Entscheidungsstichwort (Thema)

Sonstiges Verfahrensrecht/Abgabenordnung Berufsrecht

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Frage der Verwirkung von Anfechtungsrechten.

Zu den Voraussetzungen einer vorläufigen Zurücknahme der Erlaubnis zur Hilfeleistung in Steuersachen.

 

Normenkette

GG Art. 19 Abs. 4; FGO §§ 33, 102; AO § 107a; StBerG § 14; AO §§ 237, 246/3, § 237/2, § 304

 

Tatbestand

Das Finanzamt hatte den Beschwerdeführer (Bf.) 1941 als Helfer in Steuersachen zugelassen. 1947 hatte es erfahren, daß gegen den Bf. ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren wegen Untreue, Unterschlagung und falscher Anschuldigung schwebte. Es hat daraufhin mit der den Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens bildenden Verfügung vom 22. Januar 1948 "für die Dauer des schwebenden Strafverfahrens" die Erlaubnis zur geschäftsmäßigen Hilfeleistung in Steuersachen zurückgenommen. Gegen diese Verfügung hat der Bf. mit Schreiben vom 13. Februar 1948 Beschwerde eingelegt, die das Finanzamt dem ... Minister der Finanzen als der damals zuständigen nächstoberen Behörde zur Entscheidung vorgelegt hat.

Das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren gegen den Bf. ist am 7. September 1948 eingestellt worden. Mit Schreiben vom 6. April 1949 hat der Bf. dem Finanzamt angezeigt, daß er seine Tätigkeit als Helfer in Steuersachen wieder ausübe, worauf ihm das Finanzamt mit Schreiben vom 13. Mai 1949 mitgeteilt hat, daß es ihn in die "Liste der für A. zugelassenen Helfer in Steuersachen aufgenommen" habe.

Nachdem der Bf. wiederholt gerügt hatte, daß über seine Beschwerde noch nicht entschieden worden sei, hat er am 4. Mai 1951 dem ... Minister der Finanzen geschrieben, er fühle sich durch die Verfügung vom 22. Januar 1948 ungerecht behandelt, durch sie sei ihm ein Verdienstausfall von rund ..... DM entstanden, er sei jedoch bereit, sich "vergleichsweise zu verständigen". Darauf hat ihm der ... Minister der Finanzen in einem Schreiben vom 11. Juli 1951 wie folgt geantwortet:

"Nach § 107 a Abs. 6 der Reichsabgabenordnung kann das Finanzamt die erteilte Erlaubnis zur Hilfeleistung in Steuersachen jederzeit zurücknehmen, auch wenn dies bei Erteilung der Erlaubnis nicht vorbehalten ist. Das Finanzamt muß deshalb auch befugt sein, eine Erlaubnis nur vorübergehend zu widerrufen. Daß der Widerruf mißbräuchlich erfolgt ist, vermag ich nicht anzuerkennen. Im Hinblick auf das schwebende Steuerstrafverfahren halte ich es nicht für angängig, Ihrer Anregung auf Verhandlungen zu entsprechen.

Ich bedauere, Ihnen einen anderen Bescheid nicht geben zu können."

Das in diesem Schreiben erwähnte Steuerstrafverfahren war am 2. Juni 1950 gegen den Bf. wegen Verdachts der Steuerhinterziehung eingeleitet und am 9. Oktober 1954 auf Grund des Straffreiheitsgesetzes 1954 eingestellt worden.

