Entscheidungsstichwort (Thema)

Geschäftsführerhaftung für Lohnsteuer; Ermessensausübung des FA

 

Leitsatz (NV)

1. Bei der Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners muß die Ermessensentscheidung der Verwaltung im Haftungsbescheid oder in der Einspruchsentscheidung begründet werden.

Von einer Vorprägung der Ermessensentscheidung durch die Tatbestandsverwirklichung in erschwerter Verschuldensform (Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit) und einer daran anknüpfenden stillschweigend sachgerechten Ermessensausübung durch das FA (vgl. BFH-Urteil in BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508) kann nur dann ausgegangen werden, wenn das FA selbst bei seiner Entscheidung über den Haftungstatbestand von einem schweren Verschulden des Haftungsschuldners ausgegangen ist.

2. Das FA ist nicht verpflichtet, bereits beim Erlaß des Haftungsbescheids die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Haftungsschuldners zu überprüfen.

3. Unterlassene Vollstreckungsmaßnahmen gegen den Arbeitgeber schließen die Inanspruchnahme dessen Vertreters (Geschäftsführers) als Haftungsschuldner wegen nicht abgeführter Lohnsteuer nicht aus.

4. Ist bei Vorhandensein mehrerer Geschäftsführer einer GmbH - ausnahmsweise - auch die Inanspruchnahme des nach der internen Geschäftsverteilung nicht für die Lohnsteuer zuständigen Geschäftsführers als Haftungsschuldner möglich, so schließt das die Inanspruchnahme des für die Steuerangelegenheiten zuständigen Geschäftsführers nicht aus.

 

Normenkette

AO §§ 103, 109, 118 S. 1; AO 1977 §§ 34, 69, 191 Abs. 1

 

Tatbestand

Die Revisionsbeklagten sind die Erben des verstorbenen Klägers. Sie haben das vom Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt - FA -) eingeleitete und durch den Tod des Klägers unterbrochene Revisionsverfahren aufgenommen (§ 239 Abs. 1 und 2 der Zivilprozeßordnung - ZPO -).

Der Kläger (Erblasser) war neben den Eheleuten K Gesellschafter einer GmbH, die ihrerseits geschäftsführende Komplementärin einer GmbH & Co. KG (KG) war. Geschäftsführer der GmbH waren der Kläger und Herr K. Nach einem Gesellschafterbeschluß der GmbH war K im wesentlichen für den technischen Bereich und den Verkauf, der Kläger u. a. für das Rechnungswesen, die Finanzplanung und die Betriebsabrechnung zuständig.

Die GmbH führte für die Monate Juli bis November 1972 die vom Kläger einbehaltenen und angemeldeten Lohnsteuern, Kirchensteuern und Ergänzungsabgaben nicht an das FA ab. Vollstreckungsversuche des FA gegen die GmbH blieben bis auf eine Forderungspfändung, die im März 1973 zur Zahlung von 7 500 DM führte, ohne Erfolg. Auf Antrag des Klägers, der vortrug, die GmbH zum 1. Januar 1973 übernommen zu haben, Ratenzahlungen versprach und eine angebliche Forderung abtrat, wurde die Vollstreckung der auf ca. 75 000 DM angelaufenen Rückstände am 1. Februar 1973 ausgesetzt. Am 2. März 1973 wurde für die GmbH und am 18. April 1973 für die KG die Eröffnung des Konkursverfahrens beantragt, die in beiden Fällen mangels Masse abgelehnt wurde.

Der Kläger wurde wegen der Nichtabführung der Lohnsteuer für Juli bis November 1972 mit einer Geldbuße belegt. Bei seiner Vernehmung im Bußgeldverfahren hatte er bekundet, die Nichtzahlung der abzuführenden Lohnsteuer beruhe auf finanziellen Schwierigkeiten der GmbH. Ihm sei damals bekannt gewesen, daß er nur so viel an Arbeitsentgelt habe auszahlen dürfen, daß noch genügend Geld zur Zahlung der Lohnsteuer übrig bliebe. Er habe jedoch gehofft, Gelder von der KG zu erhalten, die der GmbH gegenüber erhebliche Verbindlichkeiten gehabt habe. Das FA nahm den Kläger durch Haftungsbescheid wegen der nicht abgeführten Lohnsteuern und Folgesteuern der GmbH in Höhe von insgesamt 31 098,75 DM gemäß §§ 103, 109 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung (AO) in Anspruch.

