Entscheidungsstichwort (Thema)

Zulassungsfreie Revision nach § 116 Abs. 1 Nr. 5, § 119 Nr. 6 FGO

 

Leitsatz (NV)

1. Ein Verfahrensmangel i.S. der §§ 116 Abs. 1 Nr. 5 und 119 Nr. 6 FGO (Urteil nicht mit Gründen versehen) ist nicht allein darin zu sehen, daß im Urteil Gründe übergangen wurden, die das Gericht zwar hätte bedenken müssen, tatsächlich aber nicht bedacht hat. Entsprechend dem Zweck der Urteilsbegründung kann von einem wesentlichen Verfahrensmangel i.S. der genannten Vorschriften vielmehr erst dann ausgegangen werden, wenn den Beteiligten die Möglichkeit entzogen ist, die getroffene Entscheidung auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen, so etwa, wenn die Begründung des Urteilsspruchs überhaupt oder in Hinsicht auf einen selbständigen - prozessualen - Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel fehlt oder wenn die Entscheidungsgründe nur aus inhaltsleeren Floskeln bestehen oder mißverständlich und verworren sind. Unter selbständigen Ansprüchen und selbständigen Angriffs- und Verteidigungsmitteln sind dabei - nicht anders als im Zivilprozeßrecht - nur die eigenständigen Klagegründe und solche Angriffs- oder Verteidigungsmittel zu verstehen, die den vollständigen Tatbestand einer mit selbständiger Wirkung ausgestatteten Rechtsnorm bilden (BFH-Beschluß vom 9. Februar 1977 I R 136/76, BFHE 121, 298, BStBl II 1977, 351).

2. Macht der Kläger geltend, das FG sei nicht im einzelnen auf die von ihm zur Stützung seines Begehrens angeführten verfassungsrechtlichen Argumente eingegangen, so handelt es sich bei diesen Argumenten nicht um jeweils selbständige Klagegründe oder Angriffsmittel im unter 1. genannten Sinne, sondern um materiell-(verfassungs-) rechtliche Gesichtspunkte, die - als unselbständige Begründungselemente - den vom Kläger geltend gemachten (prozessualen) Anspruch rechtfertigen sollen.

 

Normenkette

FGO § 105 Abs. 2 Nr. 5, § 116 Abs. 1 Nr. 5, § 119 Nr. 6

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist Alleinerbin ihres im Jahre 1975 verstorbenen Vaters. Wegen Nichtabgabe der Erbschaftsteuererklärung schätzte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) die Besteuerungsgrundlagen und setzte - zuletzt mit Änderungsbescheid vom 18. April 1983 - die Erbschaftsteuer fest.

Ihre nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage führte lediglich zu einer geringfügigen Herabsetzung der Erbschaftsteuer. Die dagegen erhobene Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wurde vom erkennenden Senat durch Beschluß vom 20. Januar 1988 als unbegründet zurückgewiesen. Die gegen diesen Beschluß und das Urteil der Vorinstanz gerichtete Verfassungsbeschwerde der Kläge-rin wurde vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mangels hinreichender Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung angenommen.

Bereits am 11. Februar 1982 hatte die Klägerin beantragt, die festgesetzte Erbschaftsteuer sowie die dazugehörigen Säumniszuschläge zu erlassen. Mit Bescheid vom 21. April 1982 lehnte das FA den begehrten Erlaß ab. Die Beschwerde der Klägerin wies die zuständige Oberfinanzdirektion (OFD) als unbegründet zurück.

Mit ihrer Klage verfolgte die Klägerin ihr Erlaßbegehren weiter. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Die Revision ließ es nicht zu.

Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung der §§ 116 Abs. 1 Nr. 5 und 119 Nr. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Sie beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unzulässig. Denn die Klägerin hat keine hinreichenden Tatsachen vorgetragen, die schlüssig einen Verfahrensmangel i.S. der §§ 116 Abs. 1 Nr. 5 und 119 Nr. 6 FGO ergeben.

1. a) Die zulassungsfreie Verfahrensrevision nach § 116 FGO ist nur statthaft, wenn (innerhalb der Revisionsbegründungsfrist) ein Mangel i.S. des § 116 Abs. 1 FGO schlüssig gerügt wird. Ein Verfahrensmangel ist schlüssig gerügt, wenn die zu seiner Begründung vorgetragenen Tatsachen - ihre Richtigkeit unterstellt - einen Mangel i.S. von § 116 Abs. 1 FGO ergeben (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 116 Rdnr. 3, m.w.N.).