Mit Schreiben vom 13. Dezember 1954 hat der Bf. Berufung zum Finanzgericht eingelegt und geltend gemacht, er habe von den Behörden der Finanzverwaltung keine förmliche Entscheidung über seine Beschwerde vom 13. Februar 1948 erreichen können. Er hat beantragt, die angefochtene Verfügung aufzuheben und festzustellen, daß der Staat verpflichtet sei, ihm den durch die Verfügung entstandenen Schaden zu ersetzen. Das Finanzgericht hat die Berufung als unzulässig verworfen. Es hat den Standpunkt vertreten, der Bf. habe sein Recht, das Finanzgericht anzurufen, durch Zeitablauf verwirkt; im übrigen habe der Bf. den Verwaltungsweg nicht ausgeschöpft, das Schreiben des ... Ministers der Finanzen vom 11. Juli 1951 genüge nicht den Erfordernissen einer Beschwerdeentscheidung.

Mit der Rechtsbeschwerde (Rb.) rügt der Bf. die unrichtige Anwendung bestehenden Rechts, Verstoß wider den klaren Inhalt der Akten und wesentliche Verfahrensmängel.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung der Sache an das Finanzgericht.

Entgegen der Auffassung des Finanzgerichts war die Berufung des Bf. zulässig.

Die Berufung an das Finanzgericht ist unter anderem gegeben gegen Beschwerdeentscheidungen der Verwaltungsbehörden in Ermessenssachen (Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland - GG - in Verbindung mit Abschn. 6 des Gutachtens des Bundesfinanzhofs Gr.S. D 1/51 S vom 17. April 1951, Slg. Bd. 55 S. 277, Bundessteuerblatt - BStBl - 1951 III S. 107, 109). Eine Beschwerdeentscheidung in diesem Sinne liegt nach Ansicht des Senats - in Abweichung von der Auffassung des Finanzgerichts - in dem Schreiben des ... Ministers der Finanzen an den Bf. vom 11. Juli 1951. In ihm hat der ... Minister der Finanzen die Rechtsvorschrift bezeichnet, auf die sich die angefochtene Ermessensentscheidung gründet und nach - wenn auch kurzen - Rechtsausführungen erklärt, daß er einen Ermessensmißbrauch nicht für gegeben halte. Damit hat der ... Minister der Finanzen sachlich über die Beschwerde entschieden. Auch nach der dem Bf. gegenüber später wiederholt zum Ausdruck gebrachten Auffassung des .... Ministers der Finanzen stellte sein Schreiben vom 11. Juli 1951 eine Beschwerdeentscheidung im Rechtssinne dar. In Zweifelsfällen wird der Beurteilung der Dienststelle, welche die Verfügung erlassen hat, eine maßgebende Bedeutung für die rechtliche Würdigung zukommen müssen, es sei denn, daß zwingende Gründe zu einem anderen Ergebnis führen. überdies dürfen zur Vermeidung eines übertriebenen Formalismus die Anforderungen, die an das Vorliegen einer Beschwerdeentscheidung als Voraussetzung für die Anrufung der Gerichte auf Grund des Art. 19 Abs. 4 GG gestellt werden, nicht überspannt werden. Es ist daher unerheblich, wenn das eine oder andere typische Merkmal einer Beschwerdeentscheidung, wie zum Beispiel die Rechtsmittelbelehrung, fehlt, wenn nur - wie im Streitfall - nach dem Gesamtbild der Wille, eine Beschwerdeentscheidung zu erlassen, auch objektiv erkennbar in Erscheinung getreten ist.

Da im Streitfall der Beschwerdeentscheidung keine Rechtsmittelbelehrung beigefügt war, begann die Rechtsmittelfrist nicht zu laufen, so daß die Beschwerdeentscheidung nicht in Rechtskraft erwachsen konnte (§ 258 Abs. 1 Satz 2, § 246 Abs. 3 der Reichsabgabenordnung - AO -; vgl. ferner Urteil des Bundesfinanzhofs II 235/53 S vom 1. Dezember 1954, Slg. Bd. 60 S. 68, 72, BStBl 1955 III S. 26, 27).

