Entscheidungsstichwort (Thema)

Sonstiges Einkommensteuer/Lohnsteuer/Kirchensteuer

 

Leitsatz (amtlich)

Es verstößt nicht gegen das GG, daß in die Neuregelung der Rentenbesteuerung im EStG 1955 auch am 1. Januar 1955 schon laufende Leibrenten einbezogen worden sind.

Eine verfassungswidrige rückwirkende Verschärfung liegt nicht vor, wenn durch die änderung eines Steuergesetzes die bürgerlich-rechtliche Grundlage einer langfristigen Verbindlichkeit für einen Beteiligten ungünstiger wird.

 

Normenkette

GG Art. 2 Abs. 1; EStG § 10 Abs. 1 Ziff. 1, § 22/1/a; EStDV §§ 55, 25, 28

 

Tatbestand

Auf Grund letztwilliger Anordnungen des im Jahre 1949 verstorbenen Erblassers erhielt seine Witwe von ihren Neffen, die den Betrieb des Erblassers übernommen hatten, eine Leibrente, die in der Entscheidung des Bundesfinanzhofs IV 227/55 vom 23. August 1956 betreffend die Einkommensteuersache 1952 der Witwe als unentgeltliche Versorgungsrente bezeichnet wurde. Der Bf. und sein Bruder zahlten im Streitjahr 1956 auf Grund der Rentenverpflichtung rd. 18.000 DM, wovon der Bf. die Hälfte als Sonderausgabe abgesetzt haben will. Das Finanzamt ließ unter Berufung auf § 10 Abs. 1 Ziff. 1 Satz 2 EStG 1955 die gezahlte Rente nicht mehr wie bisher in vollem Umfang, sondern nur noch in Höhe des Ertragsanteils (20 % = 1.800 DM) als Sonderausgabe zum Abzug zu.

Das Finanzgericht gab der Sprungberufung insofern statt, als es den Ertragsanteil gemäß §§ 28, 25 EStDV 1955 auf 80 % der Rente und den Sonderausgabenabzug entsprechend erhöhte; im übrigen folgte es der Auffassung des Finanzamts. Es führte aus, daß nach der änderung des § 10 Abs. 1 Ziff. 1 EStG durch das Gesetz zur Neuordnung von Steuern vom 16. Dezember 1954 mit Wirkung ab 1. Januar 1955 auch bei bereits laufenden Leibrenten nur noch der Ertragsanteil als Sonderausgabe abzugsfähig sei. Der Bf. und sein Bruder hätten der Tante eine Leibrente geschuldet. Es sei zwar bestritten, ob auch Renten, die auf Grund letztwilliger Verfügung (unentgeltlich) geschuldet würden, unter die Neuregelung des § 10 Abs. 1 Ziff. 1 Satz 2 EStG 1955 fielen. Der Gesetzgeber habe aber bewußt nicht zwischen entgeltlich und unentgeltlich erworbenen Renten unterschieden. Er habe auch - entgegen der Auffassung des Bf. - das Grundgesetz (GG) nicht dadurch verletzt, daß er die am 1. Januar 1955 schon laufenden Leibrenten in die Neuregelung einbezogen habe. Es handle sich nicht, wie der Bf. meine, um eine rückwirkende verschärfende Besteuerung; denn die vor dem 1. Januar 1955 gezahlten Beträge würden nicht nachträglich höher besteuert.

Mit der Rb. rügt der Bf., das Finanzgericht habe zu Unrecht einen Verfassungsverstoß des Gesetzgebers verneint. Der Erblasser sei, als er die Rente für seine Ehefrau bemessen habe, davon ausgegangen, daß diese die Rente zu versteuern haben würde, während die Neffen die gezahlte Rente als Sonderausgabe absetzen könnten. Wenn der Erblasser gewußt hätte, daß seine Ehefrau später nur einen kleinen Teil der Rente als Einkommen zu versteuern haben würde, so hätte er bestimmt die Rente niedriger festgesetzt; denn er habe seiner Witwe nur ein - nach Abzug der Steuern - für den Lebensunterhalt ausreichende Rente (Nettorente) festsetzen wollen.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. ist nicht begründet.

Die gezahlte Rente ist eine unentgeltlich erworbene Versorgungsrente, wie das Finanzgericht unter Berufung auf das Urteil des Bundesfinanzhofs IV 227/55 ohne Rechtsverstoß annehmen konnte. Das Finanzgericht befindet sich in übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats, wenn es die Neuregelung der Rentenbesteuerung in § 22 Ziff. 1 a und § 10 Abs. 1 Ziff. 1 EStG 1955 auch auf durch letztwillige Verfügung unentgeltlich erworbene Leibrenten bezogen hat (vgl. Urteil des Senats VI 284/58 U vom 7. August 1959, BStBl 1959 III S. 463, Slg. Bd. 69 S. 542).

Ferner hat das Finanzgericht die übergangsbestimmungen der §§ 28 und 25 EStDV 1955, die die Bundesregierung auf Grund der ihr in § 10 Abs. 1 Ziff. 1 Satz 2, § 22 Ziff. 1 a letzter Satz EStG 1955 ordnungsmäßig erteilten gesetzlichen Ermächtigung erlassen hat, zutreffend als von den Steuergerichten anzuwendende Rechtsnormen behandelt.

Den Einwand des Bf., die Vorschriften der §§ 22 Ziff. 1 a und 10 Abs. 1 Ziff. 1 EStG 1955 verstießen insoweit gegen das GG, als auch schon laufende Renten in die Neuregelung einbezogen worden seien, hat das Finanzgericht mit Recht zurückgewiesen. Wie in der Entscheidung VI 284/58 U a. a. O. dargelegt ist, führt die zum 1. Januar 1955 wirksam gewordene Neuregelung der Rentenbesteuerung zu einer steuerlichen Belastungsverschiebung zwischen dem Schuldner und dem Gläubiger. Der Schuldner kann nicht mehr wie früher den vollen Rentenbetrag, sondern nur noch einen näher bestimmten Teil (den sogenannten Ertragsanteil) als Sonderausgabe absetzen. Der Empfänger braucht dagegen nicht mehr wie früher den vollen Rentenbezug nach § 22 EStG zu versteuern, sondern ebenfalls nur den Ertragsanteil. Der Bf. ist also durch die Neuregelung steuerlich höher belastet, während sein Tante steuerlich günstiger steht als früher. Die Behauptung des Bf., der Erblasser sei bei der Bemessung der Rente von der damaligen steuerlichen Regelung ausgegangen, nämlich, daß der Schuldner die Rente voll als Sonderausgaben absetzen könne und die Empfängerin sie voll als Einkunft zu versteuern habe, kann als richtig unterstellt werden; sie ist aber unerheblich. Dem Gesetzgeber war bekannt, daß bei den am 1. Januar 1955 laufenden Renten die steuerliche Belastungsverschiebung die Grundlage für die früheren Dispositionen der Beteiligten beeinflussen konnte. Denn offenbar wollte er gerade deshalb innerhalb einer übergangszeit die Neuregelung nicht uneingeschränkt zuungunsten der Rentenschuldner angewendet wissen. Der Gesetzgeber konnte aber trotz der steuerlichen Belastungsverschiebung die Rentenbesteuerung wie geschehen regeln, ohne gegen das GG zu verstoßen. Die Frage der verfassungsmäßigen Zulässigkeit rückwirkender verschärfender Steuergesetze braucht in diesem Zusammenhang nicht grundsätzlich geprüft zu werden (vgl. die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in "Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts" Bd. 1 S. 264; Bd. 2 S. 237; Bd. 3 S. 58; ferner die Urteile des Bundesfinanzhofs VI 26/57 U vom 7. März 1958 (BStBl 1958 III S. 223, Slg. Bd. 66 S. 577; III 158/58 S vom 17. Juli / 6. November 1959, BStBl 1960 III S. 17, 19, 20 mit näheren Angaben; VI 45/59 U vom 17. April 1959, BStBl 1959 III S. 235, Slg. Bd. 68 S. 616). Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß die Neuregelung keineswegs für die Steuerpflichtigen allgemein ungünstig war; die Gläubiger der Rentenbezüge stehen sich vielmehr wie dargelegt, besser. Im übrigen hat das Finanzgericht mit Recht hervorgehoben, daß von einer Rückwirkung im üblichen Sinne nicht die Rede sein könne, weil unter die Neuregelung nur Rentenleistungen fallen, die nach dem Inkrafttreten der gesetzlichen Neuregelung gezahlt werden. Keineswegs werden etwa vor dem 1. Januar 1955 geleistete Rentenzahlungen nachträglich steuerlich schlechter behandelt. Richtig ist allerdings, daß die nach dem 1. Januar 1955 geleisteten Zahlungen ihren Rechtsgrund in der Rentenzusage haben, die lange vor dem 1. Januar 1955 gegeben worden war. Darauf kann es aber nicht ankommen. Der Erlaß rückwirkender verschärfender Steuergesetze kann, soweit er überhaupt unzulässig ist, nur unsittlich und darum verfassungswidrig sein, wenn die Bürger, die im Vertrauen auf das geltende Gesetz einen Tatbestand verwirklicht haben, nachträglich aus diesem Tatbestand ohne zureichenden Grund höher belastet werden; denn darin kann unter Umständen eine Gefährdung der Rechtssicherheit und eine Verletzung der Rücksichtnahme liegen, die der Gesetzgeber auch bei der Durchführung der Besteuerung nach rechtsstaatlichen Anschauungen auf die geschäftlichen Interessen seiner Bürger walten lassen muß. Steuerpflichtige, die langfristige Verbindlichkeiten eingehen, können aber nicht darauf vertrauen, daß die steuerrechtliche Situation, von der sie ausgegangen sind, nicht geändert wird, solange die Verbindlichkeit schwebt. Wollte man einen so weitgehenden Vertrauensschutz für die Steuerpflichtigen bejahen, so würde das den Steuergesetzgeber in unvertretbarem Masse binden. In der Steuerpolitik müssen viele sich überschneidende Interessen und Bestrebungen aufeinander abgestimmt werden; die elastische Anpassungsfähigkeit an neue Situationen ist ein Wesenselement des Einkommensteuerrechts, das in der Gegenwart vielfach nicht mehr nur wie früher der fiskalischen Bedarfsdeckung dient, sondern auch ein wirksames Instrument der Wirtschafts- und Sozialpolitik ist (vgl. z. B. Urteile des Bundesfinanzhofs I 26/57 vom 5. August 1958, Steuerrechtsprechung in Karteiform, EStDV, § 9 Rechtsspruch 3, "Der Betrieb" 1958 S. 1379; I 100/58 U vom 14. Juli 1959, BStBl 1959 III S. 349, Slg. Bd. 69 S. 230). Es würde eine überbewertung des Individualinteresses gegenüber dem Allgemeininteresse bedeuten, wenn man den Steuergesetzgeber, sofern er im Allgemeininteresse die änderung eines Steuergesetzes für erforderlich hält, daran hindern wollte, weil dabei Gruppen von Bürgern steuerlich höher belastet werden, als sie es bei Eingehung langfristiger Verbindlichkeiten angenommen hatten. Mit solchen steuerlichen Belastungsverschiebungen müssen Steuerpflichtige, die in die Zukunft disponieren, immer rechnen. Sie können sich nur mit den Mitteln des bürgerlichen Rechts dagegen schützen. So können sie z. B., wenn sie Wert darauf legen, die Stabilität der steuerrechtlichen Regelung ausdrücklich als Vertragsgrundlage vereinbaren. Möglicherweise kann auch die änderung des Steuerrechts zwischen den Beteiligten im Einzelfall ohne besondere Vereinbarung nach den Rechtsgrundsätzen der clausula rebus sic stantibus oder des Wegfalls der Geschäftsgrundlage (vgl. Palandt, BGB, 12. Aufl., Anm. 6 zu § 242) berücksichtigt werden.

