Entscheidungsstichwort (Thema)

Rückwirkende Änderung steuerrechtlicher Normen - keine Änderung bestandskräftiger Steuerbescheide

 

Leitsatz (amtlich)

1. "Sonst gesetzlich zugelassen" i.S. von § 172 Abs.1 Satz 1 Nr.2 Buchst.d AO 1977 ist die Aufhebung oder Änderung eines bestandskräftigen Steuerbescheides nur, soweit eine gesetzgeberische Wertentscheidung zugunsten der Durchbrechung der Bestandskraft klar erkennbar ist.

2. Die in § 36 Abs.3 GewStG i.d.F. des StBereinG 1986 angeordnete rückwirkende Änderung des § 10a GewStG erstreckt sich nicht auf bestandskräftig (oder rechtskräftig) abgeschlossene Fälle.

3. Eine rückwirkende Änderung steuerrechtlicher Normen ist kein rückwirkendes Ereignis i.S. des § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977.

 

Orientierungssatz

1. § 10a GewStG selbst enthält, in Unterschied zu der entsprechenden Bestimmung des § 10d EStG keine spezielle Korrekturregelung: Während im Einkommensteuerrecht seit dem Inkrafttreten des EStÄndG vom 20.4.1976 zur Verwirklichung des Verlustabzugs prinzipiell uneingeschränkte Möglichkeiten zur Änderung bestandskräftiger Einkommensteuerbescheide eröffnet sind (vgl. BFH-Rechtsprechung; Literatur), beschränkt sich § 10a GewStG auf eine rein materiell-rechtliche Regelung des Verlustabzugs.

2. Bestandskräftige (rechtskräftige) Einzelfallregelungen werden von der Rechtsordnung im Vergleich zu noch anfechtbaren Entscheidungen derart anders gewichtet, daß sie selbst bei Nichtigkeit ihrer Rechtsgrundlage unberührt bleiben (vgl. BVerfG-Rechtsprechung).

 

Normenkette

AO 1977 § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Buchst. d, § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; GewStG § 10a Fassung: 1985-12-19, § 36 Abs. 3 Fassung: 1985-12-19; EStG § 10d; AO 1977 § 175 Abs. 1 Nr. 2, § 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. d; GG Art. 3 Abs. 1; BVerfGG § 79 Abs. 2

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) betrieb in den Jahren 1979 bis 1986 einen Handel mit Orientteppichen. Die Einkünfte hieraus ermittelte sie bis einschließlich 1983 nach § 4 Abs.3 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Das ergab für die Jahre 1979 und 1980 Verluste in Höhe von 163 815 DM und 67 487 DM, für 1981 und 1982 Gewinne (Gewerbeerträge) in Höhe von 90 764 DM und 96 309 DM.

Das damals zuständige Finanzamt A ließ im Gewerbesteuermeßbescheid für 1982 vom 13.Juli 1984 die Verluste aus den Jahren 1979 und 1980 im Hinblick auf die damalige Rechtslage (Ausschluß der Vortragsfähigkeit für Verluste, die nach § 4 Abs.3 EStG ermittelt wurden) unberücksichtigt und setzte den Steuermeßbetrag nach dem Gewerbeertrag auf 3 015 DM fest. Dieser Bescheid ist bestandskräftig geworden.

In einer Anlage zur Gewerbesteuererklärung 1984 beantragte die Klägerin beim nunmehr zuständigen Finanzamt B, dem Beklagten und Revisionsbeklagten (FA), unter Berufung auf die rückwirkende Änderung des § 10a des Gewerbesteuergesetzes (GewStG) durch § 36 Abs.3 GewStG i.d.F. des Steuerbereinigungsgesetzes (StBereinG) 1986 vom 19.Dezember 1985 (BGBl I, 2436), den Gewerbesteuermeßbetrag für 1982 zu ändern und den Gewerbeertrag mit den Verlusten der Anfangsjahre zu verrechnen.

Diesen Antrag lehnte das FA durch Verfügung vom 4.Juli 1986 ab. Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg.

Mit der vom Finanzgericht (FG) wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassenen Revision erstrebt die Klägerin weiterhin Verlustverrechnung für das Streitjahr 1982 gemäß der Neufassung des § 10a GewStG. Sie ist der Meinung, die in § 36 Abs.3 GewStG angeordnete Rückwirkung sei als Ereignis mit steuerlicher Wirkung für die Vergangenheit i.S. des § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 der Abgabenordnung (AO 1977) anzusehen und erfasse daher auch bestandskräftige Bescheide. Nur auf diese Weise sei eine gleichmäßige Besteuerung gewährleistet.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil sowie die ablehnenden Verwaltungsentscheidungen aufzuheben und das FA zur begehrten Änderung des Gewerbesteuermeßbescheids 1982 vom 13.Juli 1984 zu verpflichten.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. - Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Änderung des Gewerbesteuermeßbescheides 1982.

