Leitsatz (amtlich)

"Besondere Umstände", die die Erhebung einer "Untätigkeitsklage" vor Ablauf der in § 46 Abs. 1 Satz 2 FGO vorgesehenen Frist zulässig machen, sind jedenfalls nicht darin zu sehen, daß es sich bei dem angefochtenen Verwaltungsakt um einen Haftungsbescheid handelt.

 

Normenkette

FGO § 46 Abs. 1 S. 2

 

Tatbestand

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das FA) erließ am 1. März 1972 einen Haftungsbescheid, mit dem der Kläger und Revisionskläger (Kläger) für Steuerschulden einer GmbH in Anspruch genommen wurde. Der Haftungsbescheid wurde damit begründet, daß der Kläger ein Bankkonto unterhalte, auf dem Gelder der GmbH verbucht worden seien. Daraus ergebe sich eine Haftung des Klägers nach den §§ 118, 163 AO.

Gegen den am 2. März 1972 zugestellten Haftungsbescheid legte der Kläger am 7. März 1972 Einspruch ein. Er bestritt, daß die Voraussetzungen einer Haftung nach den §§ 118, 163 AO vorgelegen haben.

Am 17. März 1972 erhob der Kläger Untätigkeitsklage. Er ist der Auffassung, daß das FA unter den gegebenen Umständen innerhalb einer Frist von zehn Tagen über seinen Einspruch hätte entscheiden müssen. Der angefochtene Haftungsbescheid stehe im Zusammenhang mit einer (gegen die GmbH erlassenen) Arrestanordnung. Bei dieser Arrestanordnung habe das FA außergewöhnlich schnell gearbeitet. Es könne dann auch bei einer im Zusammenhang hiermit stehenden Verbescheidung eines Rechtsbehelfs ein schnelles Handeln erwartet werden.

Das FG wies die Klage mit Urteil vom 22. Juni 1972 ab. Zur Begründung führte es aus, eine Untätigkeitsklage sei regelmäßig erst zulässig, wenn seit der Einlegung des außergerichtlichen Rechtsbehelfs neun Monate verstrichen seien. Etwas anderes gelte nur dann, wenn wegen Vorliegens besonderer Umstände eine Entscheidung in kürzerer Frist geboten sei. Derartige Umstände seien jedoch im Streitfall nicht erkennbar. Der vom Kläger behauptete Zusammenhang zwischen dem Haftungsbescheid und der Arrestanordnung gegen die GmbH bestehe nicht. Der Haftungsbescheid sei erst drei Monate nach der Arrestanordnung ergangen. Im übrigen könne von der Eilbedürftigkeit des Arrestverfahrens nicht auf die Dringlichkeit einer Rechtsbehelfsentscheidung im Verfahren über einen wesentlich später ergangenen Haftungsbescheid geschlossen werden.

Mit seiner Revision rügt der Kläger, daß das FG den in § 46 Abs. 1 Satz 2 FGO enthaltenen Begriff der "besonderen Umstände" verkannt habe. Er wiederholt seine Auffassung, nach der die Untätigkeitsklage auch schon vor Ablauf der in § 46 Abs. 1 Satz 2 FGO vorgesehenen Frist habe erhoben werden dürfen. Dazu trägt er vor, das FA habe sein - des Klägers - Konto zunächst aufgrund der gegen die GmbH verfügten Arrestanordnung gepfändet. Erst nachdem er - der Kläger - hiergegen Drittwiderspruchsklage erhoben habe, habe das FA den Haftungsbescheid erlassen, um die auf die Arrestanordnung gestützte Pfändung zu "retten". Die Drittwiderspruchsklage sei mangels Rechtsschutzbedürfnis abgewiesen worden mit der Begründung, daß selbst bei Aufhebung der früheren Pfändung sein Konto wegen der nunmehr zur Vollziehung des Haftungsbescheides ergangenen Vollstreckungsmaßnahmen gepfändet bleibe. Gegen das die Drittwiderspruchsklage abweisende Urteil habe er Berufung eingelegt, mit der er wahrscheinlich nur Erfolg haben könne, wenn das FA den rechtswidrigen Haftungsbescheid aufhebe oder zu seiner Aufhebung angehalten werde. Der Erfolg seiner Drittwiderspruchsklage hänge somit von dem Erfolg des Einspruchs gegen den Haftungsbescheid ab. Darin liege ein besonderer Umstand, der eine Klageerhebung vor Ablauf der in § 46 Abs. 1 Nr. 2 FGO genannten Fristen zulässig mache.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen. Für den Kläger entstünden keine unverhältnismäßigen Nachteile, wenn über den Einspruch nicht vor Ablauf der Neunmonatsfrist entschieden werde. Zur Aufklärung des Sachverhalts sei die Steuerfahndungsstelle der OFD eingeschaltet worden. Ein abschließender Bericht dieser Stelle, der für die Entscheidung über den Einspruch von Bedeutung sein könne, liege noch nicht vor. Besondere Umstände im Sinne des § 46 Abs. 1 Satz 2 FGO seien auch nicht etwa darin zu sehen, daß der Kläger den im Haftungsbescheid genannten Betrag von 6 987 DM an das FA abgetreten habe.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

