Leitsatz (amtlich)

1. Die Gesetzeskraft einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, durch die eine Vorschrift für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt worden ist, erstreckt sich auf eine die erstgenannte Vorschrift ablösende neue Vorschrift auch dann nicht, wenn diese mit der erstgenannten wort- und inhaltsgleich ist. Die Gültigkeit der neuen Vorschrift ist ohne Bindung an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu prüfen.

2. § 3 Abs. 1 KVStG 1959 ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

2. Die Sachlage gebietet stets dann eine Kapitalzuführung, wenn ohne die Zuführung von Eigenkapital oder diesem funktionsgleichen Fremdkapitals die Gesellschaft nicht weiterbestehen oder ihren Geschäftsbetrieb nicht mehr in der vorgesehenen Art oder in dem vorgesehenen Umfang weiterführen könnte.

2. Ist eine Kapitalzuführung infolge behördlicher Anforderungen geboten, denen sich die Gesellschaft nicht entziehen kann oder nicht entziehen will, so kommt es für die Gesellschaftsteuerpflicht nicht darauf an, ob das Anlagevermögen der Gesellschaft durch Eigenkapital gedeckt oder ob aus der Sicht der Gesellschaft die Kapitalzuführung betriebswirtschaftlich geboten ist.

 

Normenkette

GG Art. 94 Abs. 2; BVerfGG § 31 Abs. 2 S. 1, Abs. 1; KVStG § 3 Abs. 1; KWG § 10

 

Tatbestand

Die Klägerin ist eine der Bankenaufsicht unterliegende Kreditkasse in der Rechtsform einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Ihr Stammkapital beträgt 60 000 DM. Sie hat von einem ihrer Gesellschafter, einer Genossenschaftsbank, ein ungesichertes zinsloses Darlehen von 250 000 DM erhalten, das vereinbarungsgemäß erst nach Befriedigung aller übrigen Gläubiger zurückgefordert werden kann. Das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen hat dem Antrag der Klägerin, den Darlehnsbetrag in Ansehung seiner Grundsätze über die Angemessenheit des haftenden Eigenkapitals wie Eigenkapital zu berücksichtigen, stattgegeben.

Das FA - Beklagter - hat daraus geschlossen, daß die Darlehnsgewährung eine durch die Sachlage gebotene Kapitalzuführung ersetze, und hat die Klägerin zur Gesellschaftsteuer herangezogen. Die Klägerin hält diese Voraussetzung nicht für erfüllt, weil ihr Anlagevermögen voll durch Eigenkapital gedeckt sei. Das FG hat ihre Anfechtungsklage abgewiesen (Entscheidungen der Finanzgerichte 1968 S. 375 - EFG 1968, 375 -).

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision der Klägerin ist unbegründet.

Die Verfahrensrüge geht fehl. Daß das FG sich nicht ausdrücklich mit einem früheren Urteil zugunsten der Klägerin auseinandergesetzt hat, verletzt weder den gerügten Grundsatz des rechtlichen Gehörs noch würde es die nicht erhobene Rüge aus § 119 Nr. 6 FGO rechtfertigen. Überdies betraf dieses Urteil einen anderen Sachverhalt.

Für die Entscheidung maßgebend ist § 3 Abs. 1 KVStG in der Fassung des Art. 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Änderung verkehrsteuerrechtlicher Vorschriften vom 25. Mai 1959 (BGBl I, 261). Diese Vorschrift wird von der Gesetzeskraft (Art. 94 Abs. 2 GG, § 31 Abs. 2 Satz 1, § 13 Nr. 11 BVerfGG) des zu § 3 Abs. 1 des KVStG in der Fassung vom 22. September 1955 (BGBl I, 590) ergangenen Beschlusses des BVerfG vom 10. Oktober 1961 - 2 BvL 1/59 - (BVerfGE 13, 153, BGBl I, 1297) nicht erfaßt, da § 3 KVStG insgesamt neu verabschiedet worden ist. Trotz gleichen Wortlauts und Inhalts des § 3 Abs. 1 Satz 1 KVStG 1955 und des § 3 Abs. 1 KVStG 1959 ist der BFH auch nicht gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG gebunden. Daher ist zunächst zu prüfen, ob § 3 Abs. 1 KVStG 1959 mit dem GG vereinbar ist.