Gemäß § 105 Abs. 2 Nr. 5 FGO müssen Urteile begründet werden. Der Sinn des Begründungszwangs liegt darin, den Prozeßbeteiligten die Kenntnis darüber zu vermitteln, auf welchen Feststellungen, Erkenntnissen und rechtlichen Überlegungen das Urteil beruht (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 26. Juni 1975 IV R 122/71, BFHE 116, 540, BStBl II 1975, 885, 886, rechte Spalte). Das erfordert nicht, daß jedes Vorbringen der Beteiligten im einzelnen erörtert werden muß. Ein Verfahrensmangel i.S. der §§ 116 Abs. 1 Nr. 5, 119 Nr. 6 FGO ist demnach nicht alleine darin zu sehen, daß im Urteil Gründe übergangen wurden, die das Gericht zwar hätte bedenken müssen, tatsächlich aber nicht be-dacht hat (Gräber/Ruban, a.a.O., § 119 Rdnr. 25, m.w.N.). Entsprechend dem beschriebenen Zweck der Urteilsbegründung kann von einem wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne der genannten Vorschrift vielmehr erst dann ausgegangen werden, wenn den Beteiligten die Möglichkeit entzogen ist, die getroffene Entscheidung auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen (BFH-Urteil vom 23. Januar 1985 I R 292/81, BFHE 143, 325, BStBl II 1985, 417, 418, linke Spalte), so etwa, wenn die Begründung des Urteilsspruchs überhaupt oder in Hinsicht auf einen selbständigen - prozessualen - Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel fehlt (Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 116 FGO Anm. 5e, m.w.N.) oder wenn die Entscheidungsgründe nur aus inhaltsleeren Floskeln bestehen oder mißverständlich und verworren sind (Gräber/Ruban, a.a.O., § 119 Rdnr. 24). Unter selbständigen Ansprüchen und selbständigen Angriffs- und Verteidigungsmitteln sind dabei - nicht anders als im Zivilprozeßrecht - nur die eigenständigen Klagegründe und solche Angriffs- oder Verteidigungsmittel zu verstehen, die den vollständigen Tatbestand einer mit selbständiger Wirkung ausgestatteten Rechtsnorm bilden (BFH-Beschluß vom 9. Februar 1977 I R 136/76, BFHE 121, 298, BStBl II 1977, 351).

b) Trotz ihrer Ausführlichkeit enthalten die Ausführungen der Klägerin in ihrer Revisionsbegründungsschrift keine hinreichenden Tatsachen, die einen wesentlichen Begründungsmangel der Vorentscheidung im Sinne der oben dargelegten Grundsätze schlüssig ergeben. Die Klägerin hat weder behauptet, daß eine Begründung des angefochtenen Urteils überhaupt fehle noch hat sie Tatsachen vorgetragen, die den Schluß zulassen, das das FG einen selbständigen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergangen habe. Zwar hat die Klägerin vorgetragen, daß das FG nicht im Detail auf die von ihr zur Stützung ihres Erlaßbegehrens herangezogenen, vornehmlich verfassungsrechtlichen Argumente (Vertrauensschutz, Rechtsstaatsprinzip, Sozialstaatsprinzip, Gleichheitssatz, Schutz von Ehe und Familie etc.) eingegangen sei. Bei diesen von der Klägerin angestellten Erwägungen handelt es sich jedoch entgegen der von ihr vertretenen Auffassung nicht um jeweils selbständige Klagegründe oder Angriffsmittel im unter II.1. a) beschriebenen Sinne, sondern um materiell-(verfassungs-) rechtliche Gesichtspunkte, die - als unselbständige Begründungselemente - den von der Klägerin geltend gemachten (prozessualen) Anspruch auf Erlaß rechtfertigen sollen.

Ebensowenig lassen die von der Klägerin angeführten Tatsachen den Schluß zu, daß die Urteilsgründe der angegriffenen Entscheidung lediglich aus inhaltsleeren Floskeln bestünden oder derart mißverständlich oder verworren seien, daß den Prozeßbeteiligten die Möglichkeit zur Überprüfung der getroffenen Entscheidung auf ihre Rechtmäßigkeit entzogen oder erheblich erschwert worden sei.

 

Fundstellen

Haufe-Index 419178

BFH/NV 1994, 46

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