Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Verfassungsmäßigkeit des Grundfreibetrags im Jahre 1988

 

Leitsatz (NV)

Gegen die Höhe des Grundfreibetrags nach § 32 a Abs. 1 EStG in der für 1988 geltenden Fassung bestehen keine ernsten verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn dem Steuerpflichtigen unabhängig von der Höhe des Grundfreibetrags und unter Berücksichtigung der abzuführenden Steuern ausreichend Mittel zur Bestreitung seines Lebensunterhalts verbleiben (Bestätigung von BFHE 165, 415, BStBl II 1992, 91).

 

Normenkette

EStG § 32a Abs. 1 i. d. für 1988 geltenden Fassung; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1

 

Tatbestand

Die Kläger, Antragsteller und Beschwerdegegner (Kläger) wurden vom Beklagten, Antragsgegner und Beschwerdeführer (Finanzamt - FA -) für das Streitjahr 1988 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt, und zwar u. a. mit Einkünften aus nichtselbständiger Tätigkeit in Höhe von 85 000 DM, Einkünften aus Vermietung und Verpachtung in Höhe von 25 000 DM und einem Spekulationsgewinn in Höhe von 300 000 DM. Gegen den Ansatz des Spekulationsgewinns erhoben die Kläger Einspruch, mit dem sie begehren, einen solchen nicht anzusetzen. Ferner beantragten sie sinngemäß, die Vollziehung des angefochtenen Einkommensteuerbescheids in Höhe der auf den Spekulationsgewinn entfallenden Einkommensteuer auszusetzen.

Über den Einspruch ist noch nicht entschieden. Im Verlauf des Einspruchsverfahrens teilte das FA den Klägern mit, daß sich der Spekulationsgewinn nach erneuter Überprüfung nur auf 250 000 DM belaufe. Das FA ging jedoch in einem aus anderen Gründen geänderten Einkommensteuerbescheid 1988 weiterhin von einem Spekulationsgewinn in der ursprünglich angenommenen Höhe aus, entsprach jedoch dem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung in Höhe von . . . DM Einkommensteuer. Dieser Betrag entspricht der Differenz zwischen dem angesetzten und dem vom FA später für zutreffend erachteten Spekulationsgewinn.

Die Kläger wandten sich daraufhin an das Finanzgericht (FG) mit dem Antrag, den angefochtenen Einkommensteuerbescheid in der vollen streitigen Höhe auszusetzen.

Der Antrag hatte nur insoweit Erfolg, als das FG ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Höhe des Grundfreibetrags annahm; dies führte zur Aussetzung der Vollziehung in Höhe von . . . DM. Zur Begründung führte das FG im wesentlichen aus: Ernstliche Zweifel gegen die Rechtmäßigkeit des vom FA nunmehr angenommenen Spekulationsgewinns in Höhe von . . . DM bestünden bei summarischer Prüfung nicht. Begründet sei der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung jedoch insoweit, als der Steuerfestsetzung ein nach verfassungsrechtlichen Maßstäben unzureichender Grundfreibetrag zugrunde liege. Das Niedersächsische FG habe mit Beschluß vom 15. Januar 1991 IX 427 und 437/90 dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Vorschriften über den Grundfreibetrag für die Jahre 1986 und 1988 zur Prüfung vorgelegt. In seinem Vorlagebeschluß sei das Niedersächsische FG zu der Auffassung gelangt, daß für einen Zwei-Personen-Haushalt unter Einbeziehung eines Abschlags wegen Haushaltsersparnis ein tatsächlicher Grundbedarf von 15 876 DM angenommen werden müsse. Da der Staat das Existenzminimum des Steuerpflichtigen insoweit steuerfrei belassen müsse, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein erforderlich sei, müsse der Differenzbetrag zwischen dem gebotenen Grundfreibetrag von 15 876 DM und dem tatsächlich angesetzten doppelten Grundfreibetrag von 9 504 DM, also 6 372 DM, zusätzlich von der Besteuerung freigestellt werden. Die entsprechende Steuerbelastung würde sich auf 1 402 DM (22 % von 6 372 DM) belaufen.

