Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfassungsgemäße Steuerentlastung durch den BFH nach erfolgreicher Verfassungsbeschwerde

 

Leitsatz (NV)

Gibt das BVerfG ‐ unter Zurückverweisung des Ausgangsverfahrens an den BFH ‐ einer Verfassungsbeschwerde mit der Maßgabe statt, der Beschwerdeführer habe Anspruch auf steuerliche Entlastung in den anhängigen Veranlagungszeiträumen, so hat mangels anderer Abhilfen (rückwirkende Gesetzesänderung, Billigkeitsmaßnahme der Verwaltung) der BFH die Entscheidung des BVerfG in einer den Rechtsschutz des Steuerpflichtigen in vollem Umfang wahrenden Weise umzusetzen.

 

Normenkette

BVerfGG § 31 Abs. 1; EStG § 32 Abs. 3, § 33c

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) und ihr mittlerweile verstorbener Ehemann wurden für das Streitjahr 1983 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Die Eheleute waren beide berufstätig. Sie hatten zwei ―damals ein und drei Jahre alte― Kinder. Für die halbtägige Betreuung des jüngeren Kindes wandten die Eheleute 1 500 DM auf.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) lehnte es bei der Einkommensteuerfestsetzung 1983 ab, diese Kosten als außergewöhnliche Belastungen nach § 33c des Einkommensteuergesetzes (EStG) in der für das Streitjahr geltenden Fassung (vgl. § 53b Abs. 1 Satz 1 EStG 1985) zu berücksichtigen. Die Klage, mit der die Eheleute vorbrachten, sie würden gegenüber nichtverheirateten Personen und eheähnlichen Lebensgemeinschaften mit Kindern benachteiligt, hatte keinen Erfolg. Der Bundesfinanzhof (BFH) wies die gegen das klageabweisende Urteil des Finanzgerichts (FG) eingelegte Revision zurück (Urteil vom 15. März 1991 III R 97/89, BFHE 164, 65, BStBl II 1991, 578).

Auf die hiergegen erhobene Verfassungsbeschwerde der Eheleute hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit Beschluss vom 10. November 1998 2 BvR 1057/91 u.a. (BVerfGE 99, 216, BStBl II 1999, 182) das Urteil des BFH ―ebenso wie in weiteren Anlassverfahren― aufgehoben. Im Hinblick auf den Ausschluss vom Abzug der Kinderbetreuungskosten seien die angegriffenen Gerichtsentscheidungen und die ihnen insoweit zugrunde liegenden gesetzlichen Bestimmungen mit Art. 6 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes (GG) unvereinbar. Die verfassungswidrigen Normen würden nicht für nichtig erklärt, sondern blieben bis zu der gebotenen gesetzlichen Neuregelung weiterhin anwendbar.

Die Anlassverfahren verwies das BVerfG an den BFH zurück. Dabei führte es aus, die Beschwerdeführer hätten "… im Blick auf die verfassungsrechtlich gebotene stufenweise Angleichung des geltenden Rechts … einen Anspruch darauf …, dass der Erfolg ihrer Verfassungsbeschwerden sich für sie auch für die jeweils anhängigen Veranlagungszeiträume in einer den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechenden einkommensteuerlichen Entlastung auswirkt". Der BFH habe deshalb zu prüfen, ob durch eine erweiternde Anwendung der beanstandeten Vorschriften des EStG oder durch entsprechende Anwendung des Rechtsgedankens der §§ 163, 227 der AbgabenordnungAO 1977― (vgl. dazu BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 10. November 1998 2 BvL 42/93 ―Kinderleistungsausgleich―) sichergestellt werden kann, dass die im EStG für Alleinstehende mit Kindern vorgesehenen Entlastungen in den konkreten Fällen den Klägern zugute kommen. Anderenfalls müsste der Gesetzgeber insoweit eine rückwirkende Regelung treffen.

Die Entscheidung des BVerfG betrifft allein die Klägerin, nachdem ihr Ehemann im Jahre 1993 verstorben ist und die Klägerin das Verfahren der Verfassungsbeschwerde allein fortgeführt hat.

