Leitsatz (amtlich)

Der Klage gegen die Entscheidung der Finanzbehörde über einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung fehlt nicht deswegen das Rechtsschutzbedürfnis, weil die Aussetzung auch unmittelbar bei Gericht beantragt werden kann.

 

Normenkette

FGO § 40 Abs. 1, § 69 Abs. 3

 

Verfahrensgang

FG Düsseldorf

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war Geschäftsführer einer Kommanditgesellschaft (KG). Aus Mineralöleinfuhren im Juli und August 1980 schuldete die KG 691 245,70 DM Einfuhrumsatzsteuer, die sie nicht entrichtete. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Hauptzollamt -- HZA --) nahm den Kläger mit Haftungsbescheid vom 29. Dezember 1980 nach § 191 i. V. m. § 69 der Abgabenordnung (AO 1977) auf Zahlung der genannten Schuld in Anspruch. Über den vom Kläger gegen den Haftungsbescheid eingelegten Einspruch ist noch nicht entschieden.

Den Antrag des Klägers auf Aussetzung der Vollziehung des Haftungsbescheids lehnte das HZA mit Verfügung vom 29. Januar 1981 ab. Die dagegen eingelegte Beschwerde wies die Oberfinanzdirektion (OFD) mit Entscheidung vom 12. Juni 1981 zurück. Dagegen erhob der Kläger Klage mit dem Antrag, unter Aufhebung der beiden Verwaltungsentscheidungen das HZA zu verpflichten, die Vollziehung des Haftungsbescheids bis einen Monat nach Zustellung der Einspruchsentscheidung, längstens bis zur Rechtskraft des Haftungsbescheids, auszusetzen. Für den Fall der Unzulässigkeit der Klage beantragte der Kläger, die Vollziehung des Haftungsbescheids nach § 69 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auszusetzen.

Das Finanzgericht (FG) Düsseldorf wies die Klage durch Urteil vom 3. März 1982 IV 154/81 KA (SZ) als unzulässig ab (Entscheidungen der Finanzgerichte -- EFG -- 1982, 524). Zur Begründung führte es aus:

Für die Aussetzungsklage fehle es am Rechtsschutzbedürfnis. Die Eröffnung des Klageweges wahlweise neben dem Beschlußverfahren nach § 69 Abs. 2, 3 FGO gewähre ein Übermaß an Rechtsschutz. Das Klageverfahren sei gegenüber dem Beschlußverfahren aufwendiger. Gemessen an den Änderungen durch das Gesetz zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (VGFGEntlG) und das Gesetz zur Entlastung des Bundesfinanzhofs (BFH-EntlG) biete es zu viel an Rechtsschutz. Das erstrebte Ziel, die Aussetzung der Vollziehung, werde im Beschlußverfahren unzweifelhaft schneller und billiger erreicht.

Vom Kläger werde dem entgegengehalten, der Rechtsschutz sei nicht gleich wirksam, da die Beschlüsse nach § 69 Abs. 3 Satz 5 FGO jederzeit geändert oder aufgehoben werden könnten, während das Urteil in Rechtskraft erwachse. Dem sei entgegenzuhalten, daß die Möglichkeit zur Abänderung durch Art. 3 § 7 Abs. 2 VGFGEntlG eingeschränkt worden sei.

Ein ausreichender Rechtsschutz des Bürgers bestehe nur dann, wenn anhängige Streitverfahren auch zügig erledigt würden. Lasse man als Alternative zum Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO das Klageverfahren gegen die ablehnende Beschwerdeentscheidung der OFD zu, so könne das zu einer Beeinträchtigung anderer anhängiger Verfahren führen, ohne daß ein qualitativ besserer Rechtsschutz erreicht würde.

Das FG folge damit im Ergebnis dem FG München (Urteil vom 24. Juni 1981 III 198/80 AO, EFG 1981, 579). Dem Hauptargument des FG München, die Entscheidung der Steuerbehörde, ob sie die Vollziehung aussetze oder nicht, sei kein Verwaltungsakt i. S. des § 40 Abs. 1 FGO, vermöge sich das FG allerdings nicht anzuschließen. Auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) könne diese vom FG München vertretene Auffassung nicht gestützt werden. Anders als im Verwaltungsverfahren werde im Finanzverfahren die Vollziehung durch Einlegung eines Rechtsbehelfs regelmäßig nicht gehemmt. Es bestehe ein umgekehrtes Regel-Ausnahme-Verhältnis.