1. Das Gewerbesteuerrecht bietet keine Rechtsgrundlage für die Aufhebung oder Änderung des bestandskräftigen Bescheids.

a) Die Vorschrift des § 10a GewStG selbst enthält, im Unterschied zu der entsprechenden Bestimmung des § 10d EStG, keine spezielle Korrekturregelung: Während im Einkommensteuerrecht seit dem Inkrafttreten des Einkommensteueränderungsgesetzes (EStÄndG) vom 20.April 1976 (BGBl I 1976, 1054) zur Verwirklichung des Verlustabzugs prinzipiell uneingeschränkte Möglichkeiten zur Änderung bestandskräftiger Einkommensteuerbescheide eröffnet sind (vgl. § 10d Satz 2 und 3 EStG a.F. und § 10d Abs.1 Satz 2 und 3 EStG n.F.; dazu die Urteile des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 14.November 1989 VIII R 36/88, BFHE 160, 217, BStBl II 1990, 618 und VIII R 209/85, BFHE 160, 219, BStBl II 1990, 620; von Groll in Kirchhof/Söhn, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, § 10d Rdnr.A 144 und Rdnr.B 370 ff. m.w.N.), beschränkt sich § 10a GewStG auf eine rein materiell-rechtliche Regelung des Verlustabzugs.

b) An dem rein materiell-rechtlichen Charakter der gewerbesteuerrechtlichen Verlustverrechnungsregelung hat sich durch das StBereinG 1986 nichts geändert. Hierdurch ist die bis dahin geltende Beschränkung des Anwendungsbereichs des § 10a GewStG auf Gewerbebetriebe, die den Gewinn nach § 5 EStG ermitteln, beseitigt worden. Die Gesetzesänderung enthält zwar eine Rückwirkungsanordnung (§ 36 Abs.3 GewStG i.d.F. des StBereinG 1986); aber auch diese ist rein materiell-rechtlicher Natur (ebenso FG München, Urteil vom 28.März 1988 XIII 125/87 G, Entscheidungen der Finanzgerichte ―EFG― 1988, 588, und Verwaltungsgericht (VG) Gelsenkirchen, Urteil vom 2.November 1989 16 K 561/88, Kommunale Steuer-Zeitschrift ―KStZ― 1990, 76).

aa) Das ergibt sich zunächst aus dem Wortsinn der Überleitungsvorschrift, die sich auf die Anordnung beschränkt, "§ 10a GewStG erstmals für den Erhebungszeitraum 1975 anzuwenden". - Im Hinblick darauf, daß die geänderte Norm selbst keine eigenständige Korrekturregelung enthält, kann das nur rein materiell-rechtlich verstanden werden. Schon aus diesem Grunde hätte es einer ausdrücklichen Ausdehnung der Rückwirkungsanordnung auch auf bestandskräftig (oder rechtskräftig) abgeschlossene Fälle bedurft.

bb) Eine solche Notwendigkeit bestand aber vor allem aus vorrangigen Erwägungen des allgemeinen Abgabenrechts. Ein Steuerbescheid und ebenso ein Gewerbesteuermeßbescheid (§ 184 Abs.1 Satz 3 AO 1977) darf, sofern er nicht vorläufig oder unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen ist, außerhalb der §§ 172 ff. AO 1977 gemäß § 172 Abs.1 Satz 1 Nr.2 Buchst.d AO 1977 nur aufgehoben oder geändert werden, soweit dies sonst gesetzlich zugelassen ist.

In welche gesetzestechnische Form der Gesetzgeber eine solche Zulassung im Einzelfall kleiden will, insbesondere, ob eine solche Zulassung immer ausdrücklich ausgesprochen werden muß, hat der Senat nicht zu beurteilen. Die Vorschrift des § 172 Abs.1 Satz 1 Nr.2 Buchst.d AO 1977 bringt jedenfalls zum Ausdruck, daß wegen der Bedeutung, die dem Institut der Bestandskraft für die Rechtssicherheit zukommt, bei Steuerbescheiden für ein in sich geschlossenes überschaubares Korrektursystem gesorgt werden muß (zur Bedeutung der Bestandskraft für die Rechtssicherheit vgl. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts ―BVerfG― vom 14.März 1963 1 BvL 28/62, BVerfGE 15, 313, 319 ff.). Zumindest muß daher eine gesetzgeberische Wertentscheidung zugunsten der Durchbrechung der Bestandskraft, wie sie z.B. in § 10d Abs.1 Satz 2 und 3 EStG n.F. getroffen wurde, klar erkennbar sein. Daran fehlt es hier.

Eine Überleitungsvorschrift, die ―§ 36 Abs.1 GewStG i.d.F. des StBereinG 1986― eine rein materiell-rechtliche Vorschrift betrifft und zur Behandlung bestandskräftig (oder rechtskräftig) abgeschlossener Fälle schweigt, kann nicht als gesetzliche Zulassung i.S. des § 172 Abs.1 Satz 1 Nr.2 Buchst.d AO 1977 angesehen werden.

Die in § 36 Abs.2 GewStG i.d.F. des StBereinG 1986 hinsichtlich der Anwendung der Neufassung auf gewerblich geprägte Personengesellschaften (§ 15 Abs.3 Nr.2 EStG) enthaltene ausdrückliche Beschränkung auf noch nicht bestandskräftige Bescheide, besagt insoweit nur etwas Selbstverständliches und gibt für das Verständnis des § 36 Abs.3 GewStG nichts her.

cc) Auch der Entstehungsgeschichte, die im übrigen für sich allein kein anderes Auslegungsergebnis rechtfertigen könnte (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13.Aufl., § 4 AO 1977 Tz.85), läßt sich nichts dafür entnehmen, daß die rückwirkende Änderung des § 10a GewStG durch das StBereinG 1986 auch bestandskräftige Bescheide erfassen sollte.

Ursprünglich war schon im Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des EStG und des GewStG vom 21.Mai 1975 (BTDrucks 7/3667) eine Erweiterung des § 10a GewStG vorgesehen. Danach sollte ebenso wie in § 10d EStG auch ein Verlustrücktrag möglich sein, und zwar unabhängig von der Gewinnermittlungsart. Von der Einbeziehung des GewStG in die Gesetzesänderung wurde dann jedoch aus Haushaltsgründen ausdrücklich abgesehen (vgl. BTDrucks 7/4604 und 7/4705). Die fortdauernde Beschränkung der Verlustverrechnung nach § 10a GewStG auf bilanzierende Gewerbetreibende entsprach also ―auch in ihrem Gegensatz zu § 10d EStG (zu dessen ab Veranlagungszeitraum 1975 geltender Fassung vgl. von Groll in Kirchhof/Söhn, a.a.O., Rdnr.A 144)― der erklärten Absicht des Gesetzgebers. Diese Absicht änderte sich erkennbar erst in dem Entwurf eines StBereinG 1985 (BTDrucks 10/1636), der (in Art.18 Nr.4) die Streichung der Worte "bei Gewerbetreibenden, die den Gewinn nach § 5 des EStG ermitteln" vorsah. Die Neuregelung sollte zunächst ab Erhebungszeitraum 1985 gelten (Art.18 Nr.12 des Entwurfs). Das Gesetzesvorhaben wurde dann abermals zurückgestellt (vgl. Finanzausschuß, BTDrucks 10/2370, S.17) und dann im StBereinG 1986 wieder aufgegriffen. Die Begründung dazu (BTDrucks 10/1636 S.21 und 69) und zu der später vom Finanzausschuß vorgesehenen Rückwirkung ab Erhebungszeitraum 1975 (BTDrucks 10/4498 und 10/4513 S.26) gibt ebensowenig wie die Materialien zu den früheren Gesetzesentwürfen einen Anhaltspunkt dafür, daß diese Absichtsänderung auch bestandskräftig oder rechtskräftig gewordene Meßbetragsfestsetzungen erfassen sollte.

dd) Auf den Gleichheitsgrundsatz kann sich die Klägerin mit Erfolg ebenfalls nicht berufen, weil bestandskräftige (rechtskräftige) Einzelfallregelungen von der Rechtsordnung im Vergleich zu noch anfechtbaren Entscheidungen derart anders gewichtet werden, daß sie selbst bei Nichtigkeit ihrer Rechtsgrundlage unberührt bleiben (§ 79 Abs.2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht ―BVerfGG―; vgl. BVerfG-Beschlüsse in BVerfGE 15, 313, 319 ff., und vom 15.Februar 1978 2 BvL 8/74, BVerfGE 48, 1, 22).