Von dem Standpunkt des BVerfG abweichend hat der Österreichische Verfassungsgerichtshof durch Erkenntnis vom 27. Juni 1969 - G 17/68 - den ersten Satz des § 3 Abs. 1 KVStG vom 16. Oktober 1934 (Reichsgesetzblatt I S. 1058) in der in Österreich übernommenen und geltenden Fassung wegen inhaltlicher Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit als verfassungswidrig aufgehoben. Die Entscheidung beruht auf der Überzeugung, daß die Betriebswirtschaftslehre nicht in der Lage sei, dem vom Gesetz in keiner Weise umschriebenen Begriff der Sachlage, die eine Kapitalzuführung gebietet, einen bestimmbaren Inhalt zu geben.

Wenn und soweit diese Auffassung durchgreift, ist allerdings auch § 3 Abs. 1 KVStG 1959 unanwendbar. Ebenso wie § 3 Abs. 1 Satz 1 KVStG 1934 unterwirft er der Gesellschaftsteuer die Gewährung von Darlehen an eine inländische Kapitalgesellschaft durch einen Gesellschafter, wenn die Darlehnsgewährung eine durch die Sachlage gebotene Kapitalzuführung ersetzt. Diese Aussage ist, wie auch der Österreichische Verfassungsgerichtshof annimmt, nicht gleichbedeutend mit der sogenannten goldenen Bilanzregel (im engeren Sinne), daß das Anlagevermögen durch Eigenkapital gedeckt sein müsse (Urteil des BFH II R 13/66 vom 21. Februar 1967, BFH 88, 349, BStBl III 1967, 397); von der Anknüpfung an diese Formel (Urteil II 195/58 U vom 24. Januar 1963, BFH 76, 585, BStBl III 1963, 213) ist der BFH in dem Urteil II 162/65 vom 3. Dezember 1969, BStBl II 1970, 279, abgerückt.

Eine etwaige betriebswirtschaftliche Unbestimmtheit der "durch die Sachlage gebotenen" Kapitalzuführung könnte nur dann zur Nichtigkeit des § 3 Abs. 1 KVStG 1959 führen, wenn diese Vorschrift dadurch jeden bestimmten Inhalt verlieren würde. Das trifft aber, wie gerade der vorliegende Fall zeigt, nicht zu. Der logische Mindestinhalt des § 3 Abs. 1 KVStG wird von betriebswirtschaftlichen Streitpunkten nicht berührt. Zweifelsohne gebietet nämlich die Sachlage eine Kapitalzuführung, wenn ohne die Zuführung von Eigenkapital (zum Beispiel eine Kapitalerhöhung, weitere Einzahlungen oder Zubußen) oder dem Eigenkapital funktionsgleichen Fremdkapitals (im besonderen eines im Rang hinter allen anderen Forderungen zurücktretenden Gesellschafterdarlehens) die Gesellschaft nicht weiterbestehen oder ihren Geschäftsbetrieb nicht mehr in der vorgesehenen Art oder dem vorgesehenen Umfang weiterführen könnte. Die Gründe, welche eine solche Sachlage erzeugt haben, sind für den Besteuerungsgrund des § 3 Abs. 1 KVStG gleichwertig, zumal es auch in den Fällen des § 2 Nrn. 1 bis 4 KVStG 1959 nicht auf den wirtschaftlichen Grund der Kapitalzufuhr ankäme. Das Gebotensein der Kapitalzuführung kann also ebenso wie aus einer nicht nur vorübergehenden und auf andere Weise nicht zu behebenden Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft (§ 102 KO) aus behördlichen oder privaten Anforderungen folgen, denen sich die Gesellschaft nicht entziehen kann oder nicht entziehen will.

Durch diese Beispiele ist ein hinreichend bestimmter Mindestinhalt des § 3 Abs. 1 KVStG 1959 gesichert, der eine Nichtigkeit dieser Vorschrift wegen absoluter Unbestimmbarkeit ausschließt. Ob und inwieweit § 3 Abs. 1 KVStG einen weitergehenden Inhalt hat, ist im vorliegenden Fall nicht zu entscheiden. Durch Zweifel an der Bestimmbarkeit einer weitergehenden Aussage wird die Verfassungsmäßigkeit seines Mindestinhalts nicht berührt.

Das der Klägerin gewährte Darlehen war dazu bestimmt und geeignet, die Zuführung von Eigenkapital zu ersetzen. Die Sachlage hätte, sofern das Darlehen nicht oder nicht mit Rangrücktritt gewährt worden wäre, die Zufuhr von Eigenkapital geboten; andernfalls hätte die Klägerin ihren Geschäftsbetrieb nicht mehr in dem vorgesehenen Umfang weiterführen können. Das hat den Gesellschafter der Klägerin zur Hingabe des Darlehens veranlaßt.

Gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 des Kreditwesengesetzes (KWG) müssen die Kreditinstitute im Interesse der Erfüllung ihrer Verpflichtungen gegenüber ihren Gläubigern, insbesondere zur Sicherheit der ihnen anvertrauten Vermögenswerte, ein angemessenes haftendes Eigenkapital haben. Entspricht bei einem Kreditinstitut das haftende Eigenkapital nicht diesen Anforderungen, so kann das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen die Ausschüttung von Gewinnen, insbesondere aber die Gewährung von Krediten, untersagen oder beschränken (§ 45 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KWG). Das Bundesaufsichtsamt stellt nach Anhörung der Spitzenverbände der Kreditinstitute im Einvernehmen mit der Bundesbank Grundsätze auf, nach denen es für den Regelfall beurteilt, ob die vorbezeichneten Anforderungen erfüllt sind (§ 10 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 KWG).

In den Grundsätzen vom 8. März 1962 (Bundesanzeiger Nr. 53 S. 57), geändert am 25. August 1964 (Bundesanzeiger Nr. 169), hat das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen u. a. gefordert: "Die Kredite an Wirtschaftsunternehmen, Private und Kreditinstitute und die Beteiligungen eines Kreditinstituts abzüglich der Sammelwertberichtigung sollen das Achtzehnfache des haftenden Eigenkapitals nicht übersteigen.... Langfristige Kredite, die ... gegen Grundpfandrechte im Realkreditgeschäft im Sinne von § 20 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 4 KWG ... gewährt werden oder für die inländische Körperschaften oder Anstalten des öffentlichen Rechts die volle Gewährleistung übernommen haben, sind nur zur Hälfte zu berücksichtigen."

Die Klägerin hat im Zeitpunkt der Darlehnsgewährung nicht über das nach diesem Grundsatz erforderliche Eigenkapital verfügt. Deshalb hat sie bei dem Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen beantragt, das Darlehen von 250 000 DM als Eigenkapital im Sinne dieses Grundsatzes zu berücksichtigen. Ihr Wirtschaftsprüfer hat zum Jahresabschluß ausdrücklich vermerkt, daß dieser Sonderkredit als Ersatz für das der Klägerin fehlende Eigenkapital dienen solle. Indem das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen sich auf dieses Verfahren einließ, hat es der Klägerin ermöglicht, ihr Kreditgeschäft weiterhin in dem Spielraum zu halten, wie wenn ihr Eigenkapital um 250 000 DM höher wäre. Hätte das Bundesaufsichtsamt nicht anerkannt, daß die Annahme eines zinslosen Darlehens bei Rangrücktritt seines Gläubigers ein Abweichen von der Regel des vorerwähnten Grundsatzes rechtfertige, so hätte es gemäß § 45 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KWG, äußerstenfalls auch gemäß §§ 46, 35 Abs. 2 Nr. 4 KWG einschreiten müssen.

Bei dieser Sachlage kann dahingestellt bleiben, ob die Zuführung eines Kapitals in Höhe von 250 000 DM auch betriebswirtschaftlich (im engeren Sinne) geboten gewesen wäre; vielmehr kann zugunsten der Klägerin unterstellt werden, daß sie von ihren eigenen betriebswirtschaftlichen Bedingtheiten her diesen Betrag nicht benötigt hätte. Jedenfalls hätte sie ohne die Zufuhr dieser Summe als Eigenkapital oder als eines diesem Eigenkapital vergleichbaren, hinter allen anderen Forderungen zurücktretenden Darlehens ihr Unternehmen nicht mehr mit dem Volumen der (auch) für die Zukunft vorgesehenen Kredite weiterführen können. Die Sachlage hat daher diese Kapitalzuführung dem Grund und dem Betrage nach geboten.

Allerdings sind die vom Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen gemäß § 10 Abs. 1 Satz 2 KWG aufgestellten Grundsätze keine Rechtssätze; sie unterliegen daher im Streitfall der vollen verwaltungsgerichtlichen Nachprüfung, ob sie unter der jeweils gegebenen Wirtschaftslage den gesetzlichen Begriff des angemessen haftenden Eigenkapitals (§ 10 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit den Absätzen 2 bis 4 KWG) richtig interpretieren. Daß die aufgestellten Grundsätze "für den Regelfall" (§ 10 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 KWG) keine zu hohen Anforderungen stellen, begegnet aber keinem Zweifel; auch die Klägerin hat in diesem Verfahren nur behauptet, bei ihr liege ein Sonderfall vor.

