Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtsbehelfsantrag; Steuerfestsetzung; Ablauf der Festsetzungsfrist; Steueranspruch

 

Leitsatz (amtlich)

Ein nicht eingeschränkter Rechtsbehelfsantrag hemmt den Ablauf der Festsetzungsfrist hinsichtlich des gesamten Steueranspruchs und nicht nur hinsichtlich des Teilbetrags, der im angefochtenen Steuerbescheid festgesetzt worden ist. Das FA darf daher bei einem uneingeschränkten Rechtsbehelfsantrag die Steuerfestsetzung auch noch nach Ablauf der regulären Festsetzungsfrist zum Nachteil des Rechtsbehelfsführers ändern, wenn es ihn zuvor auf die Möglichkeit einer verbösernden Entscheidung unter Angabe von Gründen hingewiesen und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat.

 

Normenkette

AO 1977 §§ 169, 171 Abs. 3, § 367 Abs. 2

 

Verfahrensgang

FG Köln

 

Tatbestand

I.

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) gaben ihre Einkommensteuererklärung für 1981 im Jahr 1983 ab. Mit Bescheid vom November 1983 setzte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ‐ FA - ) die Einkommensteuer unter dem Vorbehalt der Nachprüfung fest, ohne die Einkünfte der Kläger aus einer Kommandit-Beteiligung zu berücksichtigen. Im Dezember 1983 legten die Kläger ohne Begründung Einspruch gegen diesen Bescheid ein.

Nach der Mitteilung des Feststellungs-Finanzamtes über die Einkünfte aus der Beteiligung erließ das FA am 4. September 1984 einen Änderungsbescheid, mit dem es gleichzeitig den Ausbildungsfreibetrag für den Sohn der Kläger kürzte.

Gegen diesen Änderungsbescheid legten die Kläger im Oktober 1984 Einspruch ein. Gemäß ihrer Einspruchsbegründung begehrten sie, die außerordentlichen Einkünfte aus der Beteiligung mit dem ermäßigten Steuersatz nach § 34, § 16 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zu besteuern. Darüber hinaus baten sie um Abgabe der gesetzlichen Grundlage für die Berechnung des Ausbildungsfreibetrages. Das FA wies diesen Einspruch im Dezember 1984 als unzulässig zurück, da aufgrund des Einspruchs gegen den Erstbescheid das Einspruchsverfahren noch anhängig sei, mithin ein Rechtsschutzbedürfnis nicht bestehe. Nach entsprechender Androhung der Verböserung erließ das FA am 9. Februar 1990 eine Einspruchsentscheidung, wonach die streitigen Beteiligungseinkünfte wie bisher besteuert und Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung aus dem Objekt X entsprechend einer Vereinbarung der Kläger mit dem FA im Anschluß an eine für die Folgejahre durchgeführte Betriebsprüfung angesetzt wurden. Der Ausbildungsfreibetrag wurde wie bisher nur gekürzt berücksichtigt. Ferner verböserte das FA nach Verwertung von Erkenntnissen dieser Betriebsprüfung die Steuerfestsetzung, indem es die Einkünfte der Klägerin aus selbständiger Arbeit erhöhte. Bisher berücksichtigte Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung aus dem Objekt Y wurden mit 0 DM angesetzt.

Auf die Klage hin machte das Finanzgericht (FG) die Steuerfestsetzung rückgängig, soweit sie auf der Verböserung beruhte.

Mit seiner Revision rügt das FA sinngemäß die Verletzung der §§ 171 Abs. 3, 367 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977). Es beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen sinngemäß, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet. Sie führte zur Aufhebung der Vorentscheidung im erkannten Umfang und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ‐ FGO -).

1. Die Verböserung der streitigen Steuerfestsetzung im Einspruchsverfahren ist nicht wegen Eintritts der Festsetzungsverjährung unzulässig (§ 169 AO 1977).

Die Festsetzungsfrist für die streitige Steuerfestsetzung wäre regelmäßig mit dem Ende des Jahres 1987 abgelaufen (§ 169 Abs. 2 Nr. 2, § 170 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977). Der Fristablauf wurde indes durch den im Dezember 1983 eingelegten Einspruch in vollem Umfang gehemmt.