Im Rahmen des Einspruchsverfahrens und zur Begründung gleichzeitig gestellter Anträge auf Aussetzung der Vollziehung und Stundung trug der Kläger vor, das FA müsse beide Geschäftsführer in Anspruch nehmen. Gegen den Geschäftsführer K stünden der GmbH Schadensersatzansprüche zu, die das FA pfänden könne. Er selbst könne die Haftungsschuld nicht bezahlen. Sein Bruttogehalt betrage 2 439 DM, sein Nettogehalt 1 988 DM, die an ihn nach Abzug weiterer fester Abzüge (Vermögensbildung, Sparzulage, Pfändung) ausgezahlten Beträge 1 551 DM. Hiervon blieben ihm nach Abzug seiner laufenden Verpflichtungen monatlich 857 DM übrig, mit denen er noch seine beiden in Ausbildung befindlichen Söhne unterstützen müsse. Außer einem ihm und seiner Ehefrau gemeinsam gehörenden Einfamilienhaus, das in Höhe von 63 500 DM belastet sei, habe er kein Vermögen.

Der Einspruch hatte keinen Erfolg. Das FA führte in der Einspruchsentscheidung aus, die Inanspruchnahme des Klägers und nicht des anderen Geschäftsführers sei im Hinblick auf die interne Geschäftsverteilung nicht ermessensfehlerhaft. Ausführungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Klägers enthält die Entscheidung nicht.

Auf die Klage des Klägers hob das Finanzgericht (FG) den Haftungsbescheid und die Einspruchsentscheidung auf. Es führte aus, die Verwaltung habe ihre Ermessensentscheidung, den Kläger als Haftungsschuldner in Anspruch zu nehmen (§ 118 AO), nicht ausreichend begründet. Im Rahmen des Auswahlermessens, welcher von mehreren Gesamtschuldnern in Anspruch genommen werde, seien die wirtschaftlichen Verhältnisse der Gesamtschuldner zu berücksichtigen. Stehe fest, daß einer von ihnen im Unterschied zu dem oder den anderen einkommens- und vermögenslos sei, könne die Verwaltung diesen ohne ausdrückliche Darlegung ihrer Gründe nicht ermessensfehlerfrei in Haftung nehmen. Entsprechendes gelte für den Entschluß, ob sie den einzigen in Betracht kommenden Haftungsschuldner in Anspruch nehme (Entschließungsermessen). Trage der Haftungsschuldner substantiiert vor, er habe nur ein geringes Einkommen und Vermögen und nach Alter und Gesundheit wenig Aussichten, seine Lage in der Zukunft zu bessern, so müsse die Verwaltung den vorgetragenen Sachverhalt, wolle sie ihn nicht als wahr unterstellen, überprüfen und das Ergebnis ihrer Ermittlungen wie ihre Ermessenserwägungen in den Gründen ihrer Entscheidung darlegen. Lasse sie ein solches substantiiertes Vorbringen unberücksichtigt, sei ihre Entscheidung ermessensfehlerhaft.

Die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Haftungsschuldners gehörten zu den für die Ermessensausübung bestimmenden Umständen. Wenn schon bei der Steuerfestsetzung die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schuldners von Bedeutung sein könnten, wie sich aus § 156 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) ergebe, so müsse dies um so mehr beim Erlaß eines Haftungsbescheides gelten, dessen Ergehen im Ermessen der Verwaltung stehe. Wo die wirtschaftlichen Verhältnisse des Haftungsschuldners einer Realisierung der Haftungsschuld entgegenstünden, könne ein Haftungsbescheid vernünftigerweise nicht ergehen. Da das FA den Vortrag des Klägers zu seinen wirtschaftlichen Verhältnissen, seiner Schwerkriegsbeschädigung sowie seinem Alter im Rahmen der Ermessensausübung unberücksichtigt gelassen habe, sei der Haftungsbescheid in der Gestalt der Einspruchsentscheidung rechtswidrig und aufzuheben.

Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts. Es macht geltend, die Auffassung des FG, die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Haftungsschuldners gehörten zu den die Ermessensausübung bestimmenden Umständen und müßten bei den Ermessenserwägungen des FA zum Ausdruck kommen, finde im Schrifttum und in der Rechtsprechung keine Stütze. Die fehlende Begründung der Ermessenserwägungen im Haftungsbescheid sei immer dann unschädlich, wenn der Haftungsschuldner durch ein besonderes Maß an eigenem Verschulden zu seiner Inanspruchnahme Veranlassung gegeben habe (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 13. April 1978 V R 109/75, BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508). Das sei bei dem Kläger der Fall, weil er als Geschäftsführer der GmbH leichtfertig Steuern verkürzt habe.

Im übrigen brauchten die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Haftungsschuldners nicht beim Erlaß des Haftungsbescheids, sondern erst im Erhebungs- und Vollstreckungsverfahren berücksichtigt zu werden. Dort könnte nach den Vorschriften über die Stundung, den Erlaß sowie den Vollstreckungsaufschub den persönlichen Verhältnissen des Haftungsschuldners Rechnung getragen werden. Im Festsetzungsverfahren müßten dagegen diese Gesichtspunkte - abgesehen von den Fällen der § 156 Abs. 2, § 163 AO 1977 - außer Betracht bleiben.

Die Berücksichtigung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Haftungsschuldners beim Erlaß des Haftungsbescheids und des Leistungsgebotes widerspräche zudem dem Sinn des Haftungsverfahrens. Dieses diene im Steuerrecht dem Zweck, die Durchsetzung des einzelnen Steueranspruchs und damit das Steueraufkommen sicherzustellen. Durch die vom FG geforderte Handhabung der Ermessenserwägungen bestehe die Gefahr, daß Verjährung eintrete, bevor ein Haftungsbescheid erlassen sei. Ein Ausnahmetatbestand i. S. des § 156 Abs. 2 AO 1977 liege im Streitfall nicht vor. Der Kläger habe nicht substantiiert dargelegt, wegen seiner Einkommens- und Vermögensverhältnisse gegenwärtig und in Zukunft mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage zu sein, die festzusetzenden Steuern zu entrichten. Das ihm und seiner Ehefrau gehörende Einfamilienhaus sei nur geringfügig belastet.

Das FA beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Klage als unbegründet abzuweisen.

Die Revisionsbeklagten beantragen, die Revision des FA als unbegründet zurückzuweisen.

Sie machen geltend, die überraschende Inanspruchnahme des Klägers für die im Jahre 1972 nicht abgeführte Lohnsteuer nach mehrjähriger Untätigkeit des FA erstmals im Mai 1977 sei ermessensfehlerhaft. Der Kläger habe davon ausgehen können, daß aufgrund der ihm bekannten Pfändung einer Forderung der GmbH aus einem Grundstückskaufvertrag durch das FA im Februar 1974 die rückständigen Steuern getilgt worden seien. Die unvorhersehbare und verspätetete Inanspruchnahme sei auch deshalb ermessensfehlerhaft, weil es das FA unterlassen habe, Forderungen der GmbH gegenüber dem Gesellschafter-Geschäftsführer K in Höhe von 204 100 DM zu pfänden. In dem Unterlassen des FA, den realisierbaren Forderungen nachzugehen, liege mindestens ein Mitverschulden, das bei der Höhe der Haftungsschuld berücksichtigt werden müsse.

Das FA habe auch den Mitgeschäftsführer K nicht von der Haftung freistellen dürfen. Dieser sei zwar zunächst nicht für den kaufmännischen Bereich verantwortlich gewesen. Er hätte sich aber, nachdem während des Haftungszeitraums die GmbH in eine Krise geraten sei, auch um die Steuern kümmern müssen. Das FA sei aber offenbar davon ausgegangen, ein technischer Leiter der GmbH könne überhaupt nicht in Anspruch genommen werden. Damit habe es sich die Möglichkeit zur Prüfung verschlossen, welcher von mehreren Haftungsschuldnern dem Grunde und der Höhe nach in Anspruch zu nehmen sei. Der Kläger habe bereits im Einspruchsverfahren darauf hingewiesen, daß K durch rechtswidrige Manipulationen der GmbH Mittel zur Erfüllung der Steuerschulden entzogen habe, indem er pflichtwidrig einen Betrag von ca. 69 000 DM, der der GmbH zustand, auf sein Privatkonto eingezahlt habe. Diesem Hinweis hätte das FA bei seiner Ermessensausübung nachgehen müssen. Es hätte dabei festgestellt, daß K seine Pflichten in höherem Maße verletzt habe als der Kläger. Dies hätte zur vorrangigen Inanspruchnahme des K, mindestens aber zur Begrenzung der Haftungsschuld gegenüber dem Kläger führen müssen. Schließlich werde noch gerügt, daß das FA die durch Pfändungen eingezogenen Beträge nicht auf die hier streitigen Haftungsschulden verbucht habe.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1) der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Der angefochtene Haftungsbescheid in der Gestalt der Einspruchsentscheidung ist rechtlich nicht zu beanstanden.