Mit seiner Beschwerde, die das FG zugelassen hat, rügt das FA, daß das FG von der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) abgewichen sei. Der BFH habe nicht nur die Höhe des Grundfreibetrags für das Streitjahr 1988 als mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt (Urteil vom 8. Juni 1990 III R 14-16/90, BFHE 161, 109, BStBl II 1990, 969), sondern auch erneut bekräftigt, daß im Falle einer möglichen Verfassungswidrigkeit überwiegende öffentliche Belange es ausnahmsweise rechtfertigten, den Rechtsschutzanspruch des Bürgers einstweilen zurückzustellen (Beschluß vom 20. Juli 1990 III B 144/89, BFHE 162, 542, BStBl II 1991, 104).

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist begründet.

Gemäß § 69 Abs. 2 Sätze 1 und 2, Abs. 3 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann die Finanzbehörde oder auf Antrag das FG die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts u. a. dann aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts bestehen. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne bestehen, wenn bei einer überschlägigen Prüfung neben für die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts sprechenden Umständen gewichtige gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung der Tatfragen auslösen (Gräber / Koch, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 69 Anm. 88; Tipke / Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 69 FGO Anm. 10; jeweils mit weiteren Nachweisen). Ebenso wie aber ernstliche Zweifel an der Richtigkeit von Auslegung und Anwendung eines Gesetzes die Aussetzung der Vollziehung rechtfertigen, gilt dies auch dann, wenn ernstliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Gültigkeit eines Gesetzes selbst erhoben werden können (Urteil des BVerfG vom 21. Februar 1961 1 BvR 314/60, BStBl I 1961, 63). In diesem Fall verlangt der BFH allerdings im Hinblick auf den Geltungsanspruch jedes formell verfassungsmäßig zustande gekommenen Gesetzes zusätzlich ein - besonderes - berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (BFH-Entscheidungen vom 6. November 1987 III B 101/86, BFHE 151, 428, 434, BStBl II 1988, 134 m. w. N.; vom 2. August 1988 III B 12/88, BFHE 154, 123, 128, und in BFHE 162, 542, 545, BStBl II 1991, 104). Dieses kann z. B. wegen eines überwiegenden öffentlichen Interesses, insbesondere dem einer geordneten öffentlichen Haushaltswirtschaft, an der Vollziehung des Bescheides zu verneinen sein. An diesen Grundsätzen hält der Senat fest.

Im vorliegenden Streitfall sind bereits ernstliche verfassungsrechtliche Bedenken zu verneinen. Denn die Höhe des Grundfreibetrages für das Jahr 1988 ist bei summarischer Prüfung für einen Fall der hier vorliegenden Art verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Im übrigen wäre unter den hier gegebenen Umständen auch ein besonderes berechtigtes Interesse der Kläger an der Aussetzung der Vollziehung nicht gegeben.

In seinem Urteil in BFHE 161, 109, BStBl II 1990, 969 ist der Senat zu dem Ergebnis gekommen, daß die Einkommensbesteuerung in den Jahren 1986 bis 1988 verfassungsrechtlich jedenfalls dann nicht zu beanstanden war, wenn bei einem zu versteuernden Einkommen von 72 576 DM eine Einkommensteuer von 16 246 DM zu zahlen war. Im wesentlichen hat er seine Auffassung damit begründet, daß die Grundfreibeträge für die Jahre 1986 bis 1988 den entsprechenden Regelsätzen für die Sozialhilfe entsprächen und damit das steuerfrei zu belassende Existenzminimum ausreichend berücksichtigt sei.

Seine Auffassung, daß das Existenzminimum allein durch die Regelsätze nach dem Bundessozialhilfegesetz ausreichend berücksichtigt werde, die dadurch nicht erfaßten Aufwendungen für Kleidung, Hausrat und Heizung sowie die laufenden Leistungen für die Unterkunft in diesem Zusammenhang also vernachlässigt werden könnten, hat der Senat im Urteil in BFHE 161, 109, 114 f., BStBl II 1990, 969 u. a. damit begründet, daß der Grundfreibetrag - anders als etwa der Kinderfreibetrag - nicht isoliert von den übrigen Regelungen des Einkommensteuergesetzes (EStG) betrachtet werden dürfe, der Gesetzgeber auch nicht verpflichtet sei, das steuerliche Existenzminimum auf Bedarfstatbestände auszudehnen, die je nach den Umständen des Einzelfalles sehr unterschiedlich sein könnten und für die bereits sozialrechtliche Entlastungen vorgesehen seien. In solchen Fällen sei der Minderung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nach der Rechtsprechung des BVerfG vielmehr bei der Festsetzung der Sozialleistungen Rechnung zu tragen. Ferner hat der Senat darauf hingewiesen, daß bereits bei der Ermittlung der Steuerbemessungsgrundlagen Abzugsbeträge vorgesehen sind, die als disponibles Einkommen eigentlich zur Steuerzahlung zur Verfügung stehen müßten. Zu diesen Ermäßigungen gehörten etwa die Freibeträge nach § 13 Abs. 3 EStG sowie der Weihnachts- und der Arbeitnehmerfreibetrag, die Sonderausgaben und die - einen Sonderbedarf deckenden - außergewöhnlichen Belastungen. Der Senat hat in diesem Zusammenhang weiter darauf hingewiesen, daß bestimmte Einkommensteile, wie etwa private Veräußerungsgewinne, und eine Vielzahl von Transferleistungen von der Einkommensteuer befreit sind, andererseits bestimmte Bedarfstatbestände, wie z. B. das private Wohnen, steuerlich gefördert werden.

