Entscheidungsstichwort (Thema)

Änderung eines Vorbehaltsbescheids; Gegenrüge im Revisionsverfahren

 

Leitsatz (NV)

1. Ein unter Vorbehalt der Nachprüfung erlassener Einkommensteuerbescheid kann vom FA geändert werden, solange der Vorbehalt wirksam ist. Das FA darf dabei auch von der Steuererklärung abweichen und ist befugt, den Nachprüfungsvorbehalt aufrechtzuerhalten (Anschluß an BFH-Rechtsprechung).

2. Das FG verletzt § 164 AO 1977, wenn es einen unter Vorbehalt der Nachprüfung ergangenen Einkommensteuerbescheid mit der Begründung aufhebt, daß der Sachverhalt noch nicht hinreichend geklärt erscheine.

3. Sogenannte Gegenrügen eines Revisionsbeklagten sind im Revisionsverfahren nur zulässig, wenn dargelegt wird, daß bereits vor dem FG hierauf wenigstens hilfsweise hingewiesen worden oder weshalb dies nicht möglich gewesen sei (Anschluß an BFH-Urteil vom 4. 5. 1977 I R 27/74, BFHE 123, 20, BStBl II 1977, 802).

 

Normenkette

GG Art. 19 Abs. 4; AO 1977 § 164 Abs. 1-2; FGO § 118 Abs. 2, § 120 Abs. 2

 

Verfahrensgang

FG Rheinland-Pfalz

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute, die zur Einkommensteuer zusammenveranlagt werden. Der Kläger erwarb mit notariellem Kaufvertrag vom 24. April 1970 ein Grundstück für insgesamt 44 612 DM. Das Grundstück war mit einem Vorder- und Hinterhaus bebaut. Im Jahre 1973 ließ der Kläger das gesamte Gebäude in Vollzug einer baupolizeilichen Auflage wegen Einsturzgefahr abreißen. Ein Neubau wurde nicht errichtet. In der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 1973 machten die Kläger die Abbruchkosten und den Restwert des Gebäudes als Werbungskosten bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung geltend. Dem folgte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) zunächst im ursprünglichen, unter Vorbehalt der Nachprüfung ergangenen Einkommensteuerbescheid für 1973. Nachdem bei einer Außenprüfung für den Zeitraum 1974 bis 1976 festgestellt worden war, daß das Gebäude bereits im Erwerbszeitpunkt abbruchreif gewesen sei, änderte das FA den Einkommensteuerbescheid für 1973 unter Aufrechterhaltung des Nachprüfungsvorbehalts dahingehend, daß die Abbruchkosten und der Restwert des Gebäudes den Anschaffungskosten für den Grund und Boden zugerechnet wurden. Das Finanzgericht (FG) gab der von den Klägern nach erfolglosem Einspruchsverfahren gegen den Änderungsbescheid erhobenen Klage mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1983, 325 veröffentlichten Urteil statt. Das FG stützte die Aufhebung des Änderungsbescheids und der Einspruchsentscheidung im Anschluß an das Urteil des FG Münster vom 17. Februar 1981 VI 648/78 E u.a. (EFG 1981, 324) darauf, daß bei unter Vorbehalt der Nachprüfung durchgeführten Veranlagungen von der Steuererklärung nur bei offensichtlicher Unrichtigkeit abgewichen werden dürfe. Das gelte auch für eine Änderung der Veranlagung unter Vorbehalt der Nachprüfung. Im Streitfall könne von einer offensichtlichen Unrichtigkeit der Steuererklärung keine Rede sein. Der Änderungsbescheid und die Einspruchsentscheidung seien auch deshalb aufzuheben, weil der vom FA zugrunde gelegte Sachverhalt nicht erschöpfend aufgeklärt sei und das FG keine weitere Sachverhaltsaufklärung vornehmen könne.

Hiergegen richtet sich die Revision des FA, mit der Verletzung des § 164 der Abgabenordnung (AO 1977) und § 76 FGO gerügt wird.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision führt zur Aufhebung des FG-Urteils und Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz zur erneuten Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

Das FA war aus Rechtsgründen nicht gehindert, den unter Vorbehalt der Nachprüfung erlassenen Einkommensteuerbescheid unter Abweichung von der Steuererklärung der Kläger zu ändern.

