Leitsatz (amtlich)

Nimmt das FA während des Klageverfahrens die Einspruchsentscheidung zurück, ohne gleichzeitig über den Einspruch zu befinden, und erklärt der Kläger daraufhin die Hauptsache für erledigt, so ist nicht die Hauptsache, sondern nur das Klageverfahren erledigt. Die Kosten der Klage sind dann dem FA in entsprechender Anwendung des § 138 Abs. 2 Satz 2 FGO aufzuerlegen.

 

Normenkette

FGO § 138 Abs. 2 S. 2

 

Tatbestand

Die beschwerdeführende Ehefrau betreibt einen Großhandel. Auf Grund einer Prüfung der Steuerfahndungsstelle wurden die Einkommensteuern der beschwerdeführenden Eheleute (Steuerpflichtigen) für die Jahre 1959 bis 1963 zum Teil nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO, zum Teil nach § 225 AO anders festgesetzt; für 1964 erfolgte die Festsetzung erstmalig. Es ergaben sich dabei höhere Steuerbeträge.

Die Steuerpflichtigen legten Einspruch ein, mit dem sie eine Herabsetzung der Steuern beantragten.

Das FA erhöhte in der Einspruchsentscheidung den Gesamtbetrag der Steuern erneut und nahm dabei Bezug auf eine Stellungnahme der Steuerfahndungsstelle, die den Steuerpflichtigen noch nicht mitgeteilt war. Die Kosten des Einspruchs legte es den Steuerpflichtigen auf.

Die Steuerpflichtigen erhoben Klage, mit der sie u. a. beantragten festzustellen, daß die Einspruchsentscheidung und die ihnen zugrunde liegenden Bescheide nichtig seien, hilfsweise die Einspruchsentscheidung und die Steuerbescheide aufzuheben, hilfsweise die Steuern unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung in bestimmtem Umfang niedriger festzusetzen.

Zur Begründung der Klage trugen die Steuerpflichtigen vor, es werde in erster Linie die Verletzung formellen Rechts gerügt. Das FA habe die Einspruchsentscheidung nicht ausreichend begründet und daher gegen § 247 AO verstoßen. Es habe ihnen das rechtliche Gehör verweigert, weil es ihnen die Stellungnahme der Steuerfahndungsstelle, auf die es sich zur Begründung berufen habe, nicht vorher bekanntgegeben habe. Auch in materieller Hinsicht gebe die Einspruchsentscheidung Anlaß zu Bedenken, weshalb sie auch den Hilfsantrag auf niedrigere Festsetzung der Steuern gestellt hätten.

Während des Klageverfahrens nahm das FA die Einspruchsentscheidung unter Berufung auf die §§ 93 Abs. 2 und 94 Abs. 3 AO zurück. In der Rücknahmeverfügung heißt es, daß der ursprüngliche Berichtigungsbescheid über die Einkommensteuern 1959 bis 1964 damit erneut Gültigkeit erlange und daß über den Einspruch dagegen zu einem späteren Zeitpunkt erneut entschieden werde. Die Beteiligten erklärten daraufhin übereinstimmend, daß sich damit der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt habe. Nachdem der Berichterstatter des FG sie darauf aufmerksam gemacht hatte, daß sich nach seiner Auffassung der Rechtsstreit nur erledigt habe, soweit es sich um die Anfechtungsklage (Hilfsantrag) gehandelt habe, erklärte das FA, es stimme dem zu; mit der Zurücknahme der angefochtenen Einspruchsentscheidung sei der Hauptantrag der Steuerpflichtigen auf Feststellung der Nichtigkeit der Einspruchsentscheidung nicht erledigt. Falls die Steuerpflichtigen weiterhin auf ihrer Auffassung beharrten, daß der Rechtsstreit auch insoweit erledigt sei, beantrage es Entscheidung über die Feststellungsklage. Die Steuerpflichtigen blieben hingegen bei ihrer Ansicht, der Rechtsstreit sei in vollem Umfange erledigt.

Das FG erkannte darauf durch Beschluß, daß "nach Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache" die Steuerpflichtigen die Kosten des Vorverfahrens ganz, die Kosten der Klage zu 95 % zu tragen hätten.

Es führte zur Begründung aus, die Hauptsache sei wegen der Erklärung der Beteiligten erledigt.