1. Der Kläger (Erblasser) hat den Haftungstatbestand der §§ 103, 109 Abs. 1 AO, der auf den vorliegenden Haftungszeitraum - 1972 - noch Anwendung findet (Art. 97 § 11 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung - EGAO 1977 -), erfüllt. Als Geschäftsführer der GmbH oblag ihm die Verpflichtung, für diese bei jeder Lohnzahlung die Lohnsteuern, die Lohnkirchensteuern und die Ergänzungsabgaben einzubehalten und an das FA abzuführen (§ 41 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes 1971 - EStG 1971 -, §§ 5, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 des Gesetzes über die Erhebung von Kirchensteuern im Lande Nordrhein-Westfalen, Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen - GV NW - 1975, 438, § 6 des Gesetzes über eine Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und zur Körperschaftsteuer i. d. F. des Zweiten Steueränderungsgesetzes 1967 vom 21. Dezember 1967, BGBl I 1967, 1254, BStBl I 1967, 484, § 35 Abs. 1 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung - GmbH -, § 103 AO). Dieser Pflicht ist er für den Haftungszeitraum Juli bis November 1972 schuldhaft nicht nachgekommen.

Die Frage des Verschuldens i. S. des § 109 Abs. 1 AO ist nach ständiger Rechtsprechung des BFH bei der Abführung der einbehaltenen Lohnsteuer streng zu beurteilen. Reichen die dem Geschäftsführer zur Verfügung stehenden Mittel der GmbH nicht aus, die Löhne - einschließlich des darauf entfallenden Steueranteils - zu zahlen, so muß er die Löhne entsprechend kürzen, so daß aus den vorhandenen Mitteln die Arbeitnehmer und das FA gleichermaßen anteilig befriedigt werden können (vgl. § 30 Abs. 3 der Lohnsteuer-Durchführungsverordnung 1971 - LStDV 1971 - und Urteil des erkennenden Senats vom 20. April 1982 VII R 96/79, BFHE 135, 416, BStBl II 1982, 521, m. w. N.). Die nach dieser Vorschrift ferner erforderliche Steuerverkürzung liegt vor, wenn eine Steuerschuld nicht, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig an die Finanzkasse abgeführt worden ist (vgl. BFH-Urteil vom 20. Oktober 1976 I R 116/74, BFHE 121, 5, BStBl II 1977, 257, m. w. N.).

Aus den für den Senat bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) ergibt sich, daß der Kläger den Haftungstatbestand des § 109 Abs. 1 AO in der Form der nicht rechtzeitigen Abführung der Lohnsteuern vorsätzlich verwirklicht hat. Denn ihm war nach seinen Bekundungen bekannt, daß er wegen der finanziellen Schwierigkeiten der GmbH nur so viel an Arbeitsentgelt hätte auszahlen dürfen, daß noch genügend Geld zur Entrichtung der Lohnsteuer übrig blieb. Seine Hoffnung, die fehlenden Mittel später von der KG zu erhalten, konnte ihn jedenfalls im Hinblick auf die bewußte Verletzung der Verpflichtung zur fristgerechten Abführung der Lohnsteuer nicht entlasten.