1. Für den Fall, daß über einen außergerichtlichen Rechtsbehelf ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist nicht entschieden worden ist, kann eine Klage ohne vorherigen Abschluß eines Vorverfahrens erhoben werden (§ 46 Abs. 1 Satz 1 FGO). In der Regel ist eine solche "Untätigkeitsklage" jedoch nicht vor Ablauf gewisser Fristen zulässig. Nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FGO kann die Klage nicht vor Ablauf von sechs Monaten seit Einlegung des außergerichtlichen Rechtsbehelfs erhoben werden; bei Verwaltungsakten im Sinne des § 229 AO auf dem Gebiet der Besitz- und Verkehrsteuern beträgt diese Frist für die Zeit bis zum 31. Dezember 1972 sogar neun Monate (§ 158 Abs. 1 FGO in Verbindung mit den Verordnungen vom 19. Dezember 1968 - BGBl I 1394, BStBl I 1969, 2 - und vom 23. Dezember 1970 - BGBl I S. 1866, BStBl I 1971, 27 -). Eine vorher erhobene Klage ist unzulässig, wenn nicht besondere Umstände eine kürzere Frist rechtfertigen (§ 46 Abs. 1 Satz 2 FGO; Beschluß des BFH vom 22. September 1967 VI B 19/67, BFHE 90, 274, BStBl II 1968, 61).

Im Streitfall hat der Kläger die Neunmonatsfrist der §§ 46 Abs. 1 Satz 2, 158 Abs. 1 FGO nicht gewahrt. Er hat seinen Einspruch am 7. März 1972 eingelegt und die Klage bereits am 17. März 1972 erhoben; die Neunmonatsfrist endet jedoch erst am 7. Dezember 1972.

Es lagen auch keine besonderen Umstände vor, die eine Klageerhebung vor Ablauf der Neunmonatsfrist gerechtfertigt hätten. Als besondere Umstände in diesem Sinne kommen nur Sachverhalte in Betracht, die entweder die Person des Klägers betreffen (wie z. B. Auswanderung, Einberufung zum Wehrdienst; vgl. Redekerv. Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 4. Aufl., Anm. 6 zu der dem § 46 FGO vergleichbaren Vorschrift des § 75 VwGO) oder aber in der Natur der Sache liegen (wie z. B. Vollstreckungsmaßnahmen; vgl. hierzu Ziemer-Birkholz, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., RdNr. 17 zu § 46). Ein von der Sache her anzuerkennendes Bedürfnis nach einer vorzeitigen Untätigkeitsklage besteht jedenfalls nicht, wenn nur die Rechtmäßigkeit eines Haftungsbescheides im Streit ist. Denn der Kläger hat es in diesen Fällen in der Hand, durch einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (§ 69 FGO) etwaige Nachteile, die sich aus einer sofortigen Vollziehung des Haftungsbescheides für ihn ergeben könnten, bis zur Entscheidung über den Haftungsbescheid von sich abzuwenden.

Der im vorliegenden Fall vom Kläger geltend gemachte Umstand, daß eine Drittwiderspruchsklage anhängig sei, für die die Entscheidung über den Einspruch nach seiner Auffassung präjudizielle Bedeutung hat, kann im Revisionsverfahren nicht berücksichtigt werden. Denn hierbei handelt es sich um Tatsachen, die nicht vom FG festgestellt, sondern erst in der Revisionsinstanz vorgetragen worden sind (vgl. § 118 Abs. 2 FGO).

Wenn aber keine besonderen Umstände vorlagen, die eine Klageerhebung vor Ablauf der Neunmonatsfrist zulässig gemacht hätten, dann war die Klage unzulässig.

2. Ob der Mangel der verfrühten Klageerhebung durch Ablauf der in § 46 Abs. 1 Satz 2 FGO vorgesehenen Frist heilbar ist (so Urteil des BVerwG vom 20. Januar 1966 I C 24.63 - BVerwGE 23, 135 - zu der der Vorschrift des § 46 Abs. 1 Satz 2 FGO entsprechenden Vorschrift des § 75 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung) und das FG deswegen den Ablauf dieser Frist hätte abwarten und zu diesem Zweck das Verfahren hätte aussetzen müssen (so BVerwG-Urteil I C 24.63), kann hier dahinstehen. Eine Prüfung dieser Frage ist im vorliegenden Fall nicht veranlaßt, da es an einer entsprechenden Verfahrensrüge fehlt (vgl. § 120 Abs. 1 Satz 2 FGO).

 

Fundstellen

Haufe-Index 70315

BStBl II 1973, 228

BFHE 1973, 489

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