Leitsatz (amtlich)

1. Wird im zweiten Rechtsgang eine Änderung des Sachverhalts festgestellt, so entfällt dadurch die Bindung an die rechtliche Beurteilung des BFH im ersten Rechtsgang nicht, wenn die Änderung Umstände betrifft, die nicht entscheidungserheblich waren.

2. Eine Rückstellung für Kundendienstverpflichtungen (Freiinspektionen und verbilligte entgeltliche Inspektionen) eines Kraftfahrzeughändlers ist nicht zulässig, wenn diese Verpflichtungen bereits im Händlervertrag übernommen worden sind und ein wirtschaftlicher Zusammenhang mit dem Verkauf der einzelnen Kraftfahrzeuge in den Hintergrund tritt. Das ist im allgemeinen anzunehmen, wenn nach der im Händlervertrag getroffenen Regelung der Kundendienst von jedem der Vertriebsorganisation des Kraftfahrzeugherstellers angehörenden Händler ohne Rücksicht darauf geleistet werden muß, bei welchem Händler der Kunde sein Kraftfahrzeug gekauft hat.

 

Normenkette

FGO § 126 Abs. 5; KStG § 6 Abs. 1; EStG § 4 Abs. 1, § 5

 

Tatbestand

Streitig ist die Bindungswirkung des zurückverweisenden Urteils des BFH I 138/62 vom 4. Dezember 1963 (HFR 1964, 196) für den zweiten Rechtsgang.

Die Revisionsklägerin (Steuerpflichtige) ist Großhändlerin für X-Kraftfahrzeuge. Im ersten Rechtsgang hatten der Revisionsbeklagte (FA) und das FG die Bildung einer Rückstellung für zukünftige Belastungen durch den entgeltlichen Kundendienst nicht anerkannt, sie aber für zukünftige Belastungen durch die sog. Freiinspektionen zugelassen. Der BFH war im Vorbescheid den Vorinstanzen insoweit gefolgt. In dem nachfolgenden Urteil versagte er jedoch in Anlehnung an das BFH-Urteil IV 105/63 S vom 22. August 1963 (BFH 77, 655, BStBl III 1963, 560) auch die Rückstellung für die Freiinspektionen. Das Urteil hob die Vorentscheidungen auf und verwies die Sache an das FA zur erneuten Entscheidung zurück. Die Steuerpflichtige legte gegen das Urteil Verfassungsbeschwerde und gegen die erneute Einspruchsentscheidung des FA Berufung ein, beides ohne Erfolg.

Mit der Berufung beantragte die Steuerpflichtige lediglich noch, die Rückstellung für die Freiinspektionen anzuerkennen. Eine Bindung an die entgegengesetzte rechtliche Beurteilung im BFH-Urteil nach § 296 Abs. 4 AO a. F. bestehe nicht. Die Rückstellung sei im ersten Rechtsgang nicht Gegenstand des Rechtsstreits gewesen, und die Steuerpflichtige habe im Revisionsverfahren keine Gelegenheit gehabt, zu ihrer Zulässigkeit Stellung zu nehmen. Außerdem sei der BFH bei den Freiinspektionen von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen.

Das FG hat festgestellt, daß der vom BFH zugrunde gelegte Sachverhalt insoweit auf die Freiinspektionen nicht zutreffe, als die Steuerpflichtige mit den Kosten der Freiinspektionen für alle von ihr verkauften neuen Fahrzeuge und nur für diese belastet sei. Denn sie führe die Freiinspektionen selbst aus oder sie leiste den ausführenden fremden Werkstätten eine Vergütung, während sie andererseits für die von ihr durchgeführten Freiinspektionen bei Fahrzeugen, die sie nicht verkauft habe, von den Verkäufern eine Vergütung erhalte. Das FG hat sich gleichwohl an die Rechtsauffassung des BFH, daß die Rückstellung für Freiinspektionen unzulässig sei, gebunden erachtet, weil es bei der Entscheidung des BFH auf diesen Sachverhaltsunterschied nicht angekommen sei.

Mit der als Revision zu behandelnden Rechtsbeschwerde rügt die Steuerpflichtige einen wesentlichen Verfahrensmangel und unrichtige Rechtsanwendung.