2. Das FG ist zu Recht davon ausgegangen, daß es sich bei der Inanspruchnahme eines nach den §§ 103, 109 AO Haftenden um eine nach § 118 AO zu treffende Ermessensentscheidung handelt, die nach § 102 FGO darauf zu überprüfen ist, ob der Haftungsbescheid deshalb rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (vgl. BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508, und Urteil des erkennenden Senats vom 3. Februar 1981 VII R 86/78, BFHE 133, 1, BStBl II 1981, 493). Wegen der Befugnis und Verpflichtung des Gerichts zur Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen, die dem Gericht keinen Raum für eigene Ermessenserwägungen läßt, trifft es auch zu, daß die Ermessensentscheidung der Verwaltung im Haftungsbescheid, spätestens aber in der Einspruchsentscheidung, begründet werden muß (vgl. § 121 Abs. 1, § 126 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 AO 1977), anderenfalls sie im Regelfall fehlerhaft ist. Dabei müssen die bei der Ausübung des Verwaltungsermessens angestellten Erwägungen - hier die Abwägung des Für und Wider der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners - aus der Entscheidung erkennbar sein (BFHE 133, 1, BStBl II 1981, 493). Insbesondere muß die Behörde zum Ausdruck bringen, warum sie den Haftungsschuldner anstatt des Steuerschuldners oder anstelle anderer ebenfalls für die Haftung in Betracht kommender Personen in Anspruch nimmt. Entgegen der Auffassung des FG reicht im Streitfall die in der Einspruchsentscheidung enthaltene Begründung für die Inanspruchnahme des Klägers als Haftungsschuldner aus. Die Ermessensausübung des FA läßt auf ihrer Grundlage weder eine Ermessensüberschreitung noch einen Ermessensfehlgebrauch erkennen.

a) Auf die Darlegung der die Ermessensausübung bestimmenden Erwägungen in den angefochtenen Verwaltungsentscheidungen konnte allerdings nicht - wie die Revision meint - bereits deshalb verzichtet werden, weil der Kläger, wie oben ausgeführt, vorsätzlich Steuern verkürzt hat. Von einer Vorprägung der Ermessensentscheidung durch die Tatbestandsverwirklichung in erschwerter Verschuldensform und einer daran anknüpfenden stillschweigend sachgerechten Ermessensausübung durch das FA kann in Anwendung des Urteils in BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508 nur dann ausgegangen werden, wenn das FA selbst bei seiner Entscheidung über den Haftungstatbestand von einem schweren Verschulden (Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit) des Haftungsschuldners ausgegangen ist. Im Streitfall hat aber das FA sowohl im Haftungsbescheid als auch in der Einspruchsentscheidung gegen den Kläger lediglich den Vorwurf ,,schuldhafter" Pflichtverletzung erhoben, ohne den Verschuldensvorwurf näher zu qualifizieren. In diesem Falle bedurfte es einer Darlegung der Ermessenserwägungen, um die Ermessensbetätigung der Verwaltung gemäß § 102 FGO gerichtlich überprüfen zu können.

b) Die Einspruchsentscheidung des FA beschränkt sich auf die Darlegung des Auswahlermessens. Das FA begründet seine Ermessensentscheidung, den Kläger und nicht den ebenfalls als Haftungsschuldner in Betracht kommenden Mitgeschäftsführer K in Anspruch zu nehmen (vgl. §§ 2, 7 Abs. 1 und 3 des Steueranpassungsgesetzes - StAnpG -, §§ 5, 44 Abs. 1 AO 1977), damit, daß der Kläger nach der internen Geschäftsverteilung der GmbH für deren steuerliche Angelegenheiten zuständig war. Diese Entscheidung ist unter Ermessensgesichtspunkten nicht zu beanstanden. Sie ist nach dem Gesetz zulässig (§ 7 Abs. 3 Satz 2 StAnpG) und entspricht der ständigen Rechtsprechung des BFH (vgl. Urteile vom 11. Mai 1962 VI 195/60 U, BFHE 75, 206, BStBl III 1962, 342; vom 26. April 1984 V R 128/79, BFHE 141, 443, BStBl II 1984, 776, und Beschluß vom 4. März 1986 VII S 33/85, BFHE 146, 23, BStBl II 1986, 384).