2. Die Klägerin kann ihr Begehren auch nicht auf eine Änderungsvorschrift der AO 1977 stützen.

Die Voraussetzungen des § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977, der einzigen Korrekturvorschrift, die ―in Verbindung mit § 184 Abs.1 Satz 3 AO 1977― im Streitfall für die erstrebte Durchbrechung der Bestandskraft in Betracht kommt, sind nicht erfüllt.

Gemäß den §§ 184 Abs.1 Satz 3, 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 ist ein Gewerbesteuermeßbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat.

a) Was unter einem rückwirkenden Ereignis zu verstehen ist, wird im Gesetz nicht näher bestimmt. Aus dem Wortsinn und dem Zweck der Korrekturvorschrift ergibt sich folgendes: Das Ereignis muß nachträglich ―d.h. nach Erlaß des aufzuhebenden oder zu ändernden Bescheides (BFH-Urteile vom 26.Oktober 1988 II R 55/86, BFHE 154, 493, BStBl II 1989, 75, und vom 12.Juli 1989 X R 8/84, BFHE 157, 484, BStBl II 1989, 957)― eingetreten sein; es muß den Sachverhalt verändern und dabei derart in die Vergangenheit zurückwirken, daß ein Bedürfnis besteht, eine schon endgültige (bestandskräftig getroffene) Regelung i.S. der §§ 118, 157 AO 1977 an die Sachverhaltsänderung anzupassen (BFH in BFHE 157, 484, BStBl II 1989, 957, und im Urteil vom 27.September 1988 VIII R 432/83, BFHE 155, 83, 89, BStBl II 1989, 225, 228, m.w.N.).

b) Eine rückwirkende Änderung steuerrechtlicher Vorschriften erfüllt diese Voraussetzungen nicht, weil sie nicht den bestandskräftig geregelten Einzelfall i.S. der §§ 118 Satz 1, 155 AO 1977 (den Sachverhalt), sondern die rechtlichen Grundlagen eines solchen Steuerverwaltungsakts umgestaltet (im Ergebnis ebenso FG München in EFG 1988, 588; vgl. VG Gelsenkirchen in KStZ 1990, 76; Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 9.Aufl., § 175 AO 1977 Tz.27; Koch/Förster, Kommentar zur Abgabenordnung, 3.Aufl. 1986, § 175 Tz.11; Lauer, Die Korrekturvorschrift des § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO, Berlin 1984, S.111 ff.; Lenski/Steinberg, Kommentar zum Gewerbesteuergesetz, § 10a Rdnr.1 d; Schwarz/Frotscher, Abgabenordnung, § 175 Tz.17; Tipke/Kruse, a.a.O., § 175 AO 1977 Tz.16; a.M. FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 11.Februar 1982 5 K 314/81, EFG 1982, 500; Oberverwaltungsgericht ―OVG― Koblenz, Urteil vom 16.Januar 1986 12 A 97/85, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht ―NVWZ― 1986, 584; Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 15.Aufl. 1987, § 175 AO 1977 Anm.3 e; Orth, Finanz-Rundschau ―FR― 1986, 81; Woerner/ Grube, Die Aufhebung und Änderung von Steuerverwaltungsakten, 8.Aufl. 1988, S.134).

