Entscheidungsstichwort (Thema)

Steuerliche Betriebsprüfung Einkommensteuer/Lohnsteuer/Kirchensteuer Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Ein nach § 202 AO rechtskräftig festgesetztes Erzwingungsgeld kann auch nach Befolgung der Anordnung noch beigetrieben werden; es ist aber auf Antrag zu prüfen, ob nicht im Einzelfall die nachträgliche Einziehung eine Ermessensverletzung bedeutet.

 

Normenkette

AO § 202; StAnpG § 2 Abs. 2; FGO § 102

 

Tatbestand

Das Finanzamt forderte den Beschwerdeführer (Bf.) nach vorangegangener Anordnung mit Verfügung vom 8. Dezember 1953 unter Androhung eines Erzwingungsgeldes von 10 DM auf, die Lohnsteuer- Anmeldung III/1953 bis zum 15. Dezember 1953 an das Finanzamt einzureichen. Nachdem der Bf. dieser Aufforderung nicht nachgekommen war, setzte das Finanzamt durch am 31. Dezember 1953 abgesandte Verfügung vom 28. Dezember 1953 ein Erzwingungsgeld wegen Nichtabgabe der Lohnsteuer-Anmeldungen II und III/1953 in Höhe von 10 DM fest. Ein Rechtsmittel wurde gegen diese Festsetzungsverfügung nicht eingelegt.

Der Bf. reichte die angeforderten Lohnsteuer-Anmeldungen am 7. Januar 1954 beim Finanzamt ein und beantragte mit Schreiben vom gleichen Tage, "das festgesetzte Erzwingungsgeld nicht beizutreiben".

Das Finanzamt lehnte diesen Antrag durch Bescheid vom 3. Februar 1954 ab. Die dagegen - nach inzwischen erfolgter Beitreibung - bei der Oberfinanzdirektion erhobene Beschwerde vom 5. März 1954 blieb erfolglos.

Das Finanzgericht wies die gegen den Beschwerdebescheid der Oberfinanzdirektion vom 4. September 1954 eingelegte Berufung durch das angefochtene Urteil als unbegründet zurück.

Das Finanzgericht hat die Rechtsbeschwerde (Rb.) ohne Rücksicht auf den Streitwert zugelassen.

 

Entscheidungsgründe

I. Gegen die Zulässigkeit der Berufung und damit auch der Rb. könnten deshalb Bedenken bestehen, weil das Erzwingungsgeld schon vor der Einlegung der Beschwerde gegen den Bescheid des Finanzamts vom 3. Februar 1954 beigetrieben war. Denn nach Beendigung des Beitreibungsverfahrens sind Rechtsmittel gegen Beitreibungsmaßnahmen, von hier nicht zutreffenden Ausnahmen abgesehen, grundsätzlich nicht mehr zulässig (vgl. u. a. Urteil des erkennenden Senats II 158/52 U vom 13. Januar 1954, Slg. Bd. 58 S. 462, Bundessteuerblatt - BStBl - 1954 III S. 87, Baumbach, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 1954, 22. Aufl., Bem. 4 A zu § 766 und die weiteren in dem angeführten Urteil erwähnten Zitate). Das Finanzgericht hat jedoch zutreffend den Antrag des Bf. vom 7. Januar 1954, "das festgesetzte Erzwingungsgeld nicht beizutreiben", sinngemäß als Antrag auf Erlaß des Erzwingungsgeldes angesehen und behandelt. Die Anfechtbarkeit des diesen Erlaß ablehnenden Bescheides des Finanzamts vom 3. Februar 1954 im erweiterten Rechtsmittelwege (Artikel 19 Abs. 4 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland - GG - in Verbindung mit dem Gutachten des Großen Senats des Bundesfinanzhofs Gr.S. D 1/51 S vom 17. April 1951, Slg. Bd. 55 S. 277, BStBl 1951 III S. 107) kann jedoch nicht dadurch beseitigt werden, daß zeitlich nach diesem Bescheid, wenn auch vor Einlegung der Beschwerde, das Erzwingungsgeld, dessen Erlaß beantragt war, beigetrieben wurde.

Die Rb. ist daher als zulässig zu erachten. Sie führt sachlich im Ergebnis zur Aufhebung der Vorentscheidungen des Finanzgerichts und der Oberfinanzdirektion.