Einer näheren Begründung für die Heranziehung des Klägers anstelle der GmbH (Arbeitgeberin) als der primär Haftenden (§ 38 Abs. 4 Satz 2 EStG 1971) bedurfte es deshalb nicht, weil die Eröffnung des Konkursverfahrens über das Vermögen der GmbH mangels Masse abgelehnt worden ist und Vollstreckungsversuche in deren Vermögen erfolglos geblieben sind. Das FA brauchte auch entgegen den Ausführungen in der Vorentscheidung bei seinen Ermessenserwägungen auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers nicht einzugehen.

c) Die Finanzbehörden haben die Steuern nach Maßgabe der Gesetze gleichmäßig festzusetzen und zu erheben. Insbesondere haben sie sicherzustellen, daß Steuern nicht verkürzt werden (vgl. § 201 AO, § 85 AO 1977). Dabei dient das Rechtsinstitut der Steuerhaftung der Verstärkung und Sicherung des Steueranspruchs (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., Tz. 2 vor § 69 AO 1977). Es kann dahinstehen, ob es angesichts dieser Besteuerungsgrundsätze ein Entschließungsermessen des FA gibt, das diesem die Befugnis einräumt, auf die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners zu verzichten, obwohl der Steueranspruch beim Steuerschuldner oder primär Haftenden nicht zu realisieren ist (vgl. hierzu bejahend: Tipke/Kruse, a. a. O., § 191 AO 1977 Tz. 6; Offerhaus in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 191 AO 1977 Anm. 55; Mösbauer, Inanspruchnahme durch Steuerhaftungsbescheid, Deutsches Steuerrecht - DStR - 1984, 94, 96; ablehnend: Tipke, Steuerrecht, 10. Aufl. 1985, 142). Im Hinblick auf die dem Steuergläubiger im öffentlichen Interesse obliegende Aufgabe, die geschuldeten Abgaben nach Möglichkeit zu erheben, könnte jedenfalls der Erlaß eines Haftungsbescheids bei Uneinbringlichkeit der Erstschuld nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen ermessensfehlerhaft sein (vgl. Offerhaus, a. a. O., § 191 AO 1977 Anm. 58). Hierzu reichen in der Regel schlechte Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Haftungsschuldners nicht aus.

Sie sind ebenso wie das Alter und andere persönliche Verhältnisse des Haftungsschuldners grundsätzlich nicht beim Erlaß des Haftungsbescheids, sondern - wie das FA mit seiner Revision zutreffend vorträgt - erst im Erhebungs- und Vollstreckungsverfahren (Erlaß, Stundung, Vollstreckungsaufschub) zu berücksichtigen. Die Inanspruchnahme des Haftenden ist somit selbst dann nicht ermessensfehlerhaft, wenn die Voraussetzungen für einen Billigkeitserlaß (§ 227 AO 1977) gegeben wären (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 1. Juni 1965 VII 228/63 U, BFHE 82, 689, BStBl III 1965, 495; Tipke/Kruse, a. a. O., § 191 AO 1977 Tz. 7; Dumke in Schwarz, Kommentar zur Abgabenordnung, § 191 Anm. 46). Das FA ist deshalb nicht verpflichtet, vor Erlaß des Haftungsbescheids die Einkommensund Vermögensverhältnisse des Haftungsschuldners zu überprüfen. Auch wenn mehrere als Gesamtschuldner haften, muß es nicht vor der Inanspruchnahme eines Gesamtschuldners feststellen, welcher von ihnen sich in günstigeren wirtschaftlichen Verhältnissen befindet (BFH-Urteil vom 19. Juli 1962 V 268/59, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1963, 150, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Steueranpassungsgesetz, § 7, Rechtsspruch 22; Offerhaus, a. a. O., § 191 AO 1977 Anm. 60). Deshalb brauchte das FA im Streitfall in der Einspruchsentscheidung auf das Vorbringen des Klägers zu seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen nicht einzugehen.

Soweit sich aus der Entscheidung des Senats in BFHE 82, 689, BStBl III 1965, 495 (496, rechte Spalte, Mitte) ergeben sollte, daß die Inanspruchnahme eines Haftenden doch ermessensmißbräuchlich sein kann, wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist, daß er den geschuldeten Betrag jetzt oder später ganz oder zum Teil wird aufbringen können, hat der Senat aus den vorstehend genannten Gründen Zweifel, ob eine solche Auffassung aufrechterhalten werden kann. Es bedarf hierzu jedoch keiner abschließenden Entscheidung, denn ein solcher Sachverhalt lag im Streitfall auch nach dem Vorbringen des Klägers im Einspruchsverfahren nicht vor. Danach war der Kläger Miteigentümer eines Einfamilienhauses, das nur geringfügig (in Höhe von 63 500 DM) belastet war, so daß das FA davon ausgehen konnte, der Haftungsanspruch von 31 098 DM werde jedenfalls zum Teil im Wege der Belastung oder Verwertung des Grundvermögens realisiert werden können.