Ob der Klägerin dieses Argument nicht schon deshalb genommen ist, weil sie sich auf die von dem Bundesaufsichtsamt aufgestellten Grundsätze eingelassen und von ihrem Gesellschafter ein Darlehen genommen hat, das dazu bestimmt und mit Zustimmung des Bundesaufsichtsamts (insoweit in Abweichung von dem Grundsatz) geeignet war, die Eigenkapitalzufuhr zu ersetzen, kann auf sich beruhen. Denn das FG hat ausdrücklich vermerkt, daß bei der Klägerin keine Sonderverhältnisse vorlägen. Das ist zwar keine tatsächliche Feststellung im Sinne des § 118 Abs. 2 FGO; sie ergibt aber, daß das FG den Umfang der ihm auferlegten Prüfung nicht verkannt hat. Aus dem Umstand, daß das FG keine Tatsachen festgestellt hat, aus denen sich von der Regel abweichende Verhältnisse der Klägerin ergeben könnten, und daß die Klägerin demgegenüber weder die Berichtigung des Tatbestandes beantragt (§ 108 FGO) noch eine Verfahrensrüge erhoben hat, ergibt sich somit der bindende (§ 118 Abs. 2 FGO) Ausgangspunkt, daß solche Tatsachen nicht bestehen. Im besonderen wäre eine Abweichung von der Regel nicht schon deshalb gerechtfertigt, weil die Klägerin nur gesicherte (hypothekarisch gesicherte) Kredite ausgibt. Denn das geringere Sicherungsbedürfnis für das Realkreditgeschäft ist bereits in dem oben erwähnten Grundsatz berücksichtigt.

Demnach ist es für die Entscheidung unerheblich, ob das Anlagevermögen der Klägerin durch Eigenkapital gedeckt ist oder nicht (vgl. dazu das oben erwähnte Urteil II 162/65 vom 3. Dezember 1969). Entgegen der Ansicht der Klägerin werden dadurch die Kreditinstitute nicht unter Sonderrecht gestellt. Denn es kann dahingestellt bleiben, ob § 10 KWG unmittelbar oder die gemäß § 10 Abs. 1 Satz 2 KWG aufgestellten Grundsätze als Merkmale der Branchenüblichkeit mittelbar für die Auslegung des § 3 Abs. 1 KVStG von Belang sein könnten. Für die Klägerin war die Zufuhr von Eigenkapital oder dessen Ersatz durch ein im Verhältnis zu den Gläubigern gleichwertiges Darlehen allein schon deshalb geboten, weil sie ihr Ausleihevolumen aufrechterhalten wollte und es ohne eine der beiden Maßnahmen nicht hätte aufrechterhalten können. Umgekehrt würde also die Klägerin unter "Sonderrecht" gestellt, wenn das ihr von einem Gesellschafter als Eigenkapitalersatz gewährte Darlehen nicht zur Gesellschaftsteuer herangezogen würde. Denn auch bei jeder anderen Kapitalgesellschaft ist es für die Besteuerung dem Grunde nach unerheblich, aus welchen Ursachen die Sachlage entstanden ist, welche eine Kapitalzuführung als geboten erscheinen läßt.

Die Darlehnsbedingungen sind außergewöhnlich; § 3 Abs. 4 Nr. 3 KVStG 1959 ist daher unanwendbar. Die Steuerpflicht würde auch nicht aufgehoben, wenn die Klägerin wiederum dem Darlehnsgeber ein Darlehen gleicher Höhe gewährt hätte. Denn dieses "Rückdarlehen" würde nichts daran ändern, daß weiterhin den Gläubigern der Klägerin der Betrag von 250 000 DM gleich wie Eigenkapital haften würde. Die gesellschaftsteuerrechtliche Rechtslage ist daher nicht anders, wie wenn die Mittel für das dem Gesellschafter gewährte Darlehen der Stammeinlage dieses Gesellschafters entnommen wären.

Demnach war die Revision der Klägerin auf deren Kosten (§ 135 Abs. 2 FGO) als unbegründet zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO).

 

Fundstellen

Haufe-Index 68913

BStBl II 1970, 289

BFHE 1970, 81

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