II. Dem Finanzgericht ist allerdings in vollem Umfange beizupflichten, wenn es aus dem Wortlaut des § 202 Abs. 4 Satz 2 der Reichsabgabenordnung (AO) in der Fassung des Gesetzes zur änderung von einzelnen Vorschriften der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze - AOändG - vom 11. Juli 1953 (Bundesgesetzblatt I S. 511) den Schluß zieht, daß die Befolgung der Anordnung - im Streitfall die Einreichung der Lohnsteueranmeldungen am 7. Januar 1954 - der nachträglichen Vollstreckung des Erzwingungsgeldes nicht entgegensteht. Denn im § 202 Abs. 4 Satz 2 AO ist nur bestimmt, daß die Vollstreckung der Haft nicht fortzusetzen sei, wenn der Schuldner die Anordnung nunmehr befolgt. Aus dieser Fassung des Gesetzes ist zu folgern, daß nach dem Willen des Gesetzgebers nur die Vollstreckung der Haft, nicht dagegen die Beitreibung des nicht umgewandelten Erzwingungsgeldes nach Erreichung des Erzwingungszwecks unzulässig sein soll, zumal in den vorangehenden Abs. 2 und 3 des § 202 AO bei Regelung der Umwandlung zwischen "Erzwingungsgeld" einerseits und "Erzwingungshaft" andererseits unterschieden wird.

Für diese Auslegung spricht auch, daß der Reichsfinanzhof im Urteil I A 1/30 vom 6. Mai 1930 (Steuer und Wirtschaft 1930 Nr. 684) für § 202 AO in der Fassung vor dem Inkrafttreten des AOändG die Zulässigkeit der nachträglichen Einziehung bejaht hat und daß darüber hinaus zu § 202 AO früherer Fassung überwiegend die Auffassung vertreten wurde, daß nicht nur die damalige "Geldstrafe", sondern sogar die festgesetzte Erzwingungshaft nach Befolgung der zu erzwingenden Anordnung noch vollstreckt werden durfte (vgl. Mattern-Wittneben, Kommentar zum AOändG, S. 88). Wenn der Gesetzgeber sich in Kenntnis dieser Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs und der im Schrifttum vertretenen Auffassungen darauf beschränkte, zu bestimmen, daß die Vollstreckung der Haft nicht fortzusetzen sei, so folgt daraus nach Ansicht des erkennenden Senats, daß er die nachträgliche Beitreibung des Erzwingungsgeldes nicht ausschließen wollte. Die unterschiedliche Gestaltung hat auch ihre innere Rechtfertigung. Denn die für die Haft getroffene Regelung des § 202 Abs. 4 Satz 2 AO neuer Fassung ist eine Auswirkung eines auf der Rechtsgarantie der persönlichen Freiheit durch Art. 104 GG beruhenden allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsatzes, nach dem es nicht vertretbar erscheint, einem Staatsbürger, der - wenn auch unter Zwang - einer behördlichen Anordnung nachgekommen ist, nachträglich durch eine Haftstrafe die Freiheit zu entziehen, weil er die Anordnung nicht rechtzeitig befolgt hat. Dieser verfassungsmäßige Gesichtspunkt scheidet bei der Beitreibung eines Erzwingungsgeldes gegen einen zahlungsfähigen Steuerpflichtigen aus. In der unterschiedlichen Behandlung liegt daher auch kein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG.

Im Hinblick auf den klaren Wortlaut des § 202 Abs. 4 Satz 2 AO kann auch - entgegen teilweise im Schrifttum vertretenen Meinungen - aus dem Wesen des Erzwingungsgeldes als eines Zwangsmittels nicht das Gegenteil gefolgert werden. Es ist zwar richtig, daß die Festsetzung eines Erzwingungsgeldes in erster Linie das Ziel hat, einen bestimmten Zustand in der Zukunft herbeizuführen, nämlich den Steuerpflichtigen zur Erfüllung der Anordnung des Finanzamts zu veranlassen. Das schließt aber nach Ansicht des Senats die nachträgliche Einziehung eines Erzwingungsgeldes grundsätzlich nicht aus (vgl. auch § 95 AO, wo die Zwangsmittel als Beispiel für "Ungehorsamsfolgen" aufgeführt werden).