Aus diesem Grunde geht auch der Hinweis des FG auf § 156 Abs. 2 AO 1977, wonach die Festsetzung von Steuern unterbleiben kann, wenn feststeht, daß die Einziehung keinen Erfolg haben wird, fehl. Abgesehen davon, daß diese erstmals in die AO 1977 eingefügte Ausnahmeregelung die Steuerfestsetzung und nicht den Erlaß eines Haftungsbescheids betrifft, stand im Streitfall für das FA auch unter Berücksichtigung des Vorbringens des Klägers die Erfolglosigkeit der Einziehung des Haftungsbetrages keinesfalls fest. Es hatte deshalb keinen Anlaß, bei seinen Ermessenserwägungen die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers besonders in Erwägung zu ziehen. Da die Vorentscheidung von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen ist, war sie aufzuheben.

3. Auch die Einwendungen der Revisionsbeklagten gegen die Ermessensentscheidung des FA greifen nicht durch.

a) Das FA war nicht gehindert, den Kläger (Erblasser) wegen der im Jahre 1972 entstandenen Haftungsansprüche durch Haftungsbescheid vom Mai 1977 in Anspruch zu nehmen. Die Haftungsansprüche waren im Zeitpunkt der Inanspruchnahme nicht verjährt (Art. 97 § 10 Abs. 1 EGAO 1977, § 97 Abs. 2, § 144 Abs. 1, § 145 Abs. 1 AO). Anhaltspunkte für eine Verwirkung des Anspruchs oder eine Ermessensfehlerhaftigkeit der Heranziehung des Klägers wegen Zeitablaufs sind nicht ersichtlich. Soweit im Revisionsverfahren vorgebracht wird, der Kläger habe im Hinblick auf eine im Februar 1974 ausgebrachte Pfändung einer Forderung der GmbH aus einem Grundstückskaufvertrag davon ausgehen können, daß die Steuerschuld getilgt und er nicht mehr in Anspruch genommen werde, handelt es sich - ebenso wie bei der Behauptung, das FA habe die durch Pfändungen eingezogenen Beträge nicht auf die streitigen Haftungsschulden verbucht - um neues tatsächliches Vorbringen, das der Senat bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigen kann (§ 118 Abs. 2 FGO). Andererseits zeigen aber gerade dieser Hinweis und weitere vom FG festgestellte Vollstreckungsversuche in das Vermögen der GmbH, daß das FA nicht jahrelang untätig geblieben ist, sondern es vor der Inanspruchnahme des Klägers versucht hat, den Haftungsanspruch gegenüber der GmbH zu realisieren.

b) Ein etwaiges Mitverschulden des FA, das die Revisionsbeklagten darin sehen, daß dieses nicht in bestimmte Forderungen der GmbH gegen den Gesellschafter und Mitgeschäftsführer K vollstreckt hat, berührt zwar nicht die Erfüllung des Haftungstatbestands, könnte aber bei der Ermessensentscheidung eine Rolle spielen (vgl. BFHE 135, 416, BStBl II 1982, 521, letzter Absatz). Der VI. Senat des BFH (Urteil vom 11. August 1978 VI R 169/75, BFHE 125, 508, BStBl II 1978, 683) hat aber ein bei der Ermessensentscheidung zu berücksichtigendes Mitverschulden des FA verneint, wenn dieses über einen längeren Zeitraum von seinen Befugnissen, u. a. zur Überwachung und zur Beitreibung der Lohnabzugsbeträge keinen Gebrauch gemacht hat. Denn der Arbeitgeber und dessen Geschäftsführer haben keinen Anspruch auf die Wahrnehmung dieser gesetzlichen Befugnisse durch das FA. Dem ist der erkennende Senat in ständiger Rechtsprechung gefolgt. Da somit die angefochtene Ermessensentscheidung von unterlassenen Vollstreckungsmaßnahmen gegen die GmbH nicht berührt wird, kann dahingestellt bleiben, ob der GmbH tatsächlich realisierbare Forderungen gegen K zustanden.

