Entscheidungsstichwort (Thema)

Prozeßzinsen nach Klagerücknahme - Erledigung des Rechtsstreits i.S. von § 236 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 - Treu und Glauben im Steuerrecht

 

Leitsatz (amtlich)

Erledigt sich ein Rechtsstreit nach Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Bescheids durch Klagerücknahme, so besteht ein Anspruch auf Prozeßzinsen gemäß § 236 Abs. 1 AO 1977.

 

Orientierungssatz

1. "Erledigung des Rechtsstreits" i.S. des § 236 AO 1977 bedeutet Beendigung der Rechtshängigkeit. Diese endet mit der rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung, der Erledigung der Hauptsache oder der Rücknahme der Klage. Ausführungen zum Sinn und Zweck der Prozeßzinsenkostenregelung und zur rechtshistorischen Betrachtung des § 236 AO 1977 bzw. dessen Vorgängerregelungen.

2. Eine Rechtsausübung ist nach dem auch im Steuerrecht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben u.a. unzulässig, wenn durch das Verhalten des Berechtigten ein Vertrauenstatbestand entstanden ist und der andere Teil im Hinblick darauf bestimmte Dispositionen getroffen hat (Grundsatz des venire contra factum proprium). Dieser Grundsatz gilt auch zugunsten des FA. Wie das Verhalten der Beteiligten zu verstehen ist, beurteilt sich nach objektiver Betrachtung und nicht nach den subjektiven Erwartungen der Beteiligten.

 

Normenkette

AO 1977 § 236 Abs. 1, 2 Nr. 1

 

Verfahrensgang

FG Bremen (Entscheidung vom 16.03.1993; Aktenzeichen 292 103 K 2)

 

Tatbestand

I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist Rechtsnachfolgerin der B GmbH (B). B hatte gegen den Körperschaftsteuerbescheid 1979 am 18. Dezember 1985 Klage erhoben. Im Rahmen einer Betriebsprüfung einigten sich die Finanzverwaltung und die Steuerpflichtige darauf, daß die Finanzverwaltung einen Körperschaftsteueränderungsbescheid für 1979 erläßt und die Steuerpflichtige anschließend die Klage zurücknimmt. Der Erlaß des Körperschaftsteueränderungsbescheids 1979 führte zu einer Körperschaftsteuererstattung in Höhe von .... DM, die am 18. April 1991 mit Steuerschulden der Klägerin verrechnet wurden. Die Klage wurde zurückgenommen.

Den mit der Klagerücknahme gestellten Antrag auf Zahlung von Prozeßzinsen in Höhe von .... DM lehnte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) mit der Begründung ab, daß der Verlust aller Nebenansprüche Geschäftsgrundlage der tatsächlichen Verständigung bei der Betriebsprüfung gewesen sei. Die Geltendmachung von Prozeßzinsen sei treuwidrig. Im übrigen sei die Erstattung von Prozeßzinsen für den Fall der Klagerücknahme im Gesetz nicht vorgesehen.

Die Klage hatte keinen Erfolg (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1993, 632).

Mit der Revision rügt die Klägerin unzutreffende Auslegung des § 236 der Abgabenordnung (AO 1977) und beantragt, das Urteil des Finanzgerichts (FG) sowie den Ablehnungsbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung aufzuheben, die Prozeßzinsen für die erstattete Körperschaftsteuer 1979 in Höhe von .... DM für die Zeit vom 18. Dezember 1985 bis zum 18. April 1991 auf .... DM festzusetzen und die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist begründet. Die Sache ist an das FG gemäß § 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuverweisen.

