Entscheidungsstichwort (Thema)

Pflegekindschaftsverhältnis bei Aufnahme eines Volljährigen

 

Leitsatz (NV)

Zu einem Volljährigen kann ein Pflegekindschaftsverhältnis nur bei Vorliegen besonderer Umstände (z.B. Hilflosigkeit oder Behinderung) begründet werden. Das gilt auch dann, wenn der Steuerpflichtige gleichzeitig die Adoption des Volljährigen betreibt.

 

Normenkette

EStG § 32 Abs. 1 Nr. 2

 

Verfahrensgang

Hessisches FG (Urteil vom 16.10.2001; Aktenzeichen 2 K 1890/99)

 

Tatbestand

I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) nahm am 1. Mai 1996 den 1976 geborenen K in seinen Haushalt auf. K, der 1991 nach Deutschland gekommen war, hatte hier keine Verwandten. Zu seinen leiblichen Eltern hatte er keinen Kontakt mehr. Im Mai 1997 stellten der Kläger und K einen Adoptionsantrag; im Januar 1999 wurde die Adoption ausgesprochen.

Der Beklagte und Revisionskläger (Beklagter) lehnte den am 14. Januar 1999 gestellten Antrag des Klägers auf Kindergeld für K für die Zeit von Mai 1996 bis Dezember 1998 ab, weil ein Pflegekindschaftsverhältnis im Sinne des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht anerkannt werden könne, wenn das Kind erst nach Eintritt der Volljährigkeit in den Haushalt aufgenommen werde. Der Einspruch des Klägers hatte keinen Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage in vollem Umfang statt. Zur Begründung führte es aus, dass die Volljährigkeit eines Kindes der Anerkennung eines Pflegekindschaftsverhältnisses nicht grundsätzlich entgegenstehe. Es stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger und K durch ein familienähnliches, auf Dauer berechnetes Band verbunden gewesen seien.

Mit seiner Revision rügt der Beklagte die Verletzung von § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG sowie von § 52 Abs. 62 EStG.

Der Beklagte beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger hat sich nicht geäußert.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Dem Kläger stand im streitigen Zeitraum kein Kindergeld für K zu.

1. Für die Zeit von Mai 1996 bis Juni 1997 hat der Kläger schon deshalb keinen Anspruch auf Kindergeld für K, weil er den Antrag auf Kindergeld erst im Januar 1999 gestellt hat.

Nach dem mit Wirkung zum 1. Januar 1998 aufgehobenen § 66 Abs. 3 EStG 1997 war Kindergeld rückwirkend nur für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats zu leisten, in dem der Antrag auf Kindergeld bei der Behörde eingegangen ist. Gemäß § 52 Abs. 62 EStG ist diese Vorschrift letztmals für das Kalenderjahr 1997 anzuwenden, so dass Kindergeld auf einen nach dem 31. Dezember 1997 gestellten Antrag rückwirkend längstens bis einschließlich Juli 1997 gezahlt werden kann. Die darin liegende materiell-rechtliche Ausschlussfrist ist verfassungsgemäß (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 14. Mai 2002 VIII R 68/00, BFH/NV 2002, 1293, unter 4. der Gründe). Die Vorschrift ist lediglich dann nicht anzuwenden, wenn die Berufung der Behörde darauf gegen Treu und Glauben verstößt (BFH-Urteile in BFH/NV 2002, 1293, unter 5. der Gründe; vom 23. März 2001 VI R 181/98, juris). Im Streitfall liegen Anhaltspunkte für eine unzulässige Rechtsausübung der Behörde nicht vor.

2. Für die Zeit von Juli 1997 bis Dezember 1998 stand dem Kläger ebenfalls kein Kindergeld für K zu. K war in dieser Zeit nicht als Pflegekind des Klägers i.S. von § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG zu berücksichtigen.

a) Ein Pflegekind ist nach der Legaldefinition des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG eine Person, mit der der Steuerpflichtige durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie in seinen Haushalt aufgenommen hat und das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den Eltern nicht mehr besteht.

b) Diese Voraussetzungen lagen im Streitfall nicht vor.

aa) Unstreitig hat der Kläger den K zwar in seinen Haushalt aufgenommen. Auch ein Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den leiblichen Eltern des K bestand nicht mehr. Darauf, ob der Kläger den K zu einem nicht unwesentlichen Teil auf seine Kosten unterhielt, kommt es seit der Änderung des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG durch das Zweite Gesetz zur Änderung steuerlicher Vorschriften vom 15. Dezember 2003 (Steueränderungsgesetz 2003 --StÄndG 2003--, BGBl I 2003, 2645, BStBl I 2003, 710) nicht mehr an. Diese Regelung ist gemäß Art. 25 Abs. 1 StÄndG 2003 am 20. Dezember 2003 in Kraft getreten und in allen Fällen anwendbar, in denen die Einkommensteuer noch nicht bestandskräftig festgesetzt ist (Art. 1 Nr. 34 Buchst. h StÄndG 2003). Für nicht bestandskräftige Kindergeldbescheide bzw. die Festsetzung von Kindergeld ablehnende Bescheide kann nichts anderes gelten.