Den Verfahrensmangel sieht sie in der Versagung des rechtlichen Gehörs. Die neue Sachverhaltsfeststellung habe das FG hinsichtlich der Rückstellung für Freiinspektionen von der Bindung nach § 296 Abs. 4 AO a. F. befreit. Es habe deshalb über die Zulässigkeit dieser Rückstellung in freier Entscheidung befinden müssen. Dazu sei um so mehr Anlaß gewesen, als auch nach seiner Meinung der BFH sein Urteil erlassen habe, ohne der Steuerpflichtigen nach dem Hinweis auf die mögliche Verböserung Gelegenheit zur Ergänzung des Sachvortrags zu geben. Durch die vom FG angenommene Bindungswirkung habe die Steuerpflichtige eine Tatsacheninstanz verloren. Der Anspruch auf rechtliches Gehör habe nur Sinn, wenn das Gericht frei entscheide.

Aufgrund des neuen Sachverhalts sei auch der BFH nicht mehr an sein im ersten Rechtsgang erlassenes Urteil gebunden. Das Urteil des BFH IV 105/63 S (a. a. O.) hindere keine abweichende Entscheidung, weil es sich um die Beurteilung eines Sachverhalts, nicht um eine Rechtsfrage handele. Sollte sich der Senat an das Urteil des IV. Senats gebunden fühlen, werde beantragt, den Großen Senat anzurufen.

Die Steuerpflichtige weist schließlich noch darauf hin, daß ein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen den Urteilen des I. und IV. Senats einerseits und der Rechtsprechung des VII. Senats (Urteile VII 74/58 S vom 15. Oktober 1959, BFH 69, 630, BStBl III 1959, 495 und VII 67/62 S vom 25. Mai 1965, BFH 83, 73, BStBl III 1965, 526) zur wertzollrechtlichen Behandlung der Freiinspektionen andererseits bestehe. Zwei Hauptzollämter verträten bei der Einfuhr amerikanischer Kraftfahrzeuge den Standpunkt, der kostenlose Kundendienst stelle eine beim Erwerb der Ware zusätzlich übernommene Leistung des Händlers dar, die mit den einzelnen Kaufgeschäften in unmittelbarem rechtlichen Zusammenhang stehe. Es verstoße gegen Treu und Glauben, wenn die Finanzverwaltung derselben Steuerpflichtigen gegenüber gleiche Sachverhalte für verschiedene Abgaben nicht gleich beurteile. Der Auffassung des VII. Senats würde ertragsteuerlich entsprechen, die Verpflichtung zur Freiinspektion als noch geschuldete zusätzliche Anschaffungskosten für die eingekauften Fahrzeuge zu betrachten.

Die Steuerpflichtige beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben, soweit die Kosten der Freiinspektionen nicht anerkannt worden sind. Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision ist unbegründet.

Das FG war gemäß § 296 Abs. 4 AO a. F. (ab 1. Januar 1966 § 126 Abs. 5 FGO) an die rechtliche Beurteilung durch das BFH-Urteil I 138/62 gebunden.

Die gesetzlich vorgeschriebene Bindungswirkung entfällt allerdings, wenn im zweiten Rechtsgang neue Tatsachen oder Beweismittel hervorgetreten sind, so daß die Vorinstanz über einen anderen Sachverhalt zu entscheiden hat, als er der Beurteilung durch den BFH unterlag (vgl. z. B. Urteile des BFH VI 304/64 U vom 23. April 1965, BFH 82, 666, BStBl III 1965, 487 und I R 70/67 vom 21. Februar 1968, BFH 91, 222, BStBl II 1968, 279). Dies hat das FG nicht verkannt. Wie das FG vermag aber auch der Senat der Steuerpflichtigen nicht zu folgen, wenn sie meint, daß diese Voraussetzung im Streitfall gegeben sei. Die Steuerpflichtige stützt sich darauf, daß der BFH bei den entgeltlichen Inspektionen und bei den Freiinspektionen insoweit eine gleiche Sachlage angenommen hat, als die Steuerpflichtige die Kosten einerseits nicht für alle von ihr verkauften Fahrzeuge zu tragen hat, andererseits aber auch für einen Teil der Fahrzeuge, die von anderen Händlern verkauft worden sind. Nach den Feststellungen des FG trifft diese Annahme nur für die entgeltlichen Inspektionen zu, während die Kosten der Freiinspektionen im Ergebnis stets dem Händler zur Last fallen, der den Wagen verkauft hat. Dieser Unterschied im Sachverhalt läßt die Bindungswirkung indes unberührt. Eine Änderung des Sachverhalts im zweiten Rechtsgang kann die Bindung an die rechtliche Beurteilung des BFH im ersten Rechtsgang nur dann aufheben, wenn sie Umstände des vom BFH beurteilten Sachverhalts betrifft, die entscheidungserheblich waren. Diese Voraussetzung liegt, wie die Vorinstanz zutreffend erkannt hat, im Streitfall nicht vor.