1. Wird durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung oder aufgrund einer solchen Entscheidung eine festgesetzte Steuer herabgesetzt oder eine Steuervergütung gewährt, so ist der zu erstattende oder zu vergütende Betrag grundsätzlich vom Tag der Rechtshängigkeit an bis zum Auszahlungstag zu verzinsen (§ 236 Abs. 1 Satz 1 AO 1977). Dies gilt nach § 236 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 entsprechend, wenn sich der Rechtsstreit durch Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Verwaltungsakts oder durch Erlaß des beantragten Verwaltungsakts erledigt. Da im Streitfall die Klage gegen den Körperschaftsteuerbescheid 1979 nach Ergehen des Körperschaftsteueränderungsbescheids zurückgenommen wurde, hat sich der Rechtsstreit i.S. des § 236 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 erledigt. "Erledigung des Rechtsstreits" bedeutet Beendigung der Rechtshängigkeit (§ 66 FGO). Diese endet mit der rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung, der Erledigung der Hauptsache oder der Rücknahme der Klage (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 14. Juli 1993 I R 33/93, BFH/NV 1994, 438, m.w.N.). Da die Änderung des angefochtenen Körperschaftsteuerbescheids 1979 zu einer Erstattung führte, sind die Voraussetzungen des § 236 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 erfüllt.

2. Ohne rechtliche Auswirkung auf diesen Prozeßzinsenanspruch ist, daß gemäß § 155 FGO i.V.m. § 269 Abs. 3 Satz 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) nach Rücknahme der Klage der Rechtsstreit als nicht anhängig geworden anzusehen ist.

a) Der Prozeßzinsenanspruch setzt zwar Rechtshängigkeit voraus (vgl. BFH-Urteil vom 16. Dezember 1987 I R 350/83, BFHE 152, 401, BStBl II 1988, 600). Mit der Klagerücknahme entfallen zunächst aber uneingeschränkt nur die verfahrensrechtlichen Wirkungen der Rechtshängigkeit. § 236 AO 1977 ist jedoch eine materiell-rechtliche Folge der Rechtshängigkeit (vgl. Tipke/ Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 236 AO 1977 Tz.1). Ob und ggf. in welchem Umfang die materiell-rechtlichen Wirkungen der Rechtshängigkeit rückwirkend entfallen, ist eine Frage, die sich nach dem einschlägigen materiellen Recht beurteilt (vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, 52. Aufl., § 269 Rdnr.32; Haarmann/ Ziemer/Lohse/Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Tz.8756; Thomas/Putzo, Zivilprozeßordnung, 18. Aufl., § 269 Rdnr.11). Fehlt es an einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung hierzu (vgl. z.B. §§ 212, 941 Satz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches --BGB--), so sollen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) im Zweifel auch im materiellen Recht die Wirkungen der Rechtshängigkeit rückwirkend entfallen (vgl. BGH-Beschluß vom 14. Mai 1986 IV b ZB 14/85, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1986, 2318 m.w.N.; ebenso Rosenberg/ Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Aufl., § 130 Abschn. III Nr. 1; wohl auch Wieczorek, Zivilprozeßordnung, 2. Aufl., § 271 Rdnr.B III b 2). Der Wegfall der prozessualen Folgen beseitigt aber nicht per se die materiell-rechtlichen Folgen der Rechtshängigkeit (anderer Ansicht List in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 72 FGO Rdnr.30; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 72 Rdnr.30). Die Auffassung des erkennenden Senats weicht nicht i.S. des § 11 Abs. 2 FGO von der in einem Beschluß des VIII.Senats (vom 20. Juni 1988 VIII B 26/88, nicht veröffentlicht --NV--) geäußerten gegenteiligen Auffassung ab, da die Entscheidung des VIII.Senats nicht den Wegfall der materiell-rechtlichen Rechtsfolgen der Rechtshängigkeit, sondern den Wegfall des Rechtsschutzinteresses für ein Richterablehnungsgesuch nach Klagerücknahme betraf.

b) Sinn und Zweck der Prozeßzinsenregelung und eine rechtshistorische Betrachtung des § 236 AO 1977 bzw. dessen Vorgängerregelungen sprechen dafür, daß ein Prozeßzinsenanspruch auch nach Klagerücknahme besteht.

