bisherigen Tätigkeit - lediglich unter einem anderen Arbeitgeber und mit anderer Rechtsgrundlage - darstellt. Anders wäre nur dann zu entscheiden, wenn bereits ihre Tätigkeit v o r Kriegsende den Schluß nahelegte, sie habe ihren Beruf nur vorübergehend ausgeübt. Dies festzustellen ist Aufgabe des FG (vgl. z. B. BFH-Urteil VI R 229/68). Mit diesen Grundsätzen stimmt die Vorentscheidung nicht überein. Sie ist deshalb aufzuheben.

3. Die Sache ist nicht spruchreif, weil das FG die nach den Ausführungen oben zu 2. erforderlichen Feststellungen nicht getroffen hat. Sie ist deshalb zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen. Das FG wird die erforderlichen Feststellungen nachzuholen haben. Dabei könnte dem Vortrag des Klägers in seiner Revisionsbegründung, seine Frau habe in der Zeit vom Herbst 1944 bis zum Kriegsende wieder bei der Firma A gearbeitet, besondere Bedeutung zukommen. Wenn dies zutrifft, braucht die weitere Frage, ob der kriegsbedingte Einsatz als Arbeiterin in einem Rüstungsbetrieb im Streitfall nur zu einem kurzfristigen Arbeitsverhältnis führte (so z. B. BFH-Urteil vom 7. Juli 1960 VI 58/59, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Einkommensteuergesetz, § 10 a, Rechtsspruch 57, das verschiedene kurzfristige Arbeitsverhältnisse einer Arbeitnehmerin im sogenannten Osteinsatz betraf), nicht mehr geprüft zu werden. Soweit der BFH über den dort zur Entscheidung stehenden Fall hinaus den kriegsbedingten Einsatz grundsätzlich als kurzfristig und damit als zur Begründung einer Erwerbsgrundlage ungeeignet angesehen haben sollte, könnte dem der erkennende Senat nicht folgen. Wenn diese Beschäftigung nur Folge eines Arbeitsplatzwechsels im Rahmen einer auf Dauer angelegten beruflichen Tätigkeit ist, prägt sie das Gesamtbild der sozialen Lebensstellung unabhängig von ihrer tatsächlichen Dauer wesentlich mit. Das FG wird deshalb gegebenenfalls auch prüfen müssen, ob die Ehefrau des Klägers im Zeitpunkt der Aufnahme ihrer kriegsbedingten Tätigkeit ihren früheren Beruf als Lebensgrundlage bereits aufgegeben hatte und ihre Beschäftigung in dem Rüstungsbetrieb nur eine vorübergehende sein sollte.

 

Fundstellen

Haufe-Index 71445

BStBl II 1975, 632

BFHE 1975, 455

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