Entscheidungsstichwort (Thema)

Bindung an das Klagebegehren

 

Leitsatz (NV)

Der Grundsatz der Bindung an das Klagebegehren gehört zur Grundordnung des Verfahrens. Das Gericht darf dem Kläger nicht etwas zusprechen, was dieser nicht beantragt hat ("ne ultra petita"), und auch nicht über etwas anderes ("aliud") entscheiden, als der Kläger durch seinen Antrag begehrt und zur Entscheidung gestellt hat. Verstöße hiergegen hat das Revisionsgericht auch ohne ausdrückliche Rüge zu beachten.

 

Normenkette

FGO § 96 Abs. 1 S. 2

 

Tatbestand

Das beklagte und revisionsbeklagte Finanzamt (FA) betrieb gegen den Kläger und Revisionskläger (Kläger) die Zwangsvollstrekung wegen eines festgesetzten Zwangs geldes in Höhe von ... DM. Nachdem der beauftragte Vollziehungsbeamte den Kläger zweimal nicht in seiner Wohnung angetroffen hatte, wies der Vollziehungsbeamte in seiner dritten Besuchsankündigung zum 3. Mai 1988 darauf hin, daß er bei erneutem Scheitern des Vollstreckungsversuchs einen richterlichen Durchsuchungsbeschluß beantragen werde. An dem genannten Tag verweigerte der Kläger dem Vollziehungsbeamten den Zutritt zu seiner Wohnung, weil dieser keinen richterlichen Durchsuchungsbeschluß vorweisen konnte.

Daraufhin erwirkte das FA am 17. Mai 1988 einen richterlichen Durchsuchungsbeschluß und kündigte dem Kläger unter Hinweis auf diesen Beschluß die Durchsuchung der Wohnräume zum 15. Juli 1988 an. Dieses Schreiben wurde dem Kläger am 29. Juni 1988 durch Niederlegung bei der Post zugestellt. Der Kläger befand sich zu dieser Zeit seit Mitte Juni 1988 in Urlaub. Mit eingeschriebenem Brief aus dem Ausland vom 6. Juli 1988, eingegangen beim FA am 12. Juli 1988, teilte der Kläger mit, er werde ab 18. Juli 1988 wieder an seinem Wohnort sein. Am 15. Juli 1988 fand der Durchsuchungstermin statt. Da der Kläger nicht angetroffen wurde, ließ der Vollziehungsbeamte durch einen Schlosser die Wohnungstür des Klägers gewaltsam öffnen.

Nach seiner Rückkehr aus dem Ausland beantragte der Kläger mit Schriftsatz vom 19. Juli 1988 beim Finanzgericht (FG), "im Wege der Fortsetzungsfeststellungsklage festzustellen", daß "die Art und Weise der Ausführung eines Durchsuchungsbeschlusses durch das FA ... am 15. Juli 1988 in meiner Wohnung während meiner Abwesenheit" rechtswidrig gewesen sei und daß das FA die Kosten zur Beseitigung des dadurch entstandenen Schadens zu tragen habe. Später nahm er -- nun anwaltlich vertreten -- den Teilantrag auf Tragung der durch die Türöffnung entstandenen Kosten ausdrücklich zurück. Zur Begründung seines Antrags führte er an, er beabsichtige, eine Schadensersatzklage vor dem Zivilgericht anzustrengen; außerdem habe er ein Rehabilitierungsinteresse. Die Durchsuchung in rechtswidriger Weise stelle einen Verstoß gegen Art. 13 des Grundgesetzes (GG) dar. Auch gebe das ständige Bestreiten der Rechtswidrigkeit durch das FA ihm einen Anspruch auf gerichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit des Vorgehens durch das FA.

Das FG wies die -- einverständlich ohne mündliche Verhandlung entschiedene -- Klage als unzulässig ab, weil der Kläger kein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung habe. Der Kläger wende sich (ausschließlich) gegen das gewaltsame Öffnen seiner Wohnungstür. Für einen späteren Schadensersatzprozeß sei die Feststellung der Rechtswidrigkeit nicht notwendig, da die Art und Weise der Zwangsvollstreckung eine vom Zivilgericht zu prüfende Vorfrage sei. Damit sei der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG auf einfachere Weise genügt, als wenn die Türöffnung durch mehrere Gerichte auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft würde. Ein Rehabilitierungsinteresse fehle dem Kläger, weil er "entgegen seinen Ausführungen im Schriftsatz vom 26. März 1991" nicht die Rechtswidrigkeit der gerichtlich angeordneten Wohnungsdurchsuchung, sondern (nur) die Rechtswidrigkeit der Türöffnung geltend mache. Sein Interesse sei daher nicht auf Rehabilitierung wegen einer grundrechtswidrigen Verletzung seines Rechts auf Unversehrtheit der Wohnung, sondern nur darauf gerichtet, die Kosten für die Reparatur der Wohnungstür ersetzt zu bekommen. Dafür bedürfe es des finanzgerichtlichen Verfahrens nicht. Auch unter dem Gesichtspunkt einer Wiederholungsgefahr bestehe kein Rechtsschutzinteresse, weil dem Kläger amtlich mitgeteilt worden sei, daß er keinen weiteren Vollstreckungsmaßnahmen wegen des Zwangsgeldes mehr ausgesetzt sei.