bb) Es fehlte jedoch an dem familienähnlichen Band zwischen dem Kläger und K. Ein familienähnliches Band liegt vor, wenn das Kind wie zur Familie angehörig angesehen und behandelt wird. Dies wird --im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Bundeskindergeldgesetz --BKGG-- (BSG-Urteile vom 20. Januar 1982  10/8b RKg 19/80, SozR 5870 § 2 BKGG Nr. 27; vom 7. August 1991  10 RKg 15/91, BSGE 69, 191; vom 22. September 1993  10 RKg 6/92, SozR 3-5870 § 2 BKGG Nr. 20; vom 19. November 1997  14/10 RKg 18/96, Fürsorgerechtliche Entscheidungen der Verwaltungs- und Sozialgerichte --FEVS-- 48, 188)-- allgemein dann angenommen, wenn zwischen dem Steuerpflichtigen und dem Kind ein Aufsichts-, Betreuungs- und Erziehungsverhältnis wie zwischen Eltern und leiblichen Kindern besteht (Hessisches FG, Urteil vom 1. Oktober 1997  2 K 4873/96, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1998, 101, 102; FG Düsseldorf, Urteil vom 27. Februar 1998  18 K 1354/97 KG, EFG 1998, 953).

In der finanzgerichtlichen Rechtsprechung und im Schrifttum wird überwiegend die Auffassung vertreten, dass sich ein familienähnliches Band mit einem bereits Volljährigen nur bei Hilflosigkeit oder Behinderung des Volljährigen oder bei Vorliegen sonstiger besonderer Umstände begründen lasse (Hessisches FG, Urteil in EFG 1998, 101, 102; FG Düsseldorf, Urteil in EFG 1998, 953; FG Hamburg, Urteil vom 5. März 2002 III 460/01, EFG 2002, 993; FG Köln, Urteil vom 5. Juni 2002  10 K 238/01, EFG 2002, 1310; Schmidt/Glanegger, Einkommensteuergesetz, Kommentar, 23. Aufl., § 32 Rz. 21; Jachmann in Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, Einkommensteuergesetz, Kommentar, § 32 Rdnr. B 12; Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach --HHR--, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz, Kommentar, 21. Aufl., § 32 EStG Anm. 45; ähnlich Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach A, I. Kommentierung, § 32 EStG Rn. 9; a.A. FG Baden-Württemberg, Urteil vom 26. Juli 2001  6 K 107/00, EFG 2001, 1454; Blümich/Heuermann, Einkommensteuergesetz, Körperschaftsteuergesetz, Gewerbesteuergesetz, Kommentar, 15. Aufl., § 32 EStG Rz. 43; vgl. auch FG Münster, Urteil vom 30. Juli 1998  3 K 7530/97 Kg, EFG 1999, 74, für ein fast volljähriges Kind). Dies wird damit begründet, dass die körperliche Versorgung und Erziehung des Pflegekindes, die Voraussetzung für die Annahme eines familienähnlichen Bandes sei, bei einem gesunden Volljährigen in der Regel keine entscheidende Rolle mehr spiele (FG Düsseldorf, Urteil in EFG 1998, 953 f.). Auch das BSG hält die Begründung eines Pflegekindschaftsverhältnisses i.S. des --insoweit mit § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG übereinstimmenden-- § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 BKGG (ab Juni 1985: § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BKGG) mit einem bereits volljährigen Kind nur unter bestimmten besonderen Umständen für möglich (Urteil vom 20. Januar 1982  10 RKg 14/81, SozR 5870, § 2 BKGG Nr. 28; anders aber wohl BSG-Urteil vom 29. Juli 1982  10 RKg 4/82, juris).

Der Senat schließt sich der herrschenden Auffassung an. Ein gesunder Volljähriger bedarf regelmäßig keiner Aufsicht, Betreuung oder Erziehung mehr, wie § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG sie voraussetzt. Diese Wertung steht in Übereinstimmung mit der zivilrechtlichen Rechtslage. Gemäß § 1626 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) endet die Personensorge, die gemäß § 1631 BGB die Pflicht und das Recht zur Pflege, Erziehung, Beaufsichtigung und Aufenthaltsbestimmung des Kindes umfasst, mit der Volljährigkeit des Kindes. Auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass das elterliche Recht zur Pflege und Erziehung des Kindes mit Eintritt der Volljährigkeit erlischt (BVerfG-Beschlüsse vom 18. Juni 1986  1 BvR 857/85, BVerfGE 72, 122, 137; vom 13. Januar 1987  2 BvR 209/84, BVerfGE 74, 102, 125). Entsprechend kommt die Leistung von Betreuungsunterhalt i.S. des § 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB, also die Erfüllung der Unterhaltspflicht durch Leistung von Pflege und Erziehung, bei einem volljährigen Kind, auch wenn es noch im Haushalt eines Elternteils lebt, nicht mehr in Betracht (Bundesgerichtshof, Urteil vom 2. März 1994 XII ZR 215/92, Neue Juristische Wochenschrift 1994, 1530).

Besondere Umstände, wie z.B. eine Behinderung oder Hilflosigkeit des volljährigen Kindes, die ausnahmsweise zu einer anderen Beurteilung führen könnten, sind im Streitfall nicht ersichtlich.

Auf die Tatsache, dass der Kläger im streitigen Zeitraum die Adoption des K betrieb, kommt es bei dieser Sachlage nicht an. Voraussetzung der Adoption eines Volljährigen ist nicht dessen Pflege- und Erziehungsbedürftigkeit, wie § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG sie erfordert (zu den Voraussetzungen der Adoption eines Volljährigen vgl. Maurer in Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, herausgegeben von Rebmann/Säcker, 4. Aufl., § 1767 Rdnr. 5 f.).

 

Fundstellen

Haufe-Index 1310345

BFH/NV 2005, 524

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