Etwas anderes ist auch nicht aus der Vorschrift des § 15 Abs. 3 des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes (VwVG) vom 27. April 1953 (Bundesgesetzblatt I S. 157) herzuleiten, nach welcher der Vollzug eines Zwangsmittels (auch eines Zwangsgeldes - § 9 Abs. 1 VwVG -) einzustellen ist, sobald sein Zweck erreicht ist. Denn nach § 1 Abs. 3 VwVG bleiben die Vorschriften der AO durch das VwVG unberührt. Da der Gesetzgeber wenige Monate nach dem Erlaß des VwVG im AOändG vom 11. Juli 1953 eine allgemein dem § 15 Abs. 3 VwVG entsprechende Regelung nicht traf, sondern im § 202 Abs. 4 Satz 2 AO neuer Fassung nur die Fortsetzung der Erzwingungshaft nach Befolgung der Anordnung ausschloß, ist davon auszugehen, daß die Regelung des § 202 AO eine für das Besteuerungsverfahren geltende - vom allgemeinen Verwaltungszwang abweichende - Sonderregelung enthält.

Gegenüber dieser Sonderregelung ist es auch unerheblich, daß im Zivilprozeßrecht für die vergleichbare "Geldstrafe" i. S. des § 888 der Zivilprozeßordnung allgemein die Auffassung vertreten wird, die Einziehung könne bis zur Beitreibung durch Erfüllung abgewehrt werden (vgl. Baumbach a. a. O., Anm. 3 B zu § 888).

III. Wenn somit nach Auffassung des Senats auch grundsätzlich die nachträgliche Einziehung von Erzwingungsgelder nach Befolgung der Anordnungen für zulässig zu erachten ist, so handelt es sich dabei auf der anderen Seite um Ermessensentscheidungen der Finanzbehörden, die nach Recht und Billigkeit zu treffen sind (§ 2 Abs. 2 des Steueranpassungsgesetzes in der jetzt geltenden Auslegung, vgl. u. a. Ziff. 4 des unter I. angeführten Gutachtens des Großen Senats des Bundesfinanzhofs Gr.S. D 1/51 S vom 17. April 1951, Beschluß des V. Senats des Bundesfinanzhofs V z B 11/54 vom 8. November 1955 - Steuerrechtsprechung in Karteiform, Rechtsspruch 1 a) zu § 306 AO -, Beschluß des erkennenden Senats II 145/55 U vom 9. November 1955 - Slg. Bd. 61 S. 479 ff., 481, BStBl 1955 III S. 383 f. -, ferner Urteile des Bundesfinanzhofs I 242/54 U vom 17. Januar 1956 - Slg. Bd. 62 S. 182 f., BStBl 1956 III S. 68 - und IV 587/55 U vom 2. August 1956 - Slg. Bd. 63, S. 375 ff., 378, BStBl 1956 III S. 340 -).

Im Streitfall hat das Finanzgericht es nach den Urteilsgründen unterlassen, zu prüfen, ob die Ablehnung des Antrags des Bf. das Erzwingungsgeld nicht beizutreiben und zu erlassen, eine Ermessungsverletzung darstellt.

Das Urteil des Finanzgerichts unterlag daher der Aufhebung. Es erschien geboten, die Sache unter gleichzeitiger Aufhebung der Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion an diese zur entsprechenden Prüfung und erneuten Entscheidung zurückzuverweisen.

Für die Beurteilung ist von Bedeutung, ob der Bf., wofür die dem Bundesfinanzhof vorliegenden Vorgänge sprechen können, erstmalig für II und III/1953 mit den Lohnsteueranmeldungen in Verzug geraten ist. Zu prüfen ist auch, ob die Versagung des beantragten Erlasses des Erzwingungsgeldes unter den besonderen Verhältnissen des Streitfalles deshalb unbillig erscheint, weil einerseits das Finanzamt das Erzwingungsgeld zwischen Weihnachten und Neujahr festgesetzt hat, andererseits der Bf. der entsprechenden am 31. Dezember 1953 abgesandten Verfügung, die danach gemäß § 17 Abs. 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes am 3. Januar 1954 als bekanntgegeben galt, bereits am 7. Januar 1954 durch Einreichung der Lohnsteueranmeldungen Rechnung getragen hat. Auch wird nicht außer acht bleiben können, daß der Bf. nach den Anmeldungen nur sehr geringfügige Steuerbeträge abzuführen hatte und daß das Finanzamt - unabhängig von dem Erzwingungsgeld - wegen der verspäteten Abgabe der Lohnsteueranmeldungen II und III/1953 noch zusätzlich einen Verspätungszuschlag gemäß § 168 AO festgesetzt hat.

Falls die Prüfung ergibt, daß die Versagung des Erlasses eine Ermessensverletzung bedeutet, ist das beigetriebene Erzwingungsgeld an den Bf. zu erstatten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 408786

BStBl III 1957, 268

BFHE 1958, 94

BFHE 65, 94

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