Der BFH hat im Grundsatzurteil IV 105/63 S (a. a. O.) für den VW-Händler und den VW-Kundendienst ausgeführt, daß die entscheidende rechtliche und wirtschaftliche Grundlage für die Vornahme künftiger unentgeltlicher wie entgeltlicher Kundendienstleistungen gegenüber dem Käufer eines neuen Wagens nicht der einzelne Kaufvertrag, sondern der Händlervertrag sei. Dabei wurde für wichtig gehalten, daß jede autorisierte VW-Werkstatt die Kundendienstleistungen zu den vorgesehenen Preisen ausführt, unabhängig davon, wo der Kunde den Wagen gekauft hat, und daß diese Leistungen von den Kunden in großem Umfang auch tatsächlich dort in Anspruch genommen werden, wo sie ihren Wagen nicht gekauft haben. Der Kundendienst sei deshalb im vollen Umfang eine sich in erster Linie aus dem Händlervertrag ergebende Verpflichtung, die sich auf die Vornahme laufender, dem Gesamtumsatz zugute kommender und dem Werbeaufwand ähnlicher Maßnahmen beziehe und eine Gemeinschaftsaufgabe der Händlerorganisation nicht zuletzt in ihrem eigenen Interesse darstelle. Er stehe in so engem wirtschaftlichen Zusammenhang mit dem Händlervertrag, daß ein daneben in bestimmten Fällen denkbarer wirtschaftlicher Zusammenhang mit dem Wagenverkauf in den Hintergrund trete und für die steuerliche Beurteilung keine Bedeutung habe. Das müsse für alle Kundendienstleistungen gelten unabhängig davon, ob sie für sich allein betrachtet zu einem die Selbstkosten nicht deckenden Preis oder unentgeltlich durchgeführt würden.

Das Urteil I 138/62 hat sich ausdrücklich an die Grundsatzentscheidung IV 105/63 S (a. a. O.) angelehnt und dargelegt, daß bei Anwendung der dort entwickelten Rechtsgrundsätze auch die Kundendienstverpflichtungen der Steuerpflichtigen in erster Linie auf dem Händlervertrag beruhen. In dem Zusammenhang ist der Senat dem Vortrag der Steuerpflichtigen, sie trage mit dem Verkauf die Last aller Inspektionen, mit dem Hinweis begegnet, daß der Käufer den Kundendienst überall durchführen lassen könne; die Vermutung liege deshalb nahe, daß der Kunde bei Reisen und dergleichen die Inspektionen gerade dort ausführen lasse, wo er sich zur Zeit der Notwendigkeit der Inspektion aufhalte. Aus dieser Bemerkung kann nicht geschlossen werden, die Freiinspektionen unterlägen einer anderen Beurteilung als die übrigen Inspektionen, weil die Kostentragung unterschiedlich geregelt ist. Wie das Urteil IV 105/63 S (a. a. O.) zur Frage der Freiinspektionen ausführt, ist die Höhe der Kosten, die der Steuerpflichtigen aus dem Kundendienst erwachsen, ohne wesentliche Bedeutung. Die Frage, in welchem Umfang der Steuerpflichtigen durch den Kundendienst Kosten gerade für die von ihr verkauften Kraftfahrzeuge entstehen, hat auch im Streitfall für die Zuordnung zum Händlervertrag keine Rolle gespielt. Der enge Zusammenhang zwischen den Freiinspektionen und dem Händlervertrag ist vielmehr daraus gefolgert worden, daß die Verpflichtung zum Kundendienst (einschließlich der Freiinspektionen) bereits im Händlervertrag übernommen worden ist und daß nach der dort getroffenen Regelung der Kundendienst von jedem Händler ohne Rücksicht darauf geleistet werden muß und geleistet wird, bei welchem Händler der Kunde seinen Wagen gekauft hat. Soweit besteht kein Unterschied zwischen der Freiinspektion und der verbilligten entgeltlichen Inspektion, so daß keine Veranlassung zu einer unterschiedlichen Behandlung vorliegt.