Im übrigen könnte nach der Rechtsprechung des BFH selbst bei Annahme eines mitwirkenden Verschuldens des FA die persönliche Inanspruchnahme des Haftungsschuldners nur dann einen Ermessensfehlgebrauch darstellen, wenn dessen Verschulden gering wäre (vgl. Urteil vom 26. Januar 1961 IV 140/60, StRK, Abgabenordnung, § 109, Rechtsspruch 14, HFR 1961, 109). Wie oben ausgeführt, trifft den Kläger aber an der Steuerverkürzung ein schweres Verschulden, da er die einbehaltenen Lohnabzugsbeträge innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Fristen vorsätzlich nicht an das FA abgeführt hat. Schließlich ergibt sich aus § 219 Satz 2 AO 1977, daß sogar eine vorrangige Inanspruchnahme des Haftungsschuldners dann gerechtfertigt ist, wenn seine Haftung u. a. - wie im Streitfall - darauf beruht, daß er gesetzlich verpflichtet war, Steuern einzubehalten und abzuführen oder zu Lasten eines anderen zu entrichten.

c) Das FA hat auch sein Auswahlermessen hinsichtlich der Inanspruchnahme der beiden GmbH-Geschäftsführer nicht verletzt. Seine Ausführungen in der Einspruchsentscheidung zeigen, daß es - entgegen dem Vorbringen der Revisionsbeklagten - die rechtliche Möglichkeit einer Heranziehung des Mitgeschäftsführers K nicht verkannt hat. Wenn es sich im Hinblick auf die interne Geschäftsverteilung der GmbH für die Inanspruchnahme des für die Steuerangelegenheiten zuständigen Klägers entschieden hat, so war dies, wie oben ausgeführt, nicht ermessensfehlerhaft.

Zwar lebt nach der Rechtsprechung der Grundsatz der Gesamtverantwortung aller Geschäftsführer spätestens dann wieder auf, wenn die laufende Erfüllung aller Verbindlichkeiten nicht mehr gewährleistet ist und infolgedessen Unregelmäßigkeiten in der Erfüllung der Steuerschulden zu besorgen sind oder wenn die Person des für die steuerlichen Belange primär zuständigen Geschäftsführers diese Besorgnis rechtfertigt (BFHE 141, 443, BStBl II 1984, 776, und BFHE 146, 23, BStBl II 1986, 384). Diese Gesichtspunkte sind für die Haftung des Geschäftsführers bedeutsam, der nach der Geschäftsverteilung nicht für die Steuerangelegenheiten zuständig war. Daß hiernach wegen der Zahlungsschwierigkeiten der GmbH im Haftungszeitraum möglicherweise auch die Heranziehung des in erster Linie für den technischen Bereich zuständigen Geschäftsführers K in Betracht gekommen wäre, macht aber die Inanspruchnahme des Klägers nicht ermessensfehlerhaft. Denn der Kläger blieb nach wie vor für die Steuerangelegenheiten der GmbH in erster Linie verantwortlich. Daran würde sich auch nichts ändern, wenn - wie die Revisionsbeklagten behaupten - die Zahlungsschwierigkeiten der GmbH auf das Verhalten des Mitgeschäftsführers K zurückzuführen wären. Auch dieser Situation hätte zunächst der Kläger durch Kürzung der Löhne und anteilige Befriedigung des FA und der Arbeitnehmer Rechnung tragen müssen. Das FA braucht, wenn es den für die steuerlichen Angelegenheiten zuständigen Geschäftsführer durch Haftungsbescheid in Anspruch nimmt, nicht zu prüfen, ob den anderen Geschäftsführer ebenfalls ein Verschulden trifft, weil auch in diesem Falle die Inanspruchnahme des für den kaufmännischen Bereich zuständigen Geschäftsführers nicht ermessensfehlerhaft ist (vgl. Offerhaus, a. a. O., § 191 AO 1977 Anm. 60a).

Der Haftungsbescheid in der Gestalt der Einspruchsentscheidung erweist sich demnach als rechtmäßig. Die dagegen erhobene Klage war deshalb unter Aufhebung der Vorentscheidung abzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 414775

BFH/NV 1987, 349

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