Das Recht des Bf., das Finanzgericht anzurufen, war auch nicht durch Zeitablauf verwirkt. Das Finanzgericht ist zwar richtig davon ausgegangen, daß ein Anfechtungsrecht verwirkt werden kann (vgl. unter anderem Urteil des Bundesfinanzhofs IV 155/56 U vom 7. November 1957 - BStBl 1958 III S. 46, 47 -, Urteile des Bundesverwaltungsgerichts V C 49/54 vom 17. Dezember 1954 - Deutsche Steuer - Zeitung - B - 1955 S. 117, 118 -, V C 44/54 vom 1. März 1956 - Neue Juristische Wochenschrift 1956 S. 1213 -, Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts IV C 237/56, IV B 160/56 vom 28. Mai 1957 - Neue Juristische Wochenschrift 1957 S. 1292, Stich, Deutsches Verwaltungsblatt 1956 S. 325 ff. -); es hat aber die Voraussetzungen hierfür zu Unrecht für gegeben erachtet. Der Rechtsgedanke der Verwirkung ist ein Ausfluß des Grundsatzes von Treu und Glauben, der gebietet, daß der Steuerpflichtige zu seinem Verhalten steht und sich hierzu nicht in Widerspruch setzt. Daraus folgt, daß ein Steuerpflichtiger oder ein sonst betroffener Staatsbürger sein Anfechtungsrecht nicht durch bloßen Zeitablauf als solchen, sondern nur dann verwirkt, wenn er sich so verhält, daß bei der Verwaltungsbehörde zwangsläufig der Anschein erweckt werden muß, er erkenne den Verwaltungsakt als rechtsbeständig an, so daß die dennoch erfolgende spätere Anfechtung im Widerspruch zu seinem früheren Verhalten steht und damit gegen Treu und Glauben verstößt. Aus dem Verhalten des Bf. konnte der ... Minister der Finanzen nicht schließen, daß der Bf. die Verfügung des Finanzamts vom 22. Januar 1948 als rechtsbeständig anerkenne. Der Bf. hat zwar das Finanzgericht erst angerufen, nachdem über drei Jahre seit dem Erlaß der Beschwerdeentscheidung verstrichen waren. Bei der rechtlichen Würdigung seines Verhaltens ist aber zu berücksichtigen, daß der Bf. nach der Fassung des Schreibens des ... Minister der Finanzen immerhin zweifeln konnte, ob es sich um eine endgültige Beschwerdeentscheidung handelte oder ob noch eine förmliche Beschwerdeentscheidung ergehen würde. Vor allem ist aber entscheidend, daß der ... Minister der Finanzen in seiner Entscheidung die vom Bf. angeregten Verhandlungen im Hinblick auf ein gegen den Bf. schwebendes Steuerstrafverfahren abgelehnt hatte. Daraus konnte der Bf. entnehmen und hat er auch - nach seinen insoweit nicht widerlegten Angaben - entnommen, daß der ... Minister der Finanzen nach Abschluß des Steuerstrafverfahrens zu Verhandlungen über die Erledigung der Beschwerde und die damit zusammenhängende Schadensersatzforderung bereit sein würde. Die äußerung des Bf., daß nach seiner Ansicht das Steuerstrafverfahren nichts mit seiner Beschwerde zu tun habe, schließt nicht aus, daß er sich verfahrensmäßig auf die aus der Beschwerdeentscheidung entnehmbare gegenteilige Auffassung einrichtete. Jedenfalls reicht unter den besonderen Umständen des Streitfalles das Abwarten des Bf. nicht aus, um daraus nach den Grundsätzen von Treu und Glauben eine endgültige Verwirkung des gerichtlichen Anfechtungsrechts herzuleiten. Das Finanzgericht beruft sich für seine Rechtsauffassung zu Unrecht auf die Entscheidung des Reichsfinanzhofs III A 26/37 vom 24. Juni 1937, Reichssteuerblatt 1937 S. 797, 798. Der dieser Entscheidung zugrunde liegende Sachverhalt ist wesentlich anders geartet als der Tatbestand des Streitfalls.