Der Normzweck des § 236 AO 1977 liegt darin, dem Gläubiger eines Erstattungsanspruchs für die Vorenthaltung des Kapitals und der damit verbundenen Nutzungsmöglichkeiten zumindest für die Zeit ab Rechtshängigkeit eine Entschädigung zu gewähren (vgl. Walchshöfer in Münchener Kommentar, Bürgerliches Gesetzbuch, 2. Aufl., § 291 Rdnr.1). An der Tatsache, daß dem Steuerpflichtigen jegliche Möglichkeit zur Nutzung des Erstattungsbetrages entzogen wurde, ändern die prozeßrechtlichen Wirkungen einer Klagerücknahme gemäß § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO nichts. Unter Berücksichtigung des Gesetzeszwecks und des tatsächlichen Entzugs der Kapitalnutzung ist daher für den Anspruch auf Prozeßzinsen die verfahrensrechtliche Art der Prozeßbeendigung (Hauptsacheerledigung oder Klagerücknahme) irrelevant.

Aus rechtshistorischer Sicht spielt die Frage, auf welche Weise die Rechtshängigkeit beendet wird, ebenfalls keine Rolle. Eine Regelung über Prozeßzinsen im eigentlichen Sinn wurde für das Steuerrechtsverhältnis erstmals mit Steueränderungsgesetz 1961 (vom 13. Juli 1961, BGBl I 1961, 981) in § 155 der Reichsabgabenordnung (AO) getroffen. Danach war vom Tag der Rechtshängigkeit an eine festgesetzte Steuerschuld zu verzinsen, wenn diese durch rechtskräftige gerichtliche Entscheidung oder aufgrund einer solchen oder durch rechtskräftigen Berichtigungsbescheid herabgesetzt wurde. Eine entsprechende Regelung enthielt § 111 FGO a.F., der § 155 AO ablöste. Weder § 155 AO noch § 111 FGO a.F. enthielten einen Hinweis darauf, daß sich der Rechtsstreit erledigt haben müsse. Wie das anhängige Verfahren zu Ende gebracht wurde, war daher unmaßgeblich. Die Formulierung "wenn sich der Rechtsstreit durch Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Verwaltungsakts ... erledigt" findet sich erstmals in § 4b des Steuersäumnisgesetzes (StSäumG), der Nachfolgevorschrift zu § 111 FGO a.F. Diese sollte aber im Vergleich zu § 111 FGO a.F. zu keiner sachlichen Änderung führen (vgl. Gesetzesbegründung, BTDrucks 7/2852 S.48). Wenn aber die prozessuale Art und Weise, in der sich der Rechtsstreit erledigte, für § 4b StSäumG gleichermaßen unmaßgeblich sein sollte wie für § 111 FGO a.F., so gilt dies auch für den insoweit wortgleichen § 236 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977.