Der Umfang der Ablaufhemmung durch Einspruchseinlegung gemäß § 171 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Satz 1 AO 1977 hängt ‐ wie der erkennende Senat mit Urteil vom 5. Februar 1992 I R 76/91 (BFHE 168, 1, BStBl II 1992, 995) entschieden hat ‐ vom Umfang des Rechtsbehelfsantrags ab (vgl. auch BFH-Urteil vom 7. Februar 1992 III R 61/91, BFHE 167, 279, BStBl II 1992, 592). Entgegen der Auffassung des FA steht dem § 367 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 nicht entgegen. Der Umfang des Rechtsbehelfsantrags ist durch Auslegung anhand der Grundsätze des Beschlusses des Großen Senats des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 23. Oktober 1989 GrS 2/87 (BFHE 159, 4, BStBl II 1990, 327) zu ermitteln. Für diese Auslegung sind sämtliche darauf bezogenen Willensäußerungen des Rechtsbehelfsführers vor Beginn der ansonsten eintretenden Festsetzungsverjährung zu berücksichtigen. Das FG hat dafür zutreffend auf die Einspruchsbegründung vom Oktober 1984 abgehoben, die erstmals Rückschlüsse auf den Umfang des im Streitfall erhobenen Einspruchs zuließ.

Diese Einspruchsbegründung ist, da sie letztlich den nämlichen Sachverhalt betrifft, zur nachträglichen Begrenzung des zunächst unbeschränkten Einspruchs vom Dezember 1983 geeignet.

Indes hat das FG verkannt, daß für die Auslegung die Grundsätze des Großen Senats in BFHE 159, 4, BStBl II 1990, 327 heranzuziehen sind. Danach gebieten die Besonderheiten des Einkommensteuerrechts, regelmäßig davon auszugehen, daß ein Rechtsmittel- oder Rechtsbehelfsführer mit der Bezeichnung des zu überprüfenden Sachverhalts unter Nennung der betragsmäßigen Auswirkung keine Tatbestandskraft herbeiführen will. Nur wenn der Rechtsbehelfsführer eindeutig zu erkennen gegeben hat, er werde von einem weitergehenden Begehren absehen, wird der Steuerbescheid im ausdrücklich nicht angefochtenen Teil teilweise bestandskräftig (BFH in BFHE 168, 1, BStBl II 1992, 995).

Dafür reicht es nicht, daß die Kläger in der Einspruchsbegründung vom Oktober 1984 begehrten, die außerordentlichen Einkünfte aus der Beteiligung mit dem ermäßigten Steuersatz zu besteuern und darüber hinaus um die Angaben der gesetzlichen Grundlagen für die Berechnung des Ausbildungsfreibetrags baten. Der Wille des Einspruchsführers, von einem weiteren Rechtsbehelfsbegehren abzusehen, muß vielmehr deutlicher zum Ausdruck kommen als in der bloßen Anfechtung des Steuerbescheides wegen eines bestimmten Streitpunktes (vgl. BFH in BFHE 167, 279, BStBl II 1992, 592). Die Würdigung des Umfangs des Einspruchs durch das FG, die ihm an sich im Rahmen seiner Tatsachenwürdigung obliegt, kann demzufolge keinen Bestand haben.

Der erkennende Senat konnte die vom FG unterlassene Auslegung selbst vornehmen, da die Vorinstanz die dazu notwendigen Feststellungen getroffen hat (BFH-Urteil vom 11. Oktober 1983 VIII R 61/81, BFHE 140, 177, BStBl II 1984, 267). Vor allem war davon auszugehen, daß keine weiteren Willensäußerungen der Kläger gegenüber dem FA vorliegen, die eindeutig auf eine Beschränkung des Rechtsbehelfsumfangs schließen lassen.

2. Das FG hat aufgrund seiner Rechtsauffassung nicht weiter geprüft, ob die Erhöhung der Steuerfestsetzung aufgrund der Verböserung rechtswidrig ist und die Kläger in ihren Rechten verletzt. Das angefochtene Urteil war zu diesem Zweck aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.

3. Das FG hat nicht nur den angefochtenen Steuerbescheid gemäß Art. 3 § 4 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (jetzt: § 100 Abs. 2 FGO i.d.F. des Änderungsgesetzes vom 21. Dezember 1992, BGBl I 1992, 2109) geändert, sondern ‐ wie sich aus dem Zusammenspiel des Tenors mit den Entscheidungsgründen ergibt ‐ das FA verpflichtet, diese Neufestsetzung hinsichtlich des Grundfreibetrags für vorläufig zu erklären. Gegenüber dem Anfechtungsantrag ist dieser Verpflichtungsantrag ein eigener Streitgegenstand. Der Senat geht davon aus, daß das FA insoweit das Urteil des FG nicht angreifen wollte, da es sich dazu in seiner Revisionsbegründung mit keinem Wort äußert (§ 120 Abs. 2 Satz 2 FGO) und sich in der mündlichen Verhandlung vor dem FG zur Beifügung dieses Vorläufigkeitsvermerks verpflichtet hat.

 

Fundstellen

Haufe-Index 613957

BStBl II 1995, 165

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