Eine Beschwer hat das Finanzgericht zutreffend für gegeben erachtet. Sie liegt nicht allein in dem "Umstand, daß der Bf. durch den vorläufigen Widerruf mit dem Makel behaftet" ist, "durch schuldhaftes Verhalten Anlaß zu einem zeitweiligen Widerruf der Zulassung als Helfer in Steuersachen gegeben zu haben", sondern darüber hinaus in der Tatsache, daß der Bf. infolge der Verfügung des Finanzamts vorübergehend gehindert war, seine Tätigkeit als Helfer in Steuersachen auszuüben.

Da das Finanzgericht die Berufung zu Unrecht als unzulässig verworfen und entsprechend seiner Auffassung eine sachliche Prüfung unterlassen hat, war die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur materiellen Prüfung an das Finanzgericht zurückzuverweisen (§ 296 Abs. 3, 4 AO). Bei der sachlichen Entscheidung über das Rechtsmittel wird das Finanzgericht zu prüfen haben, ob beim Bf. zur Zeit der vorläufigen Entziehung die Voraussetzungen für eine endgültige Zurücknahme der Erlaubnis zur geschäftsmäßigen Hilfeleistung in Steuersachen gegeben waren. Nur wenn dies zu bejahen ist, durfte das Finanzamt auch für eine nur begrenzte Zeit die Erlaubnis zurücknehmen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs II 8/53 U vom 7. April 1954 Abschn. 3, Slg. Bd. 58 S. 671, 674, BStBl 1954 III S. 167, 168). Bei den Vorschriften über die Zurücknahme der Erlaubnis zur geschäftsmäßigen Hilfeleistung in Steuersachen handelt es sich, ebenso wie bei den Vorschriften über die Erteilung dieser Erlaubnis (§ 107 a AO, § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 107 a der Reichsabgabenordnung vom 11. Januar 1936, Reichsgesetzblatt S. 11, Reichssteuerblatt S. 65), rechtlich um eine gesetzliche Koppelung von unbestimmtem Rechtsbegriff und Ermessenstatbestand (vgl. hierzu Loening, Deutsches Verwaltungsblatt 1952 S. 197 - 201 und S. 235 - 239). Das Finanzgericht wird deshalb prüfen müssen, ob Tatsachen vorgelegen haben, aus denen zu entnehmen war, daß der Bf. im Zeitpunkt der Verfügung des Finanzamts vom 22. Januar 1948 nicht mehr die für einen Helfer in Steuersachen erforderliche Zuverlässigkeit und persönliche Eignung besessen hat und ob die Finanzverwaltungsbehörden bei der Zurücknahme der Erlaubnis keine Ermessensverletzung begangen, das heißt die Grundsätze von Recht und Billigkeit (§ 2 Abs. 2 des Steueranpassungsgesetzes in der jetzt geltenden Auslegung, vgl. Abschn. 4 des Gutachtens des Bundesfinanzhofs Gr.S. D 1/51 S vom 17. April 1951, Slg. Bd. 55 S. 277, BStBl 1951 III S. 107) beachtet haben. Bei dieser Prüfung wird das Finanzgericht insbesondere den Bericht des Vorstehers des Finanzamts an den ... Minister der Finanzen vom 22. Januar 1948 - dem Tage der vorläufigen Zurücknahme der Erlaubnis - zu würdigen haben, nach dem sich damals das Strafverfahren "noch im Stadium der Ermittlungen" befand, "vorläufig" noch "Anschuldigungen gegen Anschuldigungen" standen und "noch nicht zu übersehen" war, "inwieweit" der Bf. wegen der Beschuldigungen strafrechtlich belangt werden" würde. Vor der Entscheidung wird dem Bf. im erforderlichen Umfang Akteneinsicht zu gewähren sein.

 

Fundstellen

Haufe-Index 409115

BStBl III 1958, 352

BFHE 1959, 208

BFHE 67, 208

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