Seine Entscheidung stehe nicht im Widerspruch zum Beschluß des Großen Senats des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 4. Dezember 1967 GrS 4/67 (BFHE 90, 461, BStBl II 1968, 199). Diese Entscheidung sei vor Erlaß des VGFGEntlG ergangen. In ihr klinge bereits an, daß unter teleologischen Gesichtspunkten ohne weiteres dem Beschlußverfahren als Spezialvorschrift der Vorrang gegeben werden könne. Erklärtes Ziel des VGFGEntlG sei es, das finanzgerichtliche Verfahren zu vereinfachen, um die Gerichte in die Lage zu versetzen, zügiger als bisher über die bei ihnen anhängigen Streitsachen zu entscheiden. Die Auslegung nach dem objektivierten Willen des Gesetzgebers führe also dazu, dem Beschlußverfahren als Spezialvorschrift den Vorrang zu geben. Dadurch würden durch vorrangig zu behandelnde Aussetzungsklagen bisher blockierte Kapazitäten der FG frei.

Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) werde nicht beeinträchtigt. Damit solle nur der Zugang zum Gericht eröffnet werden, um eine vollständige Nachprüfung des Verwaltungsaktes in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht zu ermöglichen. Daraus lasse sich nicht ableiten, daß nur in einem bestimmten Verfahren (Urteilsverfahren) entschieden werden könne. Sinn und Zweck dieser Norm sei es, eine unzulängliche Rechtsschutzregelung aufzufangen und dem Bürger gerichtlichen Schutz gegen die Verletzung individueller Rechte durch die öffentliche Gewalt zu bieten. Dem sei durch das gerichtliche Beschlußverfahren ausreichend Genüge getan.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

1. In Übereinstimmung mit der Vorentscheidung teilt der erkennende Senat die Auffassung des FG München in EFG 1981, 579 nicht, daß die Verfügung der Steuerbehörde über die Aussetzung der Vollziehung kein Verwaltungsakt i. S. des § 40 Abs. 1 FGO sei. Es kann dahinstehen, ob das FG damit zum Ausdruck bringen wollte, diese Verfügung sei schlechthin kein Verwaltungsakt, oder ob es der Meinung war, die Verfügung sei jedenfalls kein Verwaltungsakt der von § 40 Abs. 1 FGO erfaßten Art. Denn beiden Auffassungen vermag der Senat nicht zu folgen.

Die Verfügung der Behörde über die Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung ist eine Entscheidung, die die Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Sie erfüllt damit die Voraussetzungen des § 118 Satz 1 AO 1977 und ist daher von Gesetzes wegen ein Verwaltungsakt, und zwar auch i. S. des § 40 Abs. 1 FGO. Diese Bestimmung läßt die Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage in bezug auf Verwaltungsakte jeder Art zu. Das Ergebnis des FG München läßt sich daher durch eine Auslegung dieser Vorschrift im Rahmen des möglichen Wortsinns nicht begründen. Eine gesetzesimmanente Rechtsfortbildung oder gar eine Korrektur des § 40 Abs. 1 FGO i. S. der Auffassung des FG München hält der erkennende Senat jedoch schon deswegen für unzulässig, weil sie zu einer Einschränkung des Rechtsschutzes des Steuerpflichtigen führen würde (vgl. Woerner in Grenzen der Rechtsfortbildung durch Rechtsprechung und Verwaltungsvorschriften im Steuerrecht, herausgegeben von Tipke, Köln 1982 S. 41 ff., 49; Woring, Zur Zulässigkeit der Aussetzungsklage, Deutsches Steuerrecht -- DStR -- 1982, 80 Nr. 1).

2. Die Vorschrift des § 69 Abs. 3 FGO ist entgegen der Auffassung der Vorinstanz keine Spezialbestimmung, die der Regelung des § 40 Abs. 1 FGO vorgeht. Das hat der Große Senat des BFH in seinem Urteil vom 4. Dezember 1967 Gr S 4/67, BFHE 90, 461, BStBl II 1968, 199 ausführlich begründet. Diese Begründung hat durch die inzwischen eingetretenen Gesetzesänderungen, insbesondere durch das BFHEntlG und das VGFGEntlG, nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall.

Nach der zitierten Entscheidung des Großen Senats des BFH ist die FGO dahin auszulegen, daß sie dem Rechtsunterworfenen zwei Wege eröffnet, eine von der Verwaltung abgelehnte Aussetzung der Vollziehung durchzusetzen: Das Urteilsverfahren nach § 40 Abs. 1 FGO und das Beschlußverfahren nach § 69 Abs. 3 FGO. Der Große Senat hat aber keinen Zweifel daran gelassen, daß nach seiner Ansicht allen berechtigten Interessen der Steuerpflichtigen ausreichend Rechnung getragen wäre, wenn das Gesetz das Beschlußverfahren des § 69 Abs. 3 FGO als einzigen Weg für die Erreichung der Aussetzung der Vollziehung vorsehen würde. Er hat darüber hinaus in der Begründung seiner Entscheidung deutlich gemacht, daß er rechtspolitisch gesehen eine solche Gesetzesänderung eher für richtig hält.