An diesen Ausführungen hält der Senat für Fälle der auch hier vorliegenden Art, in denen der Steuerpflichtige über ein ausreichend hohes Einkommen verfügt, so daß ihm unabhängig von der Höhe des Grundfreibetrages und unter Berücksichtigung der abzuführenden Steuern ausreichend Mittel zur Bestreitung seines Lebensunterhalts verbleiben, fest. Dem steht nicht entgegen, daß der Senat in seinem Beschluß vom 25. Juli 1991 III B 555/90 (BFHE 164, 570) ausgeführt hat, daß die Erwägungen aus dem Urteil in BFHE 161, 109, BStBl II 1990, 969 dann nicht gelten, wenn das zu versteuernde Einkommen (im dortigen Streitfall 8717 DM) so niedrig ist, daß dem Steuerpflichtigen nach Entrichtung der Einkommensteuer (dort 867 DM) nur ein Betrag verbleibt, der das sozialhilferechtlich garantierte Jahresexistenzminimum unterschreitet. Letzteres hat der Senat bei den dort gegebenen Verhältnissen im Anschluß an Lang (Reformentwurf zu Grundvorschriften des Einkommensteuergesetzes in: Münsteraner Symposium, Band II 1985, 71) nach den Regelsätzen der Sozialhilfe zuzüglich eines durchschnittlichen Kleideraufwands, durchschnittlicher Wohnungs- und Heizungskosten sowie durchschnittlicher Aufwendungen für Krankenkasse und andere Vorsorgeaufwendungen bestimmt. Für diesen Fall hat der Senat in dem vorerwähnten Beschluß auch ein berechtigtes Interesse an der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes bejaht, weil der Steuerpflichtige auch nach einer möglichen Tarifänderung als Folge einer die Verfassungswidrigkeit des Grundfreibetrages feststellenden Entscheidung des BVerfG stets von der Einkommensteuer freigestellt bleiben müsse, Fälle dieser Art andererseits aber nicht die Regel seien, so daß auch das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltswirtschaft zurücktreten müsse.

Alle diese Gesichtspunkte spielen in dem hier zu beurteilenden Streitfall keine Rolle, da die Kläger im Streitjahr über ausreichend hohe Einkünfte verfügten, so daß ihnen unabhängig von der Höhe des Grundfreibetrages und unter Berücksichtigung der abzuführenden Steuern ausreichend Mittel zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts zur Verfügung standen. Daß der Kläger im Zusammenhang mit dem Konkurs der Firma . . . , an der er als Kommanditist beteiligt war, aus einem besonderen Verpflichtungsgrund von einem Kreditinstitut wegen höherer monatlicher Raten in Anspruch genommen wird, kann im vorliegenden Zusammenhang nicht berücksichtigt werden und ist von den Klägern in diesem Verfahren auch nicht geltend gemacht worden. Im übrigen sind die Kläger nicht unvermögend, sondern verfügen offenbar insbesondere über größeren Grundbesitz.

Im Streitfall ist deshalb bei überschlägiger Prüfung die Verfassungsmäßigkeit des Grundfreibetrages zu bejahen. Andererseits wäre selbst bei Annahme ernstlicher Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der Höhe des Grundfreibetrages den Klägern wegen ihrer guten Einkommens- und Vermögensverhältnisse das besondere berechtigte Interesse an einer Aussetzung der Vollziehung im Hinblick auf höherwertige Interessen, insbesondere das Interesse des Staates an geordneter Haushaltswirtschaft, abzusprechen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 418139

BFH/NV 1992, 304

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