Manchmal hat auch der Gesetzgeber, wenn die änderung des Steuerrechts auf schwebende Verträge und die ihnen zugrunde liegende Kalkulation von Einfluß war, im Steuergesetz selbst einen bürgerlich-rechtlichen Ausgleich vorgeschrieben. So wurde z. B. bisher gewöhnlich bei Erhöhungen der Umsatzsteuersätze angeordnet, daß der Empfänger der Leistung aus einem bei Verkündung des änderungsgesetzes bereits abgeschlossenen Vertrag dem Leistenden einen Zuschlag zum Entgelt zu gewähren habe, der die Erhöhung der Umsatzsteuer entsprach (siehe z. B. § 19 Abs. 4 des Umsatzsteuergesetzes 1951). In anderen Fällen ist zuweilen bestimmt worden, daß eine verschärfende Neuregelung erst zu einem späteren Zeitpunkt in Kraft treten soll, um damit den Beteiligten Gelegenheit zu geben, ihre bürgerlich-rechtlichen Dispositionen rechtzeitig danach auszurichten. Zweifellos wäre es bei der Neuregelung der Rentenbesteuerung im Jahre 1954 möglich gewesen, vorzuschreiben, daß für bereits laufende Renten der vorliegenden Art die neue Regelung nicht gelten solle, sondern daß sie nach altem Recht abgewickelt werden sollten. Aber der Gesetzgeber brauchte nicht so vorzugehen. Es handelte sich um eine Frage der Steuerpolitik, deren Entscheidung die Steuergerichte nur darauf prüfen können, ob eine gegen die guten Sitten verstoßende unsachliche Willkür im Spiel ist. Davon kann bei der Neuregelung der Rentenbesteuerung keine Rede sein, auch nicht, soweit in die Neuregelung auch bereits laufende Renten einbezogen worden sind.

 

Fundstellen

Haufe-Index 409624

BStBl III 1960, 174

BFHE 1960, 464

BFHE 70, 464

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