Entscheidungsstichwort (Thema)

Abgrenzung zwischen offenbarer Unrichtigkeit und unvollständiger Sachverhaltsaufklärung

 

Leitsatz (NV)

1. Nicht jede versehentlich nicht berücksichtigte Tatsache ist einer unvollständigen Sachverhaltsaufklärung gleichzusetzen, die eine Berichtigung eines Verwaltungsakts nach §129 AO ausschließt.

2. Ist ohne weiteres erkennbar, daß ein Teil des bekannten Sachverhalts aus Unachtsamkeit bei der Steuerfestsetzung nicht erfaßt worden ist, darf diese offenbare Unrichtigkeit zugunsten und zuungunsten des Steuerpflichtigen durch Berichtigung der versehentlich fehlerhaften Steuerfestsetzung korrigiert werden.

 

Normenkette

AO 1977 § 129

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit der Änderung der bestandskräftig gewordenen Umsatzsteuerfestsetzung für 1986. In dem angefochtenen Steueränderungsbescheid für 1986 ist die Umsatzsteuer um die Steuer auf eine erhaltene Anzahlung von 213 157 DM erhöht worden.

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), eine KG, ist mit der B-GmbH organschaftlich verbunden. Sie gab am 14. März 1988 für 1986 die Umsatzsteuererklärung bei dem für sie zuständigen Finanzamt S, dem Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt -- FA --), ab, während die B-GmbH ihre Steuererklärung bei dem Finanzamt A (FA A) einreichte. Telefonische und schriftliche Aufforderungen des FA, eine Umsatzsteuererklärung mit den Besteuerungsgrundlagen aus der Umsatztätigkeit der Organgesellschaft abzugeben, beachtete die Klägerin nicht. Darauf erfragte der zuständige Mitarbeiter des FA die für die B-GmbH erklärten Besteuerungsgrundlagen telefonisch bei dem FA A, ergänzte die ihm genannten Beträge bei den der Klägerin erklärten Besteuerungsgrundlagen und setzte nunmehr die Umsatzsteuer für 1986 gegen die Klägerin durch Bescheid vom 6. September 1988 fest. Dabei wurde von dem Amtsträger im FA nicht berücksichtigt, daß die B-GmbH in der beim FA A abgegebenen Steuererklärung im Abschnitt D "Berechnung der zu entrichtenden Umsatzsteuer" einen Betrag von 29 841,98 DM mit dem Zusatz "Umsatzsteuer auf Anz." erklärt und der Sachbearbeiter beim FA A das angezahlte Entgelt (mit 213 157 DM) zwischen Spalte 11 und 12 des Erklärungsvordrucks handschriftlich nachgetragen hatte. Ungeklärt ist, ob die Anzahlung von 213 157 DM und der dafür entstandene Steuerbetrag (von 29 841 DM) bei der telefonischen Übermittlung der erklärten Werte durch das FA A nicht genannt worden waren oder ob der zuständige Amtsträger des FA den Betrag überhört und deshalb nicht aufgezeichnet hatte. Nach einem in den Steuerakten enthaltenen Vermerk über die telefonisch erfragten Besteuerungsgrundlagen der B-GmbH fehlt der Hinweis auf die Anzahlung. Dadurch setzte das FA die Jahressteuer für 1986 ohne die Umsatzsteuer (von 29 841 DM) auf die von der GmbH erhaltene Anzahlung (von 213 157 DM) fest.

In der Umsatzsteuererklärung für 1987 kürzte die Klägerin die angemeldete Umsatzsteuerschuld um den auf die Anzahlung von 213 157 DM aus 1986 entfallenden Steuerbetrag von 29 841,98 DM. Das FA setzte die Umsatzsteuer gegen die Klägerin für 1987 zunächst ohne die Verminderung um die Umsatzsteuer für die Anzahlung fest. Erst im Einspruchsverfahren gegen die Umsatzsteuerfestsetzung für 1987 half es ab und setzte die Umsatzsteuer erklärungsgemäß fest.

Nunmehr änderte das FA den Umsatzsteuerbescheid 1986 für die Klägerin durch den Umsatzsteueränderungsbescheid vom 21. August 1989 nach §173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) und erhöhte die bisherige Steuerfestsetzung um die Umsatzsteuer aus der erwähnten Anzahlung.

Das Finanzgericht (FG) gab der nach erfolglos durchgeführtem Einspruchsverfahren erhobenen Klage statt und hob den Umsatzsteueränderungsbescheid für 1986 vom 21. August 1989 auf. Auf die Gründe des in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1991, 583 veröffentlichten Urteils wird Bezug genommen.

Mit der Revision rügt das FA Verletzung formellen und sachlichen Rechts. Es führt aus, das FG habe §76 der Finanzgerichtsordnung (FGO) verletzt, weil es die für die B-GmbH geführten Akten des FA A nicht beigezogen habe; denn dann wäre es nicht zu dem Ergebnis gelangt, daß sich aus der Zusammenfassung der Umsatz- und Vorsteuerbeträge das richtige steuerliche Ergebnis einfach hätte ermitteln lassen. Die unterlassene Aktenbeiziehung habe das FG ihm, dem FA, als erhebliches Mitverschulden angelastet, obwohl es die Akten selbst nicht ausgewertet habe.

Sachlich seien die Voraussetzungen für eine Berichtigung nach §129 AO 1977 erfüllt, weil der Amtsträger im FA A, der die Besteuerungsgrundlagen telefonisch übermittelt habe, die an falscher Stelle im Steuererklärungsformular eingetragene Anzahlung übersehen habe.

Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin ist der Revision entgegengetreten.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung. Das FG hat §129 Satz 1 AO 1977 unzutreffend angewendet. Die vorhandenen Feststellungen des FG reichen nicht aus, um abschließend zu entscheiden, weil aufgrund der vorhandenen Feststellungen nicht zu beurteilen ist, ob das FA berechtigt war, den angefochtenen Umsatzsteueränderungsbescheid für 1986 gegen die Klägerin nach §129 Satz 1 AO 1977 zu erlassen.

1. Die Vorentscheidung kann keinen Bestand haben, weil das FG eine Änderung des angefochtenen Steuerbescheids nach §129 Satz 1 AO 1977 wegen fehlerhafter Sachverhaltsermittlung ausgeschlossen hat. Der eine Berichtigung der Steuerfestsetzung ausschließende Fehler des Amtsträgers sei, so hat das FG dazu ausgeführt, im Bereich der Sachverhaltsaufklärung aufgetreten und deshalb kein offenkundiges Versehen. Eine vom FA beantragte Beweiserhebung über das Telefongespräch zwischen den Amtsträgern im FA A und im FA, in dem die in der Steuererklärung für die GmbH erklärten Besteuerungsgrundlagen mündlich mitgeteilt worden waren, sei deshalb entbehrlich.

Nach §129 Satz 1 AO 1977 kann die Finanzbehörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlaß eines Verwaltungsakts unterlaufen sind, jederzeit berichtigen. Ähnliche offenbare Unrichtigkeiten im Sinne dieser Vorschrift müssen Schreib- oder Rechenfehlern ähnlich und ebenso wie mechanische Fehler ohne weitere Prüfung erkennbar sein, um die Berichtigung eines Verwaltungsakts zu rechtfertigen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 15. März 1994 XI R 78/92, BFH/NV 1995, 937). Dies braucht sich jedoch nicht aus dem Bescheid selbst zu ergeben (ständige Rechtsprechung des BFH, z. B. Urteil vom 17. Februar 1993 X R 47/91, BFH/NV 1993, 638, m. w. N.).

Ein mechanisches Versehen liegt nicht vor, wenn die Möglichkeit eines Rechtsirrtums, Denkfehlers oder einer unvollständigen Sachverhaltsaufklärung besteht (ständige Rechtsprechung des BFH, z. B. Urteil vom 14. Juni 1991 III R 64/89, BFHE 165, 438, BStBl II 1992, 52). Nicht jede versehentlich nicht berücksichtigte Tatsache ist indes mit einer unvollständigen Sachverhaltsermittlung gleichzusetzen, die eine Berichtigung des Versehens nach §129 Satz 1 AO 1977 ausschließt. Eine der Berichtigung entgegenstehende unvollständige Sachverhaltsermittlung ist erst anzunehmen, wenn für die Besteuerung wesentliche Tatsachen nicht durch ein mechanisches Versehen unberücksichtigt geblieben sind. Ermittlungsfehler gehen über mechanische Versehen bei der Heranziehung des Sachverhalts zur Steuerfestsetzung hinaus, weil ein Teil des rechtserheblichen Sachverhalts wegen fehlerhaft unterlassener oder unrichtiger Tatsachenaufklärung noch nicht bekannt ist. Ist dagegen ohne weitere Prüfung erkennbar, daß ein Teil des bekannten Sachverhalts aus Unachtsamkeit bei der Steuerfestsetzung nicht erfaßt worden ist, darf diese offenbare Unrichtigkeit zugunsten und zuungunsten des Steuerpflichtigen durch Berichtigung der versehentlich fehlerhaften Steuerfestsetzung korrigiert werden (vgl. dazu BFH- Urteile vom 26. April 1989 VI R 39/85, BFH/NV 1989, 619; vom 3. April 1987 VI R 218/83, BFH/NV 1987, 553; vom 29. März 1985 VI R 140/81, BFHE 144, 118, BStBl II 1985, 569).

Diesen Grundsätzen widerspricht die Vorentscheidung. Das FG nimmt eine unvollständige Sachverhaltsermittlung des FA an, weil dieses die Akten mit den rechtserheblichen Erklärungen nicht angefordert, sondern sich den Inhalt der Erklärungen telefonisch habe übermitteln lassen. Es hat nicht aufgeklärt, ob die wirkliche Ursache für die fehlerhafte Steuerfestsetzung ein Übermittlungsfehler (Übersehen oder Verhören bei der telefonischen Mitteilung der Besteuerungsgrundlagen) war.

2. Der Senat kann aufgrund des vom FG festgestellten Sachverhalts auch nicht abschließend entscheiden, ob die Änderung des angefochtenen Steuerbescheids nach §173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 zulässig war. Nicht zweifelsfrei erscheint dem Senat, ob einer Finanzbehörde ein Ermittlungsfehler vorwerfbar ist, wenn sie die Besteuerungsgrundlagen telefonisch bei einem anderen Finanzamt erfragt, weil der Steuerpflichtige der wiederholten Aufforderung, sie zusammenfassend auf einem Erklärungsvordruck bei dem zuständigen Finanzamt anzugeben, nicht nachkommt.

Der Senat ist nach §118 Abs. 2 FGO gehindert, auf die von dem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin in der mündlichen Verhandlung hierzu vorgetragenen -- vom FG in seinem Urteil nicht festgestellten -- Tatsachen einzugehen.

3. Die Vorentscheidung ist deswegen aufzuheben. Das FG muß aufklären, ob eine versehentlich fehlerhafte Übermittlung der bekannten Besteuerungsgrundlagen zu der unrichtigen Steuerfestsetzung geführt hat.

 

Fundstellen

Haufe-Index 66498

BFH/NV 1998, 419

HFR 1998, 343

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