Zur Begründung der Revision trägt die Klägerin nunmehr u.a. vor, das BVerfG habe bereits in seinem Urteil vom 3. November 1982 1 BvR 620/78, 1335/78, 1104/79 u. 363/80 (BStBl II 1982, 717) unter Abschn. C. II. 3. angeordnet, die erforderliche Neuregelung betreffend die sog. Halbfamilie dürfe Alleinstehende mit Kindern steuerlich nicht besserstellen als Ehepaare mit Kindern. Durch Einfügung des § 33c EStG sei dagegen eine planwidrige Gesetzeslücke entstanden, die durch unmittelbare Anwendung der Grundrechte zu schließen sei.

Die Klägerin beantragt, gemäß Art. 6 GG i.V.m. § 32 Abs. 3 und § 33c EStG die niedrigere Einkommensteuerschuld aufgrund einer fiktiven Vergleichsveranlagung festzusetzen, die sich nach der günstigsten Variante für eheähnliche Verhältnisse ergäbe.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Es meint, eine Auslegung über den eindeutigen Wortlaut des Gesetzes hinaus sei nicht möglich. Auch Billigkeitsmaßnahmen kämen nicht in Betracht. Eine sachliche Unbilligkeit liege nicht vor, da die Beschränkung der Abziehbarkeit von Kinderbetreuungskosten auf Alleinstehende nach Wortlaut und historischem Gesetzeszweck gerade die Absicht des § 33c Abs. 1 EStG sei und alle Verheirateten mit Kinderbetreuungsaufwand gleichmäßig treffe.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Stattgabe der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―).

1. Nach der vorbezeichneten Entscheidung des BVerfG in BStBl II 1999, 182 hat die Klägerin einen Rechtsanspruch darauf, dass der Erfolg ihrer Verfassungsbeschwerde sich für sie in einer den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechenden einkommensteuerlichen Entlastung auswirkt. Es ist sicherzustellen, dass der Klägerin die in den Vorschriften des § 33c und des § 32 Abs. 3 EStG 1983 vorgesehenen Entlastungen zugute kommen. An diese Ausführungen ist der Senat gemäß § 31 Abs. 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) gebunden (s. auch Senatsurteil vom 26. März 2002 VI R 26/00, BFH/NV 2002, 1085). Der Senat versteht die Entscheidung des BVerfG dahin gehend, dass eine der Verfassung gemäße Besteuerung der Klägerin nur dann gegeben ist, wenn die angeführten kindbedingten Entlastungen betragsmäßig in voller Höhe berücksichtigt werden, ohne dass es auf die im Klage- und Revisionsverfahren gestellten Anträge ankommt. Dies bedeutet für den vorliegenden Anlassfall, dass zum einen nach § 33c EStG die entstandenen Kinderbetreuungskosten in Höhe von 1 500 DM sowie die Kindergartenbeiträge in Höhe von 540 DM (vgl. BFH-Urteil vom 6. November 1997 III R 27/91, BFHE 184, 493, BStBl II 1998, 187) und zum anderen der volle Haushaltsfreibetrag in Höhe von 4 212 DM zu berücksichtigen sind. Bei den Kinderbetreuungskosten ist eine zumutbare Eigenbelastung nicht anzusetzen (vgl. auch BFH-Urteil vom 8. März 1996 III R 146/93, BFHE 179, 422, BStBl II 1997, 27).

2. Der ―wenngleich ersatzweise zum Eingreifen berufene― Gesetzgeber hat u.a. für den vorliegenden Anlassfall z.B. im Zuge der Neuregelung des § 53 EStG (Gesetz zur Familienförderung vom 22. Dezember 1999, BGBl I 1999, 2552) keine rückwirkende Regelung zugunsten der Klägerin getroffen. Eine solche Regelung ist auch nicht (mehr) zu erwarten. Zudem hat es das FA abgelehnt, der Klägerin die gebotenen kindbedingten Entlastungen zugute kommen zu lassen; insbesondere hat es die vom BVerfG angeregte Billigkeitsprüfung nicht aufgegriffen. Es ist deshalb Aufgabe des Senats, die Vorgaben des BVerfG in einer den Rechtsschutz der Klägerin in vollem Umfang wahrenden Weise umzusetzen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 845876

BFH/NV 2002, 1558

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