c) Gegenteiliges läßt sich auch nicht aus § 236 Abs. 3 AO 1977 entnehmen, der eine schon in § 155 AO enthaltene Einschränkung fortführt. Danach entfällt eine Verzinsung, soweit dem Kläger die Kosten des Rechtsbehelfs nach § 137 Satz 1 FGO auferlegt worden sind. Da die Kosten für den Fall der Klagerücknahme zwingend der Kläger zu tragen hat (§ 136 Abs. 2 FGO), ist für eine Auferlegung der Kosten nach Maßgabe des § 137 Satz 1 FGO durch das Gericht kein Raum. Hinzu kommt, daß im Streitfall unstreitig der Erlaß des Körperschaftsteueränderungsbescheids 1979 nicht auf Tatsachen beruhte, die die Klägerin früher hätte geltend machen oder beweisen können und sollen und daher die Kosten gemäß § 137 Satz 1 FGO der Klägerin auch bei einer Erledigung nach § 138 FGO nicht hätten auferlegt werden können. Der Rechtsstreit bietet daher dem Senat keine Gelegenheit zur Prüfung der Frage, ob die AO 1977 oder die FGO die Möglichkeit eröffnet, einen Prozeßzinsenanspruch entfallen zu lassen, wenn die Klage zur Vermeidung einer Kostenentscheidung nach § 137 Satz 1 FGO und damit zur Aufrechterhaltung eines Prozeßzinsenanspruchs zurückgenommen wird. Die Rechtssituation erscheint für diesen Fall bei summarischer Betrachtung der Gesetzeslage in der Tat unbefriedigend. Allein deswegen aber der Klägerin Prozeßzinsen vorzuenthalten, obgleich sie unstreitig eine Kostenentscheidung nach § 137 Satz 1 FGO nicht zu befürchten hatte, erscheint jedoch gleichermaßen ungerechtfertigt, zumal die Finanzverwaltung aus statistischen Gründen geneigt ist, Klagerücknahmen nahezulegen. Der Senat stimmt daher im Ergebnis der Entscheidung des FG Münster vom 12. Juli 1991 6 K 6530/88 E (EFG 1992, 175) zu (anders FG des Saarlandes, Urteil vom 28. Februar 1992 1 K 169/91, EFG 1992, 385).

3. Die Sache ist an das FG zurückzuverweisen. Die Feststellungen des FG lassen eine abschließende Beurteilung der Frage, ob der Geltendmachung des Zinsanspruchs der Einwand von Treu und Glauben (§ 242 BGB) entgegensteht, nicht zu.

Eine Rechtsausübung ist nach dem auch im Steuerrecht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben u.a. unzulässig, wenn durch das Verhalten des Berechtigten ein Vertrauenstatbestand entstanden ist u n d der andere Teil im Hinblick darauf bestimmte Dispositionen getroffen hat (Grundsatz des venire contra factum proprium; vgl. hierzu Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 53. Aufl., § 242 Rdnrn.55, 56; BFH-Urteile vom 6. Februar 1991 I R 13/86, BFHE 164, 168, BStBl II 1991, 673 m.w.N.; vom 9. August 1989 I R 181/85, BFHE 158, 31, BStBl II 1989, 990). Dieser Grundsatz gilt auch zugunsten des FA (vgl. z.B. auch BFH-Urteil vom 10. November 1987 VII R 171/84, BFHE 151, 123, BStBl II 1988, 41). Wie das Verhalten der Beteiligten zu verstehen ist, beurteilt sich nach objektiver Betrachtung und nicht nach den subjektiven Erwartungen der Beteiligten (vgl. Tipke/Kruse, a.a.O., § 4 AO 1977 Tz.57). Wenn das FG im Streitfall ein treuwidriges Verhalten der Klägerin bzw. ihrer Rechtsvorgängerin allein mit der Begründung ausschließt, daß das Thema Prozeßzinsen nicht ausdrücklich in der Schlußbesprechung angesprochen worden sei und es ausschließlich Pflicht des FA gewesen wäre, hierauf hinzuweisen, verkennt es zum einen den Umfang des Vertrauensschutzes und zum anderen, daß sich auch das FA auf den Grundsatz von Treu und Glauben berufen kann. Entscheidend ist im Streitfall, ob die Klägerin durch ihr Verhalten, objektiv beurteilt, den Eindruck erweckte (vgl. z.B. BGH-Urteil vom 22. Mai 1985 IV a ZR 153/83, BGHZ 94, 344/352), durch die Klagerücknahme werde die Angelegenheit betreffend Körperschaftsteuer 1979 einschließlich Prozeßzinsen insgesamt bereinigt und daß sie aus einem solchen Verhalten Vorteile zog. Das FG hat die hierzu notwendigen Feststellungen noch zu treffen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 64939

BFH/NV 1995, 17

BStBl II 1995, 37

BFHE 175, 496

BFHE 1995, 496

BB 1995, 346

BB 1995, 346-348 (LT1)

DB 1995, 356-357 (LT)

HFR 1995, 186-187 (LT)

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