Mit der Revision rügt der Kläger zunächst die Verletzung materiellen Rechts. Das FG habe, indem es das Klagebegehren ohne auch nur den Ansatz einer Begründung entgegen seinem (des Klägers) ausdrücklichen Vortrag gewertet habe, gegen die Gesetze der Denklogik verstoßen. Außerdem liege ein Verfahrensmangel vor, da das FG infolge der unrichtigen Wertung des Klagebegehrens sein (des Klägers) Recht auf Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt habe. Hätte das FG den ausdrücklichen Vortrag des Klägers zum Rehabilitierungsinteresse im Schriftsatz vom 26. März 1991 zur Kenntnis genommen, hätte es die Klage für zulässig und auch für begründet erachten müssen.

Der Kläger beantragt, das Urteil der Vorinstanz aufzuheben und festzustellen, daß die Art und Weise der Wohnungsdurchsuchung rechtswidrig war, hilfsweise die Sache zu erneuter Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Es führt aus, das vorinstanzliche Urteil verletze nicht das Recht auf Gehör des Klägers, weil das FG den Schriftsatz des Klägers in seine Beurteilung einbezogen habe. Es möge zwar fehlerhaft sein, ein Feststellungsinteresse dadurch zu verneinen, daß bisher der Kläger nur auf ein anderes reflektiert habe; darin liege jedoch kein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --). Das FG hat gegen die Grundordnung des Verfahrens verstoßen, weil es seinem Urteil ein Klagebegehren zugrunde gelegt hat, das mit dem tatsächlichen Begehren des Klägers nicht übereinstimmt (§ 96 Abs. 1 Satz 2 FGO).

Zur Grundordnung des Verfahrens, deren Einhaltung das Revisionsgericht auch ohne ausdrückliche Rüge zu beachten hat, weil dadurch die Ordnungsmäßigkeit des ganzen weiteren Verfahrens betroffen ist (vgl. zu diesem Gesichtspunkt das Urteil des Bundesgerichtshofs -- BGH -- vom 12. Juni 1975 III ZR 34/73, Neue Juristische Wochenschrift -- NJW -- 1975, 1968), gehört auch der Grundsatz der Bindung an das Klagebegehren, der für das finanzgerichtliche Verfahren in § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO zum Ausdruck kommt (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 29. Juni 1988 X R 27/87, BFH/NV 1989, 233, und zuletzt Urteil vom 18. Juni 1993 VI R 67/90, BFHE 171, 515, BStBl II 1994, 182; s. auch Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl. 1993, § 118 Rz. 50 m. w. N.). Nach diesem Grundsatz darf das Gericht in Anerkennung der privatautonomen Verfügungsfreiheit des Klägers über den Streitgegenstand nicht über das Klagebegehren, das regelmäßig im Klageantrag seinen formgerechten Ausdruck findet, hinausgehen ("ne ultra petita"). Es darf dabei dem Kläger nicht etwas zusprechen, das dieser nicht beantragt hat, und darüber hinaus auch nicht über etwas anderes ("aliud") entscheiden, als der Kläger durch seinen Antrag (einschließlich seiner eigenen Interpretation dieses Antrags) begehrt und zur Entscheidung gestellt hat (vgl. BFH-Beschluß vom 5. März 1979 GrS 4/78, BFHE 127, 147, BStBl II 1979, 375 -- zu Ziff. 5 a) aa der Gründe --; BFH-Urteil vom 27. September 1973 IV R 212/70, BFHE 110, 453, BStBl II 1974, 121, 123; s. auch die Senatsurteile vom 18. Februar 1986 VII R 98/85, BFHE 146, 279, BStBl II 1986, 571, und vom 6. November 1990 VII R 113/88, BFH/NV 1991, 650, 652 a. E.).

