Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtsfolgen einer mißlungenen Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung

 

Leitsatz (NV)

1. Erläßt das FA eine Einspruchsentscheidung, deren Bekanntgabe mißlingt, so schließt dies nicht die Erhebung einer gemäß § 44 Abs. 1 FGO zulässigen Klage aus.

2. Eine Sachverhaltsunterstellung durch das FG entspricht jedenfalls dann nicht dem Gesamtergebnis der Verhandlung, wenn sie durch keine ausreichenden tatsächlichen Feststellungen getragen wird.

3. Die Überzeugungsbildung eines FG darf erst nach einer an sich gebotenen Beweiserhebung ansetzen.

 

Normenkette

FGO § 44 Abs. 1, § 96 Abs. 1 S. 1; VwZG § 9 Abs. 2; AO 1977 § 122 Abs. 2

 

Verfahrensgang

FG Rheinland-Pfalz

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war ab 1982 an der X-GmbH als atypisch stiller Gesellschafter beteiligt. Nachdem das Finanzamt Y zunächst für 1984 einen Verlust aus dieser Beteiligung in Höhe von 274 848 DM gesondert festgestellt hatte, teilte es unter dem 15. März 1991 dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt -- FA --) mit, daß für die Jahre 1982 bis 1986 keine Einkünfte aus der stillen Beteiligung festgestellt worden seien, weil diese steuerlich nicht anerkannt werden könne. Deshalb änderte das FA unter dem 14. Mai 1991 den ursprünglich ergangenen Einkommensteuerbescheid 1984, dem ein entsprechender Verlust aus Gewerbebetrieb zugrunde gelegt worden war.

Gegen den Bescheid vom 14. Mai 1991 legte der Kläger Einspruch ein. Unter dem 17. Dezember 1991 und 31. März 1993 erließ das FA Änderungsbescheide zur Einkommensteuer 1984, in dem es zusätzlich Einkünfte des Klägers aus dessen stiller Beteiligung an einer ausländischen Kapitalgesellschaft in Höhe von 1 483 638 DM als Einkünfte aus Gewerbebetrieb unter Anrechnung der ausländischen Quellensteuer erfaßte. Der ursprünglich eingelegte Einspruch setzte sich gegen die Änderungsbescheide fort.

Nachdem das FA die Ehefrau des Klägers gemäß § 360 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) zum Einspruchsverfahren hinzugezogen hatte, wies es denselben unter dem 11. Mai 1993 als unbegründet zurück. In der Einspruchsentscheidung führte es hinsichtlich der ausländischen Beteiligungseinkünfte aus, diese unterlägen nach Maßgabe des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem ausländischen Staat ... zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen der inländischen Besteuerung.

Die Einspruchsentscheidung wurde dem Kläger mittels einfachem Brief zugesandt, dessen Absendung am 11. Mai 1993 das FA in den Akten vermerkte. In einem Aktenvermerk vom 30. Juni 1993 über ein mit dem Kläger geführtes Telefongespräch hielt das FA fest, daß dieser den Zugang der Einspruchsentscheidung 1984 bestreite. Der Kläger behauptete, nur die Einspruchsentscheidung zur Einkommensteuer 1982 und 1983 erhalten zu haben, die nach Angaben des FA in einem Briefumschlag zusammen mit der Einspruchsentscheidung 1984 an den Kläger abgesandt worden sein soll. Dem hält das FA das Schreiben des Klägers vom 17. Mai 1993 entgegen, in dem sich dieser auf eine Einspruchsentscheidung vom 11. Mai 1993 beziehe. Auf Wunsch des Klägers übersandte das FA diesem unter dem 2. Juli 1993 eine Kopie der Einspruchsentscheidung 1984.

Mit Schriftsatz vom 23. Juli 1993 -- beim Finanzgericht (FG) eingegangen am 26. Juli 1993 -- erhob der Kläger Klage, die das FG als unzulässig abgewiesen hat.

Gegen das Urteil legte der Kläger die vom Bundesfinanzhof (BFH) zugelassene Revision ein. Sie ist auf Verfahrensfehler und Verletzung materiellen Rechts gestützt.

Der Kläger beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und den angefochtenen Einkommensteuerbescheid entsprechend dem Antrag vor dem FG zu ändern.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).