Es sei nunmehr nur noch über die Kosten des Vorverfahrens und der Klage zu entscheiden. Die Steuerpflichtigen hätten neben ihrem Hauptantrag auf Feststellung der Nichtigkeit hilfsweise auch ein Anfechtungsbegehren geltend gemacht (§ 41 Abs. 2 FGO). Nach Auffassung des Senats liege hier eine Klage vor, wobei der Haupt- und Hilfsantrag demselben Tatbestand entflössen und somit materiell ein einheitlicher Klageanspruch geltend gemacht werde. Die Erklärung der Steuerpflichtigen, daß der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt sei, beziehe sich demnach auf alle geltend gemachten Ansprüche. Dabei hätten sie die Hauptsache in einem größeren Umfang für erledigt erklärt, als diese durch die Rücknahme der Einspruchsentscheidung tatsächlich erledigt worden sei. Durch ihre Erklärung hätten die Steuerpflichtigen zu erkennen gegeben, daß sie insoweit ihre Anträge eingeschränkt hätten. Die Kostenentscheidung sei nach § 138 Abs. 1 FGO nach billigem Ermessen zu treffen, wobei der bisherige Sach- und Streitstand zu berücksichtigen sei. Hinsichtlich der Kosten sei so zu entscheiden, wie zu erkennen gewesen wäre, wenn der Rechtsstreit nicht erledigt worden wäre. Im Streitfall könne unbedenklich von der nach §§ 93, 94 AO getroffenen Änderung und dem damit verbundenen Wiederinkrafttreten der Berichtigungsbescheide 1960 bis 1963 und der Erstfestsetzung 1964 ausgegangen werden. Der Senat wäre voraussichtlich auch bei einer Entscheidung in der Hauptsache zu einer entsprechenden Entscheidung gekommen. Danach seien den Steuerpflichtigen die Kosten für das Vorverfahren voll und für das Klageverfahren zu 95 % aufzuerlegen gewesen.

Mit ihrer Beschwerde gegen diesen Beschluß beantragen die Steuerpflichtigen, den Beschluß, soweit er die Kosten des Vorverfahrens betrifft, aufzuheben und die Kosten des Klageverfahrens dem FA aufzuerlegen.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Beschwerde ist begründet.

Der Senat kann dem FG nicht darin zustimmen, daß hier die Kostenentscheidung nach § 138 Abs. 1 FGO zu treffen war, daß also das FG zu prüfen hatte, wie der Rechtsstreit der Sache nach ohne das die Erledigung herbeiführende Ereignis entschieden worden wäre. Denn eine Erledigung der Hauptsache, d. h. des um den materiellen Gehalt der Steuerbescheide geführten Streits, war nicht eingetreten. So waren auch die Erklärungen der Parteien bei richtiger Auslegung nicht aufzufassen.

Dem Senat ist nicht verwehrt, die Erklärungen der Beteiligten auszulegen. Zwar haben der V. Senat des BFH in dem Beschluß V B 46/67 vom 15. Februar 1968 (BFH 91, 514, BStBl II 1968, 413), der I. Senat in dem Beschluß I B 56/67 vom 21. Februar 1968 (BFH 91, 521, BStBl II 1968, 414) und der VI. Senat in dem Beschluß VI B 47/67 vom 25. April 1968 (BFH 92, 469, BStBl II 1968, 608) ausgesprochen, daß eine übereinstimmende Erklärung, die Hauptsache sei erledigt, nicht dahin zu überprüfen sei, ob die Hauptsache tatsächlich erledigt war. Das besagt aber nicht, daß eine Prüfung ausgeschlossen ist, ob eine derartige Erklärung überhaupt abgegeben ist und welchen Inhalt sie hat (vgl. die BFH-Beschlüsse III R 69/67 vom 5. Dezember 1967, BFH 91, 20, BStBl II 1968, 203, und VI R 35/67 vom 23. Februar 1968, BFH 91, 403, BStBl II 1968, 352).

Nicht die Hauptsache, sondern der Rechtsbehelf, die Klage, hatte sich erledigt. Es war insofern zutreffend, wenn das FA in seinem an das FG gerichteten Schriftsatz vom 6. November 1967 erklärte, "das Rechtsmittel" habe sich "in der Hauptsache erledigt". Es deutet auch nichts darauf hin, daß die Steuerpflichtigen wegen der bloßen Aufhebung der Einspruchsentscheidung etwa hätten erklären wollen, sie seien auch der Sache nach zufrieden gestellt und erkennten die mit Einspruch angefochtene Entscheidung als richtig an, so daß man ihre Erklärung nicht etwa als Klagerücknahme deuten könnte (vgl. hierzu den Beschluß des BFH V B 33/67 vom 12. Oktober 1967, BFH 90, 367, BStBl II 1968, 98).

Die Steuerpflichtigen hatten allerdings erreicht, was sie mit der Klage in erster Linie erreichen wollten. Das ergibt sich, wenn man, wie das § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO fordert, die Anträge der Steuerpflichtigen auf ihren wahren Gehalt prüft. Ihr Ziel war nicht etwa, daß die Einspruchsentscheidung für nichtig erklärt werde; sie wollten vielmehr - das kam in den Anträgen Ziff. 1 und 2 zum Ausdruck - die Einspruchsentscheidung anfechten mit dem Ziel, daß sie wegen formeller Mängel beseitigt und das Verfahren in die Einspruchsinstanz zurückversetzt werde, in der sie nun den Tatsachenvortrag, von dem sie sich ausgeschlossen glaubten, nachholