Entscheidungsstichwort (Thema)

Antrag auf Anwendung neuen Rechts nach § 23 Abs. 1 Satz 2 GrEStG 1983 - rückwirkendes Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr 2 AO 1977

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Antrag nach § 23 Abs.1 Satz 2 GrEStG 1983 auf Anwendung des neuen Rechts kann auch nach Eintritt der Bestandskraft eines Grunderwerbsteuerbescheids, der sich auf das alte Recht stützt, noch wirksam gestellt werden.

2. Nach Eintritt der Festsetzungsverjährung --ggf. für die durch Verwirklichung eines Nacherhebungstatbestands entstandene Steuer-- ist eine wirksame Antragstellung nicht mehr möglich.

 

Orientierungssatz

Ob ein Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 zurückwirkt, beurteilt sich nach dem jeweils anzuwendenden Steuergesetz (vgl. BFH-Urteil vom 23.6.1988 IV R 84/86).

 

Normenkette

GrEStG 1983 § 23 Abs. 1 S. 2; AO 1977 §§ 47, 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2

 

Tatbestand

I. Durch notariell beurkundeten Vertrag vom 23.Dezember 1982 erwarb der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ein Wohnungseigentum. Der Kaufpreis betrug 100 000 DM.

Der Kläger beantragte Grunderwerbsteuerbefreiung nach dem inzwischen außer Kraft getretenen Gesetz zur Grunderwerbsteuerbefreiung beim Erwerb von Einfamilienhäusern, Zweifamilienhäusern und Eigentumswohnungen (GrEStEigWoG). Durch Bescheid vom 10.März 1983 stellte das beklagte Finanzamt (FA) den Kläger nach § 1 Abs.1 Nr.3 GrEStEigWoG antragsgemäß materiell vorläufig von der Steuer frei. Durch Grunderwerbsteuerbescheid vom 2.Mai 1988 erhob das FA für diesen Erwerb die Grunderwerbsteuer in Höhe von 7 000 DM nach. Durch Bescheid vom selben Tag setzte es zugleich Zinsen in Höhe von 2 100 DM gegen den Kläger fest. Mit Schreiben an das FA vom 25.Juli 1988 stellte der Kläger den Antrag nach § 23 Abs.1 Satz 2 des Grunderwerbsteuergesetzes (GrEStG 1983). Diesen Antrag lehnte das FA am 26.September 1988 ab. Das FA berief sich dabei auf den Erlaß des Finanzministers des Landes Nordrhein-Westfalen vom 14.Dezember 1982 S 4402-3-VA2. Das Einspruchsverfahren blieb erfolglos.

Mit der Klage machte der Kläger geltend, daß das GrEStG 1983 auf seinen Erwerbsvorgang anzuwenden sei.

Das FG hat der Klage stattgegeben.

Aufgrund des Antrags des Klägers sei nach § 23 Abs.1 GrEStG 1983 auf den Erwerbsvorgang insgesamt das GrEStG 1983 anzuwenden. Der Antrag nach § 23 Abs.1 Satz 2 GrEStG 1983 sei nicht fristgebunden. Die entgegenstehende Auffassung der Finanzverwaltung, der Antrag könne nach Bestandskraft des Steuerbescheids nicht mehr gestellt werden, sei nicht zutreffend. Es liege ein rückwirkendes Ereignis i.S. von § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 der Abgabenordnung (AO 1977) vor. § 175 Abs.1 Satz 2 AO 1977 eröffne eine neue Festsetzungsfrist. Die Bescheide seien nach § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 aufzuheben.

Hiergegen richtet sich die Revision des FA. Mit dieser wird Verletzung materiellen Rechts gerügt. Das FA beantragt sinngemäß, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision des FA ist unbegründet.

Das Finanzgericht (FG) hat im Ergebnis zu Recht angenommen, daß auf den Erwerb des Klägers nach § 23 Abs.1 GrEStG 1983 insgesamt das GrEStG 1983 anzuwenden und die dazu in Widerspruch stehenden Bescheide des FA, die sich auf das davor geltende Recht (Grunderwerbsteuergesetz des Landes Nordrhein-Westfalen --GrEStG-- und GrEStEigWoG) stützen, nach § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 zu ändern sind.