Trotz dieser Anregung des Großen Senats des BFH hat der Gesetzgeber das Gesetz insoweit nicht geändert. Er hat davon abgesehen, obwohl er sich gerade mit der Frage befaßt hat, wie die FG und der BFH durch Vereinfachung des Verfahrens entlastet werden könnten. Er hat auch durch Art. 1 Nr. 3 BFH-EntlG die Beschwerdemöglichkeit gegen Beschlüsse des FG nach § 69 Abs. 3 und 4 FGO eingeschränkt und in Art. 3 § 7 VGFGEntlG den Antrag bei Gericht auf Aussetzung der Vollziehung nach § 69 Abs. 3 FGO von zusätzlichen Voraussetzungen abhängig gemacht. Dagegen hat der Gesetzgeber jene vom Großen Senat ihm geradezu nahegelegte Maßnahme nicht getroffen, die auf dem Gebiet der Aussetzung der Vollziehung wohl die am weitesten gehende Vereinfachung für die Gerichte gebracht hätte, eben die Untersagung des Klageverfahrens neben dem Beschlußverfahren. Im Hinblick auf die Anregung des Großen Senats kann nicht davon ausgegangen werden, daß dies auf eine Unachtsamkeit des Gesetzgebers zurückzuführen ist. Näher liegt die Annahme, der Gesetzgeber habe im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG verfassungsrechtliche Schwierigkeiten darin gesehen, die Klage gegen die Entscheidung der Verwaltung über das Aussetzungsbegehren auszuschließen. Jedenfalls spricht heute mehr dafür als zu der Zeit, zu der der Große Senat entschieden hat, daß das Nebeneinander von Beschlußund Urteilsverfahren dem objektivierten Willen des Gesetzgebers entspricht (vgl. auch Woring, a. a. O., Nr. 2 b).

Das Argument der Vorinstanz, bei der gegenwärtigen Überlastung der FG sei die Gewährung eines solchen doppelten Rechtsschutzweges für ein vorläufiges summarisches Verfahren zu aufwendig, mag richtig sein. Es ist aber ein rechtspolitisches Argument, das den Gerichten nicht das Recht gibt, entgegen der geschilderten Rechtslage zu entscheiden. Auch aus den Entlastungsgesetzen ist kein Argument für die Auffassung der Vorinstanz zu gewinnen. Denn aus dem Umstand, daß der Gesetzgeber damit die Notwendigkeit der Vereinfachung des finanzgerichtlichen Verfahrens dokumentiert hat, ergibt sich für die FG noch nicht die Befugnis, von ihnen für überflüssig gehaltene, vom Gesetz aber gewährte Rechtsschutzwege für nicht gangbar zu erklären. Das kann nur der Gesetzgeber selbst tun, nicht aber ein Gericht, das gemäß Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden ist.

3. Entgegen der Auffassung des FG fehlt für die Klage auch nicht das Rechtsschutzbedürfnis. Es ist zwar richtig, daß ein solches Bedürfnis dann nicht gegeben ist, wenn ein anderer Weg einfacher, billiger und schneller zum selben Ziel führt (vgl. Baumbach/Lauterbach, Zivilprozeßordnung, 40 Aufl., Grundzüge § 253 Anm. 5 A). Der Steuerpflichtige kann jedoch auf einen anderen als den von ihm gewählten und vom Gesetz vorgesehenen Weg, sein Recht zu suchen, nur verwiesen werden, wenn die beiden fraglichen Wege im wesentlichen vergleichbar sind. Daran fehlt es aber hier.

Das Urteilsverfahren unterscheidet sich vom Beschlußverfahren in zahlreichen Punkten. Der Große Senat hat in seiner zitierten Entscheidung darauf im einzelnen hingewiesen. Allein die Unterschiede in der Besetzung der jeweils entscheidenden Senate sind so bedeutsam, daß dem Rechtsschutzsuchenden nicht entgegengehalten werden kann, er gelange im Beschlußverfahren zum selben Ziel wie im Urteilsverfahren. Da schon diese Unterschiede wesentlich sind, bedarf es keines Eingehens darauf, inwieweit sich beide Verfahren im Hinblick auf die Rechtskraftwirkung der Entscheidungen unterscheiden. Die konkurrierenden Möglichkeiten des Urteils- und Beschlußverfahrens berücksichtigen unterschiedliche Bedürfnisse der Beteiligten und sind daher je nach Sachlage alternativ sinnvoll (vgl. Woring, a. a. O., Nr. 2 Buchst. a).

 

Fundstellen

Haufe-Index 413704

BStBl II 1983, 49

BFHE 1983, 523

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