1. Die Vorentscheidung verletzt § 44 Abs. 1 FGO insoweit, als das FG davon ausgegangen ist, es liege eine wegen eines nicht abgeschlossenen Vorverfahrens unzulässige Anfechtungsklage vor, wenn dem FA die an sich beabsichtigte Bekanntgabe einer Einspruchsentscheidung mißlingt, der betroffene Steuerpflichtige in anderer Weise von der mißlungenen Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung erfährt und seinerseits Klage erhebt. Der erkennende Senat pflichtet dieser Rechtsauffassung nicht bei. Zwar gilt § 122 Abs. 1 AO 1977 auch für das Wirksamwerden einer Einspruchsentscheidung (§ 366 AO 1977). Deshalb treten die Rechtsfolgen der Bekanntgabe einer Einspruchsentscheidung nicht ein, wenn dieselbe nicht ordnungsgemäß in den Machtbereich ihres Adressaten gelangt. Es ist jedoch zwischen der Zulässigkeit einer Anfechtungsklage und den Folgen von Bekanntgabemängeln einer Einspruchsentscheidung zu unterscheiden. Dem Kläger darf nicht das Risiko eines rechtsunwirksam abgeschlossenen Vorverfahrens aufgebürdet werden. § 44 Abs. 1 FGO verlangt nur, daß das Vorverfahren über den außergerichtlichen Rechtsbehelf ganz oder zum Teil erfolglos geblieben ist. Sinn der Vorschrift ist es, der Verwaltung Gelegenheit zu geben, im Interesse der Steuerpflichtigen und im eigenen Interesse (Selbstkontrolle) die Sach- und Rechtslage erneut zu überprüfen. Die FG sollen nicht mit unzureichend vorbereiteten Verfahren belastet werden. Tatsächlich ist das Vorverfahren jedoch abgeschlossen, wenn das FA eine Einspruchsentscheidung anfertigt, dieselbe unterschreibt und zwecks Bekanntgabe an den Adressaten zur Post gibt. § 44 Abs. 1 FGO verlangt nur den Abschluß eines Prozesses, der sich innerhalb der Verwaltung vollzieht, jedoch keine mängelfreie Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung. Zwar können Mängel in der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung es verhindern, daß die Frist für die Klageerhebung in Lauf gesetzt wird. Nach dem Sinn und Zweck des § 44 Abs. 1 FGO ist jedoch eine trotz mangelhafter Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung erhobene Klage zulässig. Dies folgt nicht zuletzt aus dem Rechtsgedanken des § 9 Abs. 1 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG), der zwar unmittelbar nur für Zustellungen gilt. Die Zustellung ist jedoch nur eine besondere Form der Bekanntgabe (vgl. § 122 Abs. 5 AO 1977), weshalb es zulässig ist, den Rechtsgedanken im Schluß von mehr zum weniger auf die Bekanntgabe zu übertragen. Dem steht § 9 Abs. 2 VwZG nicht entgegen. Die Vorschrift besagt nur, daß die in ihr genannten Fristen nicht in Gang gesetzt werden.

2. Das FG hat der Vorentscheidung nicht das "Gesamtergebnis der Verhandlung" zugrunde gelegt. Damit hat es § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO verletzt.

Das FG ist im Wege eines Indizienbeweises zu der Überzeugung gelangt, daß der Sachvortrag des FA zutreffend sein müsse. Diese Annahme beruht jedoch auf der Unterstellung eines bestimmten Sachverhaltes als richtig und nicht auf dessen Ermittlung. Eine solche Sachverhaltsunterstellung entspricht jedenfalls dann nicht dem Gesamtergebnis der Verhandlung, wenn sie durch keine ausreichenden tatsächlichen Feststellungen getragen wird.

Das FG nennt als Indizien, auf die es seine Überzeugungsbildung gestützt hat, nur das Schreiben des Klägers vom 11. Mai 1993. Dieses Schreiben bezieht sich jedoch ausweislich seines Betreffs nur auf die Einkommensteuerbescheide 1982 und 1983. Es schließt nicht aus, daß das FA z. B. irrtümlich die beiden Einspruchsentscheidungen zu den Einkommensteuern 1982 und 1983 in einen Briefumschlag nur an den Kläger und die beiden Einspruchsentscheidungen zur Einkommensteuer 1984 in einem weiteren Briefumschlag nur an dessen Ehefrau sandte. Bei dieser Sachlage kann denkgesetzlich die Schlußfolgerung nicht gezogen werden, der Kläger müsse die Einspruchsentscheidung 1984 erhalten haben. Damit fehlt es letztlich an jedem Indiz, das für sich genommen für die Richtigkeit der Sachdarstellung des FA spricht.

Das FG beruft sich zwar außerdem auf seine eigene Überzeugungsbildung. Die Überzeugungsbildung eines FG darf jedoch erst nach einer an sich gebotenen Beweiserhebung ansetzen. So gesehen ist die eigene Überzeugungsbildung des FG jedenfalls solange keine geeignete Grundlage für einen Indizienbeweis, als eine Beweiserhebung nach den allgemeinen Beweisregeln geboten ist. Das FG war jedoch gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO gehalten, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Es mußte dem Antrag des FA entsprechend die Sachbearbeiterin Z als Zeugin vernehmen, weil die Beweislast gemäß § 122 Abs. 2 zweiter Halbsatz AO 1977 beim FA liegt. Es durfte eine entsprechende Beweiserhebung nicht unter Hinweis auf seine ohnehin schon gebildete eigene Überzeugung ablehnen. Wenn es dennoch ohne Beweiserhebung entschied, so leidet die Vorentscheidung an einem Verfahrensfehler, der zu ihrer Aufhebung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG führt.

 

Fundstellen

Haufe-Index 421155

BFH/NV 1996, 554

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