1. Nach § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 ist ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis). Ob ein Ereignis i.S. dieser Vorschrift zurückwirkt, beurteilt sich nach dem jeweils anzuwendenden Steuergesetz (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 23.Juni 1988 IV R 84/86, BFHE 154, 85, BStBl II 1989, 41).

Ein vor dem 1.Januar 1983 verwirklichter Erwerbsvorgang (vgl. zu diesem Begriff Senatsurteil vom 20.Dezember 1989 II R 31/88, BFHE 159, 260, BStBl II 1990, 234 m.w.N.) führte dazu, daß --vorbehaltlich etwaiger Steuerbefreiungen-- von Gesetzes wegen Grunderwerbsteuer nach dem landesrechtlichen GrEStG entstand (vgl. §§ 23 Abs.1 Satz 1, 28 GrEStG 1983). Das gesamte Steuerschuldverhältnis war nach dem damaligen landes- und bundesrechtlichen Grunderwerbsteuerrecht zu beurteilen. Eine nach Vorliegen der Voraussetzungen des § 23 Abs.1 Satz 2 GrEStG 1983 sich nachträglich ergebende Anwendung des GrEStG 1983 auf denselben Erwerbsvorgang bewirkte mithin eine völlige Umgestaltung des bereits bestehenden Steuerschuldverhältnisses (vgl. Hofmann, Kommentar zum Grunderwerbsteuergesetz, 5.Aufl., § 23 Rdnr.3). Materiell-rechtliche Voraussetzung für die Anwendung des GrEStG 1983 auf einen derartigen Erwerbsvorgang war nach § 23 Abs.1 Satz 2 GrEStG 1983 zum einen, daß er in der Zeit vom 22.Dezember bis zum Ablauf des 31.Dezember 1982 verwirklicht wurde, und zum anderen, daß der Steuerpflichtige die Anwendung des GrEStG 1983 beantragte. Die geschilderte Umgestaltung des Steuerrechtsverhältnisses war daher (auch) von dem Antrag abhängig. Hinzu kommt, daß dieser Antrag nicht nur im Besteuerungsverfahren für die durch den ursprünglichen Erwerbsvorgang entstandene Grunderwerbsteuer gestellt werden konnte, sondern auch im Besteuerungsverfahren für eine durch Verwirklichung eines Nacherhebungstatbestands (z.B. Aufgabe eines begünstigten Zwecks) ggf. viele Jahre später entstandene (Nacherhebungs-)Grunderwerbsteuer. Diese Besonderheiten führen dazu, daß der Antrag nach § 23 Abs.1 Satz 2 GrEStG 1983 nicht nur Verfahrenshandlung oder rein formelle Voraussetzung für die Berücksichtigung eines steuerlich relevanten Sachverhalts ist (vgl. BFH-Urteil vom 12.Juli 1989 X R 8/84, BFHE 157, 484, BStBl II 1989, 957), sondern selbst Merkmal des gesetzlichen Tatbestands, der die Umgestaltung des Steuerrechtsverhältnisses zur Folge hat.

Diese steuerliche Auswirkung ist notwendigerweise rückwirkend, d.h. sie hat Wirkung für die Vergangenheit i.S. von § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977. Dies ergibt sich bereits daraus, daß --wie dargelegt-- die Antragstellung auch noch in einem Nacherhebungsverfahren erfolgen kann. Wird daher ein Antrag nach § 23 Abs.1 Satz 2 GrEStG 1983 nach Erlaß eines bestandskräftigen Grunderwerbsteuerbescheids, der sich auf das alte Grunderwerbsteuerrecht stützt, nachträglich gestellt, so ist dieser Bescheid --wenn die sonstigen Voraussetzungen vorliegen-- nach § 175 Abs.1 Nr.2 AO 1977 aufzuheben oder zu ändern (vgl. BFH-Urteil vom 12.Juli 1989 X R 8/84, BFHE 157, 484, BStBl II 1989, 957).

2. Diese Folge (Aufhebung oder Änderung des Grunderwerbsteuerbescheids) tritt jedoch nur ein, wenn der Antrag nach § 23 Abs.1 Satz 2 GrEStG 1983 zulässig und wirksam gestellt worden ist. Entgegen der Auffassung des FA ist auch ein Antrag nicht verspätet, der nach Eintritt der formellen Bestandskraft eines auf das alte Recht gestützten Grunderwerbsteuerbescheids gestellt wird. Eine derartige zeitliche Beschränkung des Antragsrechts ist nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht vorgesehen. Sie läßt sich auch nicht durch Auslegung dem Gesetz entnehmen. Selbst wenn ein allgemeiner (Auslegungs-)Grundsatz bestünde, daß im Steuerrecht die Ausübung (vom Wortlaut des Gesetzes her) nicht fristgebundener Anträge und Wahlrechte nur bis zur Bestandskraft eines Steuerbescheids möglich ist (vgl. BFH in BFHE 157, 484, BStBl II 1989, 957, 959) könnte dies für den hier in Frage stehenden Antrag nach § 23 Abs.1 Satz 2 GrEStG 1983 nicht angenommen werden. Das ergibt sich aus Sinn und Zweck dieser Vorschrift. Der Gesetzgeber wollte erreichen, daß die Steuerpflichtigen in diesem nur aus wenigen Tagen bestehenden Übergangszeitraum nach dem jeweils günstigeren Recht besteuert werden. Eine Beschränkung des Antragsrechts auf die Zeit bis zur Bestandskraft eines Steuerbescheids, verbunden mit der Schwierigkeit, auf welchen Steuerbescheid (für den ursprünglichen Erwerbsvorgang oder für einen Nacherhebungstatbestand) dabei abzustellen wäre, hätte angesichts der Unübersichtlichkeit von altem Landes-und Bundesrecht einerseits und neuem Bundesrecht andererseits in vielen Fällen dem Steuerpflichtigen die Berufung auf die für ihn günstigere gesetzliche Regelung verwehrt. Da dies der eigentlichen Intention des Gesetzgebers widerspricht, ist nicht anzunehmen, daß er diese Beschränkung (unausgesprochen) gewollt hat.

Eine (zeitliche) Beschränkung des Antragsrechts nach § 23 Abs.1 Satz 2 GrEStG 1983 ergibt sich jedoch daraus, daß dieser Antrag zu einer Umgestaltung des Steuerschuldverhältnisses führt. Dies setzt naturgemäß voraus, daß ein Steuerschuldverhältnis (noch) besteht, was nach Eintritt der Festsetzungsverjährung nicht mehr der Fall ist (§ 47 AO 1977). Der Antrag nach § 23 Abs.1 Satz 2 GrEStG 1983 ist daher nur bis zum Eintritt der Festsetzungsverjährung möglich. Dabei ist allerdings ggf. auf die durch Verwirklichung eines Nacherhebungstatbestands entstandene Steuer abzustellen. Nach Erlöschen des Steueranspruchs --ggf. auch des Nacherhebungsanspruchs-- besteht kein Steuerschuldverhältnis mehr, das durch einen Antrag nach § 23 Abs.1 Satz 2 GrEStG 1983 umgestaltet werden könnte. Ein gleichwohl gestellter Antrag hat keine steuerliche Wirkung mehr, ein Ereignis i.S. von § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 liegt mithin nicht vor. Dies hat zur Folge, daß auch die Wirkung des § 175 Abs.1 Satz 2 AO 1977 nicht eintritt.

3. Im Streitfall war zum Zeitpunkt der Antragstellung für den auf § 3 Abs.1 GrEStEigWoG i.V.m. dem damals geltenden GrEStG gestützten Steueranspruch die Festsetzungsfrist noch nicht abgelaufen. Die Bestandskraft des Bescheids stand der Antragstellung --wie dargelegt-- nicht entgegen. Da der Erwerbsvorgang des Klägers in dem Übergangszeitraum nach § 23 Abs.1 Satz 2 GrEStG 1983 verwirklicht wurde, war auf diesen das neue Recht anzuwenden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 65010

BFH/NV 1994, 28

BStBl II 1994, 302

BFHE 173, 226

BFHE 1994, 226

BB 1994, 420

BB 1994, 562

BB 1994, 562 (LT)

DB 1994, 766 (L)

DStZ 1994, 222 (KT)

HFR 1994, 337-338 (LT)

StE 1994, 129 (K)

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