Der Kläger muß sein Klagebegehren so deutlich zum Ausdruck gebracht haben, daß das Ziel seiner Klage ausreichend erkennbar wird. Ist dies geschehen, so hat das Gericht das Klagebegehren anhand der vom Kläger gegebenen Begründung der Klage auszulegen und im Zweifel den Kläger zur Klarstellung aufzufordern (§ 76 Abs. 2 FGO). Ist der Antrag indessen schon dem Wortlaut nach eindeutig gestellt und wird dieser Wortlaut durch die Ausführungen des Klägers im übrigen gestützt, so ist für eine Auslegung des Klageantrags durch das Gericht kein Raum mehr. Geschieht dies dennoch und entscheidet das Gericht über den von ihm entgegen dem Wortlaut ausgelegten Antrag, entscheidet es über ein "aliud" und verstößt damit gegen die Grundordnung des Verfahrens.

So liegt es im Streitfall. Die Auffassung des FG, der Kläger begehre ausschließlich die Feststellung der Rechtswidrigkeit der gewaltsamen Türöffnung mit der vom FG daraus abgeleiteten Folge, daß das Feststellungsinteresse nur im Hinblick auf vermögensrechtliche Folgerungen, nicht aber auch unter dem Gesichtspunkt der Rehabilitierung wegen eines möglichen rechtswidrigen Eingriffs in die Unverletzlichkeit der Wohnung zu untersuchen sei, steht in Widerspruch zu dem eindeutigen Begehren des Klägers.

Der nach Rücknahme des Teilantrags bezüglich der Kostenerstattung für den durch die gewaltsame Türöffnung entstandenen Schaden allein noch maßgebliche, vom Kläger persönlich formulierte erste Teilantrag der Klage ist auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Art und Weise der Ausführung des gerichtlichen Durchsuchungsbeschlusses durch das FA "in meiner Wohnung während meiner Abwesenheit" gerichtet. Schon dadurch wird deutlich, daß der Kläger sein Wohnungsrecht durch das Betreten seiner Wohnung gerade in seiner Abwesenheit verletzt sieht und nicht etwa vordergründig lediglich die gewaltsame Türöffnung beanstandet. Für eine Deutung dieses Klageantrags im letztgenannten Sinne gibt weder der Wortlaut noch die vom Kläger im Anschluß an den Antrag gegebene Begründung etwas her. Im Gegenteil: Der Kläger brachte nämlich vor, er halte die gewaltsame Durchsuchung gerade deshalb für unverhältnismäßig und daher rechtswidrig, weil sie in seiner der Behörde mitgeteilten und daher dort bekannten Nichtanwesenheit womöglich absichtlich noch kurz vor seiner Rückkehr aus dem Urlaub erfolgt sei. Schließlich hat der später bestellte Prozeßbevollmächtigte des Klägers auf den gerichtlichen Hinweis, es beständen Zweifel am Rechtsschutzinteresse des Klägers, das Feststellungsinteresse zusätzlich ausdrücklich auf das Rehabilitierungsinteresse des Klägers gestützt.

Bei dieser Sachlage bestand für das FG kein Anlaß, das Klagebegehren auf einen derart engen, vom Kläger nicht gewollten Inhalt zu reduzieren. Indem das FG nur dazu entschieden hat, hat es zu einem "aliud" entschieden und damit gegen die Grundordnung des Verfahrens verstoßen, was der Senat, wie ausgeführt, auch ohne ausdrückliche Revisionsrüge des Klägers zu prüfen und festzustellen hatte. Es kann daher dahinstehen, ob die vom Kläger mit dem gleichen Ziel vorgebrachten Revisionsrügen, die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs sowie die Sachrüge (Verstoß gegen die Denkgesetze), zu einem entsprechenden Ergebnis geführt hätten.

Der Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils. Die Sache ist nicht spruchreif und daher an das FG zurückzuverweisen. Das FG wird bei seiner erneuten Verhandlung und Entscheidung unter Zugrundelegung des tatsächlichen Klagebegehrens des Klägers zu prüfen haben, ob der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Art und Weise der Durchsuchung seiner Wohnung hat. Dabei wird es die herrschende Rechtsprechung zu berücksichtigen (vgl. Schwarz in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 287 AO 1977 Rz. 29) und ggf. sodann unter Beachtung der Bedeutung des tangierten Grundrechts, insbesondere unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, dem jegliche Ausübung staatlichen Zwangs unterworfen ist, zur Sache zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 420443

BFH/NV 1995, 697

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