Entscheidungsstichwort (Thema)

Nachträgliche Änderung eines bestandskräftigen Steuerbescheids zugunsten des Steuerpflichtigen?

 

Leitsatz (NV)

Ein bestandskräftiger Steuerbescheid, der auf geschätzten Besteuerungsgrundlagen beruht, kann nicht nachträglich aufgrund einer verspätet abgegebenen Steuererklärung zugunsten des Steuerpflichtigen geändert werden, wenn den Steuerpflichtigen an der verspäteten Abgabe der Steuererklärung ein grobes Verschulden trifft.

 

Normenkette

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2

 

Verfahrensgang

FG Berlin

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) begehrt die Änderung des aufgrund geschätzter Besteuerungsgrundlagen ergangenen Einkommensteuerbescheids 1977. Er ist im Mai 1977 von A nach Berlin gezogen; hier war er als beamteter Arzt und selbständiger Gutachter tätig. Da der Kläger keine Einkommensteuererklärung abgab, schätzte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) seine Einkünfte aus selbständiger Arbeit auf 2 000 DM, die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit auf 57 761 DM und aus Vermietung und Verpachtung auf null DM und setzte dementsprechend die Einkommensteuer 1977 fest. Der Bescheid wurde am 27. Juli 1979 durch Niederlegung bei der Postanstalt zugestellt. Den hiergegen gerichteten Einspruch wies das FA als verspätet zurück; Klage und Revision blieben erfolglos (Aktenzeichen des Bundesfinanzhofs - BFH -: IV R 20/81).Anfang 1980 reichte der Kläger seine Steuererklärung ein; daraus ergaben sich geringere Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit und ein Verlust aus Vermietung und Verpachtung. Der Kläger verlangte daraufhin, die Einkommensteuerveranlagung 1977 im Hinblick hierauf gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zu seinen Gunsten zu ändern. Das FA lehnte den Antrag ab; auch die Klage blieb erfolglos. Die Entscheidung des Finanzgerichts (FG) ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1985, 53 abgedruckt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

1. Das FA konnte den Einkommensteuerbescheid 1977 entgegen der Revisionsauffassung nicht gemäß § 172 Abs. 1 Nr. 2 a AO 1977 ändern. Danach kann ein Steuerbescheid auf Antrag des Steuerpflichtigen nur dann zu seinen Gunsten geändert werden, wenn er noch nicht unanfechtbar ist. Der Senat hat durch Urteil vom 11. August 1983 IV R 20/81 entschieden, daß der Steuerbescheid dem Kläger wirksam durch Niederlegung bei der Postanstalt zugestellt worden ist und daß der Kläger die damit in Lauf gesetzte Einspruchsfrist versäumt hat. Der Senat hat angenommen, daß sich aus dem Vermerk der Steuernummer auf dem zugestellten Umschlag und aus dem Zusatz ,,ESt 1977" ergebe, daß der Brief den Einkommensteuerbescheid enthalten habe. Der Kläger meint, daß dies in Widerspruch zu einem Urteil des I. Senats des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 28. März 1984 I R 192/80 (nicht veröffentlicht) stehe, in dem ausgesprochen sei, daß der Hinweis auf Steuerart und Kalenderjahr das zugestellte Schriftstück nicht hinreichend identifiziere.

Hierauf kann nicht eingegangen werden. Das Urteil des Senats ist rechtskräftig. Es bindet die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist (§ 110 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -) und hindert auch den Senat an einer abweichenden Entscheidung. Im Urteil ist die Unanfechtbarkeit des Steuerbescheids 1977 festgestellt worden; sie kann von den Beteiligten nicht mehr in Frage gestellt werden. Dies gilt unabhängig von der vom Kläger aufgeworfenen Frage, wie weit bei einer sachlichen Entscheidung über den Streitgegenstand die Bindungswirkung des Urteils reicht.

2. Der Kläger kann eine Änderung des Steuerbescheids auch nicht aufgrund von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 erreichen. Danach ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit Tatsachen nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Besteuerung führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen erst nachträglich bekannt werden.

Nach Meinung des FG kann von einer neuen Tatsache nicht gesprochen werden, wenn die Höhe der zuvor geschätzten Einkünfte aufgrund einer nachgereichten Steuererklärung bekannt wird. Der Senat braucht dem nicht nachzugehen. Denn das FG hat das Berichtigungsbegehren des Klägers auch deshalb zurückgewiesen, weil den Kläger ein grobes Verschulden an der verspäteten Abgabe der Steuererklärung und damit am Bekanntwerden der Höhe seiner Einkünfte trifft. Diese Ausführungen halten einer revisionsrichterlichen Überprüfung stand.

Als grobes Verschulden ist dem Kläger Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zuzurechnen. Grobe Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige die ihm persönlich zuzumutende Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße verletzt hat (BFH-Urteil vom 3. Februar 1983 IV R 153/80, BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324). Ob dies zutrifft, ist im wesentlichen Tatfrage. In der Revisionsinstanz können die Feststellungen des FG nur darauf überprüft werden, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit und die aus ihm abzuleitenden Sorgfaltspflichten richtig erkannt worden sind und ob die Würdigung der Verhältnisse hinsichtlich des vorzuwerfenden Verschuldens den Denkgesetzen und Erfahrungssätzen entspricht (Urteil in BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324; Entscheidung vom 28. Juni 1983 VIII R 37/81, BFHE 139, 8, BStBl II 1984, 2).

Im Streitfall hat das FG ein grobes Verschulden darin gesehen, daß der Kläger trotz Aufforderung seitens des FA und der Zusage, in Kürze eine Steuererklärung abzugeben, eine solche Erklärung nicht eingereicht hat, obwohl ihm die erforderlichen Unterlagen zur Verfügung gestanden hätten. Da der Kläger, wie das FG hervorgehoben hat, bereits früher zur Einkommensteuer veranlagt worden ist, er steuerlich beraten und beruflich erfahren war, andererseits keine Entschuldigungsgründe für seine Säumnis angeführt hat, war der Schluß gerechtfertigt, daß er seine Mitwirkungspflicht bewußt vernachlässigt und grob fahrlässig gehandelt hat. Das FG hat zusätzlich berücksichtigt, daß der Kläger auch innerhalb der Einspruchs- und Wiedereinsetzungsfrist, also nach Erlaß des Einkommensteuerbescheids, zunächst keine Einkommensteuererklärung abgegeben hat; ob diese Umstände bei der Beurteilung mit herangezogen werden können, kann dahinstehen, da bereits die sonstigen Feststellungen des FG den Schluß auf ein grob fahrlässiges Verhalten des Klägers rechtfertigen.

Der Auffassung der Revision, es könne nicht auf das Verhalten bis zum Erlaß des Schätzungsbescheides abgestellt werden, kann nicht zugestimmt werden. Nicht entschuldbare Untätigkeit des Steuerpflichtigen, die zum Erlaß eines Schätzungsbescheids geführt hat, der nunmehr abgeändert werden soll, ist vielmehr einer der Hauptanwendungsfälle, in denen das grobe Verschulden des Steuerpflichtigen einer Änderung des Steuerbescheids zu seinen Gunsten entgegensteht. Würde die Auffassung des Klägers zutreffen, könnte der Steuerpflichtige jederzeit die Änderung der schätzungsweisen Veranlagung erreichen und brauchte aus der Vernachlässigung seiner steuerlichen Erklärungspflicht keinen Nachteil zu besorgen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 414041

BFH/NV 1986, 3

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