Nach § 164 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 können Steuern unter dem Vorbehalt der Nachprüfung festgesetzt werden, solange der Steuerfall nicht abschließend geprüft ist. Davon hat das FA beim Erlaß des ursprünglichen Einkommensteuerbescheids von den Klägern unbeanstandet Gebrauch gemacht. Auch die vom FA vorgenommene Änderung des unter Vorbehalt der Nachprüfung erlassenen Einkommensteuerbescheids ist entgegen der Vorentscheidung durch § 164 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 gedeckt. Denn danach kann die Steuerfestsetzung vom FA aufgehoben oder geändert werden, solange der Vorbehalt wirksam ist. Für die Auffassung des FG, daß bei einer solchen Änderung nicht von der Steuererklärung der Steuerpflichtigen abgewichen werden dürfe, fehlt eine gesetzliche Grundlage. Durch die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH), welcher der erkennende Senat beitritt, ist bereits geklärt, daß das FA bei der Einkommensteuerveranlagung unter Vorbehalt der Nachprüfung von der Einkommensteuererklärung des Steuerpflichtigen abweichen darf (vgl. Urteile vom 4. August 1983 IV R 79/83, BFHE 139, 137, BStBl II 1984, 6; vom 2. Oktober 1984 VIII R 20/84, BFHE 143, 304, BStBl II 1985, 428, Ziff. 1 Buchst. b der Gründe, und vom 18. April 1986 VI R 51/83, BFH/NV 1986, 715). Geht man hiervon aus, muß Entsprechendes für eine Änderung des unter Nachprüfungsvorbehalt erlassenen Steuerbescheids innerhalb der Festsetzungsfrist gelten.

Das FA war auch befugt, den Vorbehalt der Nachprüfung im Änderungsbescheid aufrechtzuerhalten (vgl. BFH-Urteil vom 16. Oktober 1984 VIII R 162/80, BFHE 143, 299, BStBl II 1985, 448). Soweit die Kläger im Revisionsverfahren bemängeln, daß der Änderungsbescheid nicht unter Nachprüfungsvorbehalt hätte ergehen dürfen, weil der Sachverhalt vom FA bereits abschließend geprüft worden sei und der Änderung außerdem der Einwand der Verwirkung entgegenstehe, erheben sie als Revisionsbeklagte sog. Gegenrügen, die nur dann zulässig sind, wenn dargelegt wird, daß bereits vor dem FG hierauf wenigstens hilfsweise hingewiesen worden oder weshalb dies nicht möglich gewesen sei (BFH-Urteil vom 4. Mai 1977 I R 27/74, BFHE 123, 20, BStBl II 1977, 802). Das ist hier unterblieben. Folglich handelt es sich um neues tatsächliches Vorbringen, das vom BFH als Revisionsgericht nicht berücksichtigt werden darf (§ 118 Abs. 2 FGO).

Das FG hat ferner rechtsfehlerhaft die Aufhebung des Änderungsbescheids und der Einspruchsentscheidung auch darauf gestützt, daß der Steuerfall noch nicht abschließend geklärt sei und das FG den Sachverhalt nicht an Stelle des FA aufklären dürfe. Zwar ist die Frage, inwieweit unter Vorbehalt der Nachprüfung erlassene Steuerbescheide durch die FG nachzuprüfen sind, umstritten (vgl. noch Frotscher in Schwarz, Kommentar zur Abgabenordnung, § 164 Anm. 2c, und Klein/Orlopp, Abgabenordnung, 3. Aufl., § 164 Anm. 4). Der Senat hat im Urteil vom 12. Februar 1985 IX R 114/83 (BFHE 143, 431, BStBl II 1985, 690) hierzu ausgeführt, daß es jedenfalls keiner Stellungnahme des FG zu Steuervergünstigungen bedarf, die der Kläger weder im Rahmen der Veranlagung noch im finanzgerichtlichen Verfahren geltend gemacht hat. Denn es könne nicht Aufgabe des FG sein, Fragen nachzugehen, deren abschließende Prüfung sich das FA vorbehalten dürfe, und damit dem Veranlagungsverfahren vorzugreifen.

Im vorliegenden Revisionsverfahren erübrigt sich eine weitere Erörterung der Streitfrage. Denn auch wenn der Senat von einer im finanzgerichtlichen Verfahren eingeschränkten Nachprüfbarkeit des Vorbehaltsbescheids ausgehen würde oder aber der Ansicht folgen wollte, daß das FG den Fall im Umfang der Klagebegründung tatsächlich und rechtlich zu würdigen habe (vgl. z. B. Tipke/Kruse, AO/FGO, 12. Aufl., Tz. 10), erscheint die Lösung der Vorinstanz unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt haltbar. Einen unter Vorbehalt der Nachprüfung erlassenen Steuerbescheid allein deshalb aufzuheben, weil der Sachverhalt noch nicht hinreichend geklärt erscheine, verstößt gegen § 164 AO 1977. Denn diese Vorschrift eröffnet dem FA gerade in solchen Fällen die Möglichkeit, die Steuer unter Vorbehalt der Nachprüfung festzusetzen. Mit der Begründung der Vorentscheidung würde diese vom Gesetzgeber der AO 1977 ausdrücklich gewollte Erweiterung der früheren, in § 100 Abs. 2 der Reichsabgabenordnung vorgesehenen vorläufigen Veranlagung vereitelt.

Die Sache ist nicht spruchreif, da sich das FA mit dem Klagevorbringen noch nicht auseinandergesetzt hat. Das Verfahren geht daher zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

 

Fundstellen

Haufe-Index 415025

BFH/NV 1988, 79

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