Zu Unrecht beruft sich die Steuerpflichtige auf das Urteil des BFH IV 301/64 U vom 2. Dezember 1965 (BFH 84, 396, BStBl III 1966, 144). In diesem Urteil hat der IV. Senat ausdrücklich an den Grundsätzen seines Urteils IV 105/63 S festgehalten. Gleichzeitig wurde eine Rückstellung für eine Ausgleichsvergütung, die den Charakter einer Entschädigung für Gebietsverletzungen besaß, abgelehnt. Aus der hierzu getroffenen Feststellung, daß es sich nicht, wie der Steuerpflichtige behauptete, um einen Ausgleich für Mehrkosten des Kundendienstes handele, kann nicht entnommen werden, daß für einen solchen Ausgleich eine Rückstellung zuzulassen wäre.

Ob die Bindung entfällt, wenn einem Steuerpflichtigen im Revisionsverfahren des ersten Rechtsgangs kein ausreichendes rechtliches Gehör gewährt worden ist, kann dahingestellt bleiben, weil ein solcher Verfahrensmangel im Streitfall nicht vorgekommen ist. Der Vorwurf der Steuerpflichtigen, sie habe nach der mündlichen Verhandlung keine den Sachverhalt ergänzenden Ausführungen mehr machen können, geht fehl. Ihr Widerspruch gegen die angekündigte Möglichkeit einer Verböserung, weil sie noch ergänzende Ausführungen zum Sachverhalt zu machen habe, war rechtlich unbeachtlich. Abgesehen davon, daß in einem Revisionsverfahren für neues tatsächliches Vorbringen kein Raum ist, stellte das Urteil auf keinen anderen Sachverhalt ab als der vorangegangene Vorbescheid. Lediglich die rechtliche Würdigung änderte sich. Auf die Möglichkeit dieser Änderung und auf die damit verbundene Verböserung war die Steuerpflichtige ausdrücklich hingewiesen worden. Ein Vertagungsantrag wurde nicht gestellt. Die Steuerpflichtige erhielt aber Gelegenheit zu neuem tatsächlichen Vorbringen sowohl gegenüber dem FA wie dem FG dadurch, daß der Senat den Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung zurückverwies. Hätte das neue tatsächliche Vorbringen der Steuerpflichtigen (Kostenausgleich bei Freiinspektionen) Umstände betroffen, die für das Urteil I 138/62 entscheidungserheblich waren, so wäre die Bindung aus § 296 Abs. 4 AO a. F. entfallen und das FG hätte frei zu entscheiden gehabt. Um solche Umstände hat es sich aber, wie dargelegt, nicht gehandelt.

Wie die Vorinstanz ist auch der erkennende Senat an seine Entscheidung im ersten Rechtsgang gebunden (vgl. z. B. Urteile des BFH VI 98/61 S vom 7. Dezember 1962, BFH 76, 363, BStBl III 1963, 134; V 113/65 vom 17. November 1966, BFH 87, 231, BStBl III 1967, 103). Da schon deshalb nicht anders als im ersten Rechtsgang entschieden werden kann, besteht keine Möglichkeit, den Großen Senat anzurufen oder zu der von der Steuerpflichtigen zitierten Rechtsprechung des VII. Senats in Wertzollsachen Stellung zu nehmen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 68415

BStBl II 1969, 194

BFHE 1969, 197

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