Daß § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 nur Veränderungen der zu beurteilenden Sachlage, nicht aber die Kriterien einer solchen Beurteilung betrifft, folgt vor allem aus der Stellung und Bedeutung der Vorschrift im System des Abgabenrechts: Es ist nicht Aufgabe einer allgemeinen Korrekturregelung, eine generelle Antwort darauf zu geben, ob ein Ereignis ausnahmsweise ―entgegen dem grundsätzlich im Steuerrecht geltenden Rückwirkungsverbot― in die Vergangenheit zurückwirken darf; dies ist vielmehr den speziellen Normen des materiellen Steuerrechts vorbehalten (erkennender Senat in BFHE 157, 484, BStBl II 1989, 957, 958). Zu diesen Normen gehören auch die Vorschriften, welche die zeitliche Geltung bestimmter abgabenrechtlicher Regelungen festlegen. Ob und inwieweit es zweckmäßig, erlaubt und geboten ist, bestandskräftige Steuerbescheide in eine Rückwirkungsanordnung einzubeziehen, kann im Interesse des durch Bestandskraft und Rechtskraft gesicherten Vertrauensschutzes nicht abstrakt und allgemein, sondern nur von Fall zu Fall, für jede Gesetzesänderung gesondert entschieden werden (vgl. auch die BFH-Urteile vom 7.Oktober 1964 I 294/62 U, BFHE 80, 508, BStBl III 1964, 657, und vom 28.Oktober 1964 I 143/64 S, BFHE 81, 542, BStBl III 1965, 196, die im Rahmen der insoweit inhaltlich unveränderten früheren Rechtslage der Nichtigerklärung einer Norm durch das BVerfG keine rückwirkende Bedeutung beimessen). Diese gesetzgeberische Entscheidung muß im Gesetzestext selbst Ausdruck finden. Gerade im Steuerrecht, das besonders häufigen und umfassenden gesetzlichen Veränderungen unterworfen ist, bedarf es klarer gesetzgeberischer Entscheidungen auch zum zeitlichen Geltungsbereich der einzelnen Normen. Auch aus diesem Grund müssen gesetzgeberische Rückwirkungsanordnungen eindeutig sein. Die Einbeziehung bestandskräftig (oder rechtskräftig) abgeschlossener Fälle in die Rückwirkung muß sich unmittelbar aus dem Gesetz ergeben, entweder aus dem Zusammenwirken einer speziellen Korrekturregelung (wie z.B. in § 10d Abs.1 Satz 2 und Satz 3 EStG n.F.) und einer entsprechenden materiellen Rückwirkungsanordnung (wie z.B. für § 10d EStG durch § 52 Abs.13 Buchst.b i.d.F. des Steuer-Reformgesetzes 1990 vom 25.Juli 1988, BGBl I, 1093) oder aber dadurch, daß die spezialgesetzliche Rückwirkungsanordnung die Durchbrechung der Bestandskraft (bzw. der Rechtskraft) ausdrücklich mit einschließt.

c) Etwas anderes gilt in den Fällen, in denen die rückwirkende Änderung außersteuerrechtlicher Normen dazu führt, daß ein bestandskräftig geregelter Einzelfall (Sachverhalt) nachträglich umgestaltet wird (wie z.B. in dem vom BFH im Urteil vom 21.Dezember 1960 II 244/56 U, BFHE 72, 203, BStBl III 1961, 77 entschiedenen Fall der Auswirkungen einer rückwirkenden Änderung des familienrechtlichen Status des Steuerschuldners auf die bestandskräftig festgesetzte Erbschaftsteuerschuld).

d) Bestätigt wird diese Auslegung des § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 durch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift.

Schon für die Vorgängervorschriften (§§ 214 Abs.2 AO 1919, 225 Abs.2 AO 1931, 4 Abs.3 Ziff.2 des Steueranpassungsgesetzes ―StAnpG―), die in diesem Zusammenhang den Wegfall eines "Tatbestandsmerkmals", zuletzt nur noch eines "Merkmals" verlangten, galt es schließlich als gesicherte Erkenntnis, daß damit nicht "gesetzliche Tatbestandsmerkmale" gemeint waren (vgl. dazu Lauer, a.a.O., S.111; Tipke/Kruse, a.a.O., 7.Aufl., § 4 StAnpG Tz.4 - jeweils mit Nachweisen).

Sowohl in der amtlichen Begründung zu § 156 des Entwurfs (BTDrucks VI/1982, S.154/155) als auch in der Begründung zur endgültigen Fassung des § 175 AO 1977 (Bericht des Finanzausschusses BTDrucks 7/4292, S.34) ist klargestellt, daß insoweit gegenüber dem bis dahin geltenden § 4 Abs.3 Ziff.2 StAnpG keine inhaltliche Änderung beabsichtigt war. Auch ist ausnahmslos nur von einer Veränderung des Sachverhalts die Rede. Schließlich ist (im Bericht des Finanzausschusses, a.a.O.) ausdrücklich klargestellt, daß man die Nichtigerklärung eines Gesetzes durch das BVerfG nicht als "Ereignis" im Sinne der Neuregelung ansah (vgl. dazu auch Lauer, a.a.O.). Dies deckt sich mit dem vom Senat vertretenen Gesetzesverständnis, denn für die inhaltliche Bestimmung des Tatbestandsmerkmals "rückwirkendes Ereignis" macht es keinen Unterschied, ob eine Norm für nichtig erklärt (vgl. §§ 79 Abs.2, 31 BVerfGG) oder ob sie mit Wirkung für die Vergangenheit geändert wird.

 

Fundstellen

Haufe-Index 63463

BFH/NV 1990, 89

BStBl II 1991, 55

BFHE 162, 355

BFHE 1991, 355

BB 1991, 467

BB 1991, 467-469 (LT)

DStR 1991, 32 (KT)

DStZ 1991, 82 (KT)

HFR 1991, 135 (LT)

StE 1990, 450 (K)

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