Leitsatz (amtlich)

Die Möglichkeit der Berichtigung eines Steuerbescheids nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO ist nicht schon dann ausgeschlossen, wenn das FA auch in Kenntnis des vollen Sachverhalts möglicherweise nicht anders veranlagt hätte (so das BFH-Urteil IV 442/61 vom 27. Juni 1963, HFR 1965, 122), sondern nur, wenn das FA mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit so verfahren wäre.

 

Normenkette

AO § 222 Abs. 1 Nr. 1

 

Gründe

Aus den Gründen:

Das FG hat sein Urteil auf die Erwägung gestützt, das FA hätte nach seiner, des FG, Überzeugung "selbst bei Kenntnis dieser Bilanz [d. h. der Bilanz per 1. Januar 1961] und des nach ihr zu errechnenden Vermögenszuwachses" die Veranlagung 1959 auch nicht anders durchgeführt.

Es ist richtig, daß der Senat in dem vom FG herangezogenen Urteil IV 442/61 vom 27. Juni 1963 (HFR 1965, 122) angenommen hat, eine Berichtigung sei unzulässig, wenn eine Tatsache dem FA zwar bei der Erstveranlagung nicht bekannt war, aber, auch wenn sie ihm bekannt gewesen wäre, vom FA als unerheblich angesehen und daher bei der Erstveranlagung nicht berücksichtigt worden wäre. Diesem Urteil liegt, wie auch dem Urteil des RFH III 183/41 vom 2. Juli 1942 (RStBl 1942, 778), die Erwägung zugrunde, das Unbekanntsein der Tatsache sei für die fehlerhafte Veranlagung nicht ursächlich gewesen. Selbst wenn man diesen Grundsatz anwendet, kommt es aber - und das hat das FG verkannt - darauf an, ob das FA bei Kenntnis des vollen Sachverhalts (Urteil des BFH IV 442/61) nicht anders veranlagt hätte. Das FG stellt seine Argumentation darauf ab, wie sich das FA bei Kenntnis der Bilanz verhalten hätte. Es stellt allerdings nicht nur fest, daß dem FA die Vermögensmehrung in der Bilanz aufgefallen sei, sondern auch, daß es nicht habe annehmen können, daß diese auf Einlagen beruht hätte, weil ihm bekannt gewesen sei, daß die Gewinne der Gesellschaft und der Einzelfirma seit vielen Jahren wegen Nichtordnungsmäßigkeit der Buchführung nach Reingewinnsätzen geschätzt worden seien.

Diese an sich auf tatsächlichem Gebiet liegende Würdigung, die als solche in der Regel für das Revisionsgericht bindend ist (§ 118 Abs. 2 FGO), ist indessen unvollständig und deshalb rechts fehlerhaft, also vom Senat auch ohne Verfahrensrüge zu behandeln. Dem FA war, - soweit sind die Tatsachenfeststellungen des FG unangreifbar - bekannt, daß ein erheblicher Vermögenszuwachs im Betriebs vermögen eingetreten war. Die weitere Feststellung des FG, die Vermögensmehrung habe nicht auf Einlagen der Gesellschafter beruhen können, da die Gewinne jahrelang nicht ordnungsmäßig ermittelt worden seien, ist indessen nicht aussagefähig. Der Umstand, daß keine Buchführung vorhanden war und die Gewinne hatten geschätzt werden müssen, spricht zwar dafür, daß die Vermögensmehrung aus unversteuerten Gewinnen stammte, kann aber nicht zu dem Schluß führen, daß das tatsächlich der Fall war. Denn Einlagen konnten auch aus anderen Quellen gemacht werden (wie hier aus den Zahlungen einer Lebensversicherung oder aus dem Erlös aus dem Verkauf von Aktien), und ferner konnte die "Vermögensmehrung" auch auf überhöhten Bilanzansätzen beruhen. Insoweit hatte das FA also noch keine volle Kenntnis der erheblichen Umstände bzw. vom vollen Sachverhalt, von dem auszugehen war. Die Feststellungen des FG können daher zwar die Folgerung rechtfertigen, das FA habe allen Anlaß gehabt, die Entstehung der Vermögensmehrung zu überprüfen, nicht aber die Feststellung, es hätte, wenn es bereits bei der Erst veranlagung 1959 die Vermögensmehrung und ihre Herkunft gekannt hätte, auch nicht anders veranlagt. Dazu hätte das FG feststellen müssen, daß das FA, wenn es gewußt hätte, daß ein Teil der Vermögensmehrung nur aus nichtversteuerten Gewinnen habe stammen können, diese nicht berücksichtigt hätte.

In dem bereits erwähnten Urteil IV 442/61 ging der Senat offenbar davon aus, daß schon die Möglichkeit einer solchen Falschbehandlung durch das FA genügen könne, um den Weg des § 222 AO zu verschließen. An dieser Auffassung hält der Senat nicht fest. Es muß davon ausgegangen werden, daß das FA die dem Sachverhalt entsprechende richtige Entscheidung getroffen hätte; daß es rechtlich falsch entschieden hätte, kann nicht unterstellt werden. Allenfalls kann die Unsicherheit der Rechtslage - wie sie im Falle des Urteils IV 442/61 gegeben war - ein Indiz dafür sein, daß das FA mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht anders verfahren wäre. Diese Feststellung kann aber hier, da sie mit der Lebenserfahrung in Widerspruch stünde, keinesfalls getroffen werden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 413209

BStBl II 1972, 648

BFHE 1972, 445

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