Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung Einkommensteuer/Lohnsteuer/Kirchensteuer

 

Leitsatz (amtlich)

Es läuft der Forderung der Folgerichtigkeit steuerlichen Verhaltens gemäß den Vorschriften des Gesetzes zuwider und ist mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen Finanzverwaltung und Steuerpflichtigem nicht vereinbar, wenn ein Organträger über die Tochtergesellschaft den Wegfall der Steuerschuld bei dieser erkämpft, der automatischen Erhöhung der eigenen Steuerschuld aber widerspricht.

 

Normenkette

AO § 222 Abs. 1 Nr. 1, § 94 Abs. 1 Nr. 2; StAnpG § 4

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Steuerpflichtige - Stpfl. -) und die Firma S stehen nach dem rechtskräftigen Urteil des Finanzgerichts (FG) vom 3. Oktober 1961 zueinander in einem Organschaftsverhältnis, wobei die Stpfl. die Muttergesellschaft, die S die Tochtergesellschaft ist.

Dieser Standpunkt wurde von der Stpfl. schon bei der Abgabe der Umsatzsteuererklärung für 1959 eingenommen. Sie hatte daher in dieser Steuererklärung ihre eigenen Außenumsätze und die der S in einem Betrage angegeben. In einer Anlage zur Umsatzsteuererklärung hatte sie dargelegt, inwiefern die S nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse finanziell, organisatorisch und wirtschaftlich in ihr Unternehmen eingegliedert sei. Demgegenüber vertrat der Beklagte und Revisionskläger (Finanzamt - FA -) die Auffassung, daß die Annahme einer Organschaft am Fehlen der wirtschaftlichen Eingliederung scheitere. Es forderte von der Stpfl. getrennte Umsatzsteuererklärungen für beide Firmen an. Diesem Verlangen kam die Stpfl. unter Aufrechterhaltung ihres Rechtsstandpunkts und Ankündigung von Rechtsmitteln im Falle der Nichtberücksichtigung des Organschaftsverhältnisses nach. Das FA führte getrennte Umsatzsteuerveranlagungen für die Stpfl. und die S durch und rechnete dem Umsatz der Stpfl. deren Innenumsatz gegenüber der S zu. Im Berufungsverfahren erstritt die S das oben angegebene Urteil des FG, durch das der gegen sie ergangene Umsatzsteuerbescheid ersatzlos aufgehoben wurde. Daraufhin erließ das FA gegen die Stpfl. unter Bezugnahme auf dieses Urteil einen "Berichtigungsbescheid gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO", in dem es die von der Stpfl. in ihrer ersten Umsatzsteuererklärung angemeldeten Umsätze zugrunde legte und zu derselben Umsatzsteuerschuld 1959 kam wie seinerzeit die Stpfl.

Streitig ist, ob dieser "Berichtigungsbescheid" zu Recht ergangen ist.

Das FG hat dies im Sprungberufungsverfahren verneint. In der Vorentscheidung wird ausgeführt, die Stpfl. habe in der Anlage zur Umsatzsteuererklärung 1959 alle für die Entscheidung, ob zwischen ihr und der S ein Organschaftsverhältnis besteht, wesentlichen Tatsachen angegeben. Das FA habe aus diesen Tatsachen jedoch falsche rechtliche Schlüsse gezogen. Der Berichtigungsbescheid beruhe nicht aus dem Bekanntwerden neuer Tatsachen, sondern auf einer anderen rechtlichen Beurteilung bereits bekannter Tatsachen. Die Organschaft sei nicht erst durch das Urteil des FG vom 3. Oktober 1961 begründet worden. "Tatsachen" im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO seien Merkmale oder Teilstücke gesetzlicher Steuertatbestände, z. B. Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art, nicht dagegen Schlußfolgerungen, also nicht Urteile im Sinne der juristischen Subsumtion.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. des Vorstehers des FA, die nach dem Inkrafttreten der FGO als Revision zu behandeln ist (vgl. § 184 Abs. 2, 115 ff. FGO), führt zur Aufhebung der Vorentscheidung. Das FG hat zwar mit zutreffender Begründung dargelegt, daß eine Berichtigung des ursprünglichen Umsatzsteuerbescheides für 1959 gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO mangels Bekanntwerdens neuer Tatsachen nicht zulässig war. Es hat aber nicht geprüft, ob der "Berichtigungsbescheid" nicht auf Grund des § 94 Abs. 1 Ziff. 2 AO in Verbindung mit den Grundsätzen von Treu und Glauben aufrechtzuerhalten war.

