Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Verjährungsunterbrechende Handlung im Sinn des § 147 Abs. 1 AO ist jede nach außen wirkende Maßnahme, die nach ihrem Wesen und ihrem Ziel ernsthaft auf eine Förderung der Sache gerichtet ist. Zur Verjährungsunterbrechung ist nicht erforderlich, daß die Handlung bereits über den Bereich der Behörden der Finanzverwaltung hinaus wirksam geworden ist. An seiner gegenteiligen Entscheidung IV 156/57 U vom 3. Juli 1958 (BStBl 1958 III S. 472, Slg. Bd. 67 S. 519) hält der Senat nicht fest.

Hat das Finanzamt von der Erteilung eines auf 0 DM lautenden Freistellungsbescheids abgesehen und nur innerdienstlich eine Nichtveranlagungs-Verfügung erlassen, so kann in der Mitteilung der Finanzkasse über die Erstattung oder die Verrechnung von Vorauszahlungen kein Freistellungsbescheid gesehen werden, der einer späteren Steuernachforderung nach § 223 AO entgegenstünde.

 

Normenkette

AO § 210 Abs. 3, §§ 222-223

 

Tatbestand

Streitig ist, ob der Einkommensteueranspruch für 1951 verjährt ist.

Der Bf. betrieb bis zum 31. Juli 1951 in seinem im Jahre 1956 verkauften Grundstück ein Lebensmittelgeschäft, das er für die Folgezeit der Firma B. überließ, die den im Zeitpunkt der Verpachtung vorhandenen Warenbestand von rund 50.000 DM sowie die Geschäftseinrichtung käuflich übernahm. In der Bilanz vom 31. Juli 1951 wies der Bf. das Grundstück mit 90.000 DM und die Geschäftseinrichtung mit 4.000 DM aus. Er erklärte für 1951 lediglich einen laufenden gewerblichen Gewinn von 595 DM. Bei Berücksichtigung eines Veräußerungsgewinns wegen Geschäftsaufgabe (ß 16 Abs. 3 EStG) würde sich, wie später festgestellt und vom Bf. anerkannt wurde, für 1951 ein gewerblicher Gewinn von 47.000 DM ergeben haben.

Das Finanzamt folgte der Erklärung des Bf., sah von der Erfassung eines Veräußerungsgewinns für 1951 und von einer Veranlagung zur Einkommensteuer 1951 ab, weil sich "ohne besondere Prüfung" ergebe, daß das Einkommen des Bf. bei Steuerklasse III unter 1.301 DM liege. Ein Freistellungsbescheid erging nicht. Die Finanzkasse wurde lediglich durch interne Verfügung angewiesen, "etwa geleistete Vorauszahlungen" auszugleichen, was durch die Mitteilung an den Bf. vom 18. Dezember 1952 geschah.

Im Oktober 1957 ersuchte das Finanzamt die Steuerfahndungsstelle eines anderen Finanzamts, X., die steuerlichen Verhältnisse des Bf. zu prüfen, wobei es besonders "auf die laufend vom Steuerpflichtigen getätigten An- und Verkäufe von Grundbesitz" hinwies. Diese Prüfung führte die Steuerfahndungsstelle des Finanzamts X. im Jahr 1959 für die Jahre 1951 bis 1958 durch (Prüfungsbeginn am 23. Juni 1959, Schlußbesprechung am 25. November 1959). Die Prüfung bestätigte, daß der Bf. zwar nicht im Jahre 1951, aber in einer Reihe anderer Jahre nicht erklärte Gewinne aus Grundstückshandel erzielt hatte.

Im Verlauf der Prüfung setzten sich der Bf. und sein Vertreter mit ihrem Vorbringen durch, daß das Lebensmittelgeschäft bereits im Jahre 1951 aufgegeben und deshalb das Betriebsgrundstück schon im Jahre 1951 ins Privatvermögen übernommen worden sei. Zur Begründung wurde geltend gemacht, daß der gesamte Warenbestand und die Geschäftseinrichtung an die Firma B. im Jahr 1951 verkauft worden seien.

Das Finanzamt zog den Bf. durch Bescheid vom 31. März 1960 mit laufendem Gewinn und Veräußerungsgewinn aus dem Lebensmittelgeschäft sowie mit Einkünften aus Vermietung und Verpachtung für 1951 zu einer Einkommensteuer von 22.035 DM nach der Tabelle heran.

Dagegen wendet sich der Bf. Er macht geltend, der Steueranspruch 1951 sei mit Ablauf des Jahres 1957 verjährt, da die Verjährung durch das Ersuchen des Finanzamts vom Oktober 1957 an die Steuerfahndungsstelle des Finanzamts X. nicht unterbrochen worden sei. Abgesehen davon sei die nachträgliche Einkommensteuerfestsetzung nur unter der Voraussetzung des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO zulässig. Diese Voraussetzung sei aber nicht gegeben.

Einspruch und Berufung hatten keinen Erfolg.

 

Entscheidungsgründe

Auch der Rb. ist der Erfolg zu versagen.

Die mit dem 31. Dezember 1957 ablaufende ursprüngliche Verjährungsfrist wurde durch das Ersuchen des Finanzamts im Jahre 1957 wirksam unterbrochen. Das von dem Vorsteher des Finanzamts persönlich erläuterte Ersuchen, das sich erkennbar auf alle noch ungeprüften unverjährten Ansprüche und mithin auch auf den Einkommensteueranspruch 1951 bezog, war eine verjährungsunterbrechende Handlung im Sinn des § 147 Abs. 1 AO.

Die Regelung des § 147 Abs. 1 AO gleicht der des § 68 Abs. 1 StGB, nach dem "jede Handlung des Richters, welche wegen der begangenen Tat gegen den Täter gerichtet ist", die Verjährung unterbricht. Entscheidend für die Annahme einer solchen Handlung ist, ob sie als eine nach außen wirkende Maßnahme nach ihrem Wesen und ihrem Ziel darauf gerichtet ist, der Förderung der Sache ernsthaft zu dienen. In diesem Sinn war das Fahndungsersuchen des Finanzamts vom Oktober 1957 bereits eine verjährungsunterbrechende Handlung, bevor es aus dem Geschäftsbereich des Finanzamts hinaus zur Kenntnis der ersuchten Fahndungsstelle oder des Steuerpflichtigen gelangte. Der Senat befindet sich mit dieser Rechtsauffassung in übereinstimmung mit dem V. und dem VII. Senat des Bundesfinanzhofs (vgl. Urteile V 140/57 U vom 20. Februar 1958, BStBl 1958 III S. 433, Slg. Bd. 67 S. 421; VII 45/60 S vom 22. März 1961, BStBl 1961 III S. 244, Slg. Bd. 72 S. 672). Er hält an der gegenteiligen Auffassung nicht mehr fest, die er in seiner Entscheidung IV 156/57 U vom 3. Juli 1958 (BStBl 1958 III S. 472, Slg. Bd. 67 S. 519) vertreten hat.

Aus dem Umstand, daß die Prüfung erst im Jahr 1959 durchgeführt wurde, können keine Bedenken gegen die Wirksamkeit der Unterbrechung hergeleitet werden. Der Senat tritt auch insoweit der bezeichneten Entscheidung des VII. Senats bei.

Die vom Finanzamt im Jahr 1960 durchgeführte Einkommensteuerveranlagung fand ihre Rechtsgrundlage in § 223 AO. Danach sind Nachforderungen innerhalb der Verjährungsfrist zulässig, soweit nicht die Vorschriften des § 222 AO Platz greifen. Die Vorschrift des § 222 AO will das Vertrauen des Steuerpflichtigen in den Bestand eines nach Prüfung des Sachverhalts ergangenen schriftlichen Bescheides schützen. Ein solcher Bescheid ist nicht ergangen.

Der Steuerbescheid ist ein Steuerverwaltungsakt. Er hat als zweckbestimmte Bekundung des Finanzamts - wie jeder andere Verwaltungsakt - einen dahingehenden Willen der für seinen Erlaß zuständigen Stelle zur Voraussetzung. Demgemäß wird der Steuerbescheid in § 212 AO als "Willenskundgebung" des Finanzamts bezeichnet. Ohne die hiernach erforderliche Willensbildung des zuständigen Sachgebietsleiters kann mithin ein Steuerbescheid nicht wirksam ergehen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs V 106/60 vom 28. März 1963, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1963 S. 355). Werden diese Grundsätze auf den vorliegenden Streitfall angewendet, so ergibt sich: Nach der bei den Einkommensteuerakten befindlichen Verfügung des Sachgebietsleiter vom 12. Dezember 1952 folgte dieser ohne besondere Prüfung der Steuererklärung des Bf. und sah von einer Veranlagung ab, weil sich nach der Höhe des vom Bf. erklärten Einkommens keine Einkommensteuer ergab. Mit dieser Nichtveranlagungs-Verfügung entschied er sich zugleich bewußt dahin, vom Erlaß und von der Bekanntgabe eines den Vertrauensschutz des Bf. begründenden, auf 0 DM lautenden Steuerbescheids (Freistellungsbescheids) abzusehen, so daß für den Fall einer sich später dem Finanzamt als notwendig erweisenden Prüfung des Sachverhalts der Weg der Nachforderung gemäß § 223 AO ohne die Einschränkung des § 222 AO offen blieb. In Anbetracht dieser Willensentscheidung ist es selbst dann nicht angängig, die Nichtveranlagungs-Verfügung des Finanzamts in einen Freistellungsbescheid umzudeuten, wenn diese - wie im Falle der Entscheidung des erkennenden Senats IV 173/52 U vom 30. Oktober 1952 (BStBl 1953 III S. 30, Slg. Bd. 57 S. 75) - nachrichtlich durch das Finanzamt zur Kenntnis des Steuerpflichtigen gelangt. An der in dieser Entscheidung vertretenen gegenteiligen Auffassung hält der Senat nicht fest. Bei dieser rechtlichen Beurteilung ist es um so weniger angängig, in der Ausgleichsmitteilung der Finanzkasse vom 18. Dezember 1952 einen auf 0 DM lautenden Freistellungsbescheid zu sehen. Die AO unterscheidet zwischen dem Festsetzungsverfahren einerseits und dem Erhebungsverfahren sowie dem Erstattungsverfahren andererseits. Die Finanzkasse kann grundsätzlich nur in den beiden letztgenannten Verfahren tätig werden. Sie ist weder befugt noch in der Lage, ein Ermittlungs- und Festsetzungsverfahren im Sinn der §§ 204 ff. AO durchzuführen. Sie konnte daher auch keinen Freistellungsbescheid erlassen, der für den Bf. einen Vertrauensschutz im Sinn der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs begründete.

Diese Rechtsauffassung des Senats steht nicht in Widerspruch mit der Entscheidung des V. Senats des Bundesfinanzhofs V 27/61 U vom 7. November 1963 (BStBl 1964 III S. 37). Nach dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt war eine Steuerfestsetzung vom Finanzamt gewollt und intern auch durchgeführt worden, ihre Bekanntgabe aber versehentlich unterblieben. In Anbetracht der besonderen Umstände des Falles wurde nach dem Grundsatz von Treu und Glauben gleichwohl eine Bindung des Finanzamts an die Steuerfestsetzung bejaht. Ein solcher Sachverhalt ist hier nicht gegeben, so daß der Senat auch nicht zu entscheiden braucht, ob er sich der Auffassung des V. Senats anschließen würde.

 

Fundstellen

Haufe-Index 411068

BStBl III 1964, 215

BFHE 1964, 567

BFHE 78, 567

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