Nach dieser Vorschrift kann das FA einen Umsatzsteuerbescheid zurücknehmen oder ändern, falls der Steuerpflichtige zustimmt oder soweit einem Antrag des Steuerpflichtigen der Sache nach entsprochen wird. Die Stpfl. hat in ihrer ersten Umsatzsteuererklärung für 1959 und in einer Anlage dazu erklärt, zwischen ihr und der S bestehe Organschaft, und dementsprechend ihren Gesamtumsatz einschließlich dem von der S getätigten Teil zur Versteuerung angemeldet. Sie hat dadurch zum Ausdruck gebracht, daß sie so, wie es später im "Berichtigungsbescheid" geschehen ist, zur Umsatzsteuer herangezogen werden will und diesen Willen in zwei nachfolgenden Schriftsätzen an das FA bekräftigt. Im zweiten Schriftsatz kündigte sie an, daß sie bei Außerachtlassung des Organschaftsverhältnisses den Rechtsmittelweg beschreiten werde. Die Rechtsmittel sind dann allerdings von der S eingelegt worden, die durch den gegen sie gerichteten Steuerbescheid belastet war. Die hierbei abgegebenen Erklärungen ihrer Tochtergesellschaft sind aber der Stpfl. als Muttergesellschaft, die nach § 2 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Ziff. 2 UStG allein als Unternehmer und damit als Steuerschuldner (vgl. § 9 UStG) in Betracht komme, zuzurechnen, zumal die Vorstandsmitglieder der Stpfl. zugleich Geschäftsführer der GmbH sind und infolgedessen bezüglich ein und desselben Rechtsverhältnisses keine gegensätzlichen Erklärungen abgeben können. Noch im Schriftsatz vom 7. März 1961 hat die Prozeßbevollmächtigte der S, die zugleich die Stpfl. vertritt, beantragt, "die Veranlagung der Firma S zur Umsatzsteuer aufzuheben und unserem Antrag auf einheitliche Veranlagung beider Firmen zur Umsatzsteuer gemäß §§ 2 Abs. 2 Ziff. 2, 11 Abs. 1 Satz 2 UStG zu entsprechen". Dem zweiten Teil dieses Antrages ist durch Erlaß des "Berichtigungsbescheides" der Sache nach entsprochen worden.

Allerdings dürfte in der Erklärung der Prozeßbevollmächtigten der S im Schriftsatz vom 9. Mai 1961, die Entscheidung der Frage, ob die Abänderung des an die Stpfl. gerichteten Umsatzsteuerbescheides 1959 ohne deren Zustimmung zulässig ist, solle im Falle der Durchführung dieser Maßnahme einem Rechtsmittelverfahren vorbehalten bleiben, ein Widerruf des Antrages auf Zurechnung des Umsatzes der S zum Umsatz der Stpfl. zu erblicken sein. Diesem Widerruf muß jedoch die rechtliche Wirkung versagt werden. Der VI. Senat hat im Urteil VI 310/60 U vom 7. Dezember 1962 (Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bd. 76 S. 446, BStBl III 1963, 162) entschieden, daß es unter besonderen Umständen gegen Treu und Glauben verstößt, wenn ein Steuerpflichtiger die Zustimmung zu einer Berichtigung des Steuerbescheides gemäß § 94 Abs. 1 Ziff. 2 AO verweigert. Solche besonderen Umstände hatte der VI. Senat angenommen, weil zwischen zwei einander folgenden Veranlagungen desselben Steuerpflichtigen insofern ein Zusammenhang bestand, als die Minderung der Steuerschuld in einem Veranlagungszeitraum zwangsläufig eine Erhöhung der Steuerschuld im anderen Veranlagungszeitraum nach sich zog. Ein prinzipieller Unterschied zwischen diesem und dem vorliegenden Falle ist nicht feststellbar. Das von der Stpfl. angenommene und vom FG bestätigte Organschaftsverhältnis zwischen ihr und der S hatte zwangsläufig zur Folge, daß einerseits die Steuerschuld bei der Tochtergesellschaft wegfiel, anderseits die Steuerschuld der Muttergesellschaft sich erhöhte. Es läuft der Forderung der Folgerichtigkeit steuerlichen Verhaltens gemäß den Vorschriften des Gesetzes zuwider, wenn ein Organträger über die Tochtergesellschaft den Wegfall der Steuerschuld bei dieser erkämpft, der automatischen Erhöhung der eigenen Steuerschuld aber widerspricht bzw. einen früher selbst gestellten Antrag auf Erhöhung widerruft, obwohl ihm die Zusammenhänge von Anfang an klar waren und der Streit mit dem FA in Wirklichkeit nur um die Besteuerung oder Nichtbesteuerung der zwischen ihm und der Tochtergesellschaft bewirkten Leistungen ging. Ein solches widersprüchliches Verhalten ist mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen Finanzverwaltung und Steuerpflichtigen nicht vereinbar. Das Ergebnis entspricht Gedankengängen, die den Gesetzgeber in § 4 des Steueranpassungsgesetzes veranlaßt haben, bei rückwirkendem Wegfall gewisser Tatbestandsmerkmale eine änderung der Steuerfestsetzung vorzuschreiben.

Auf die Revision des FA war daher die Vorentscheidung aufzuheben und die Berufung (jetzt Klage) gegen den "Berichtigungsbescheid" des FA als unbegründet zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 412187

BStBl III 1966, 613

BFHE 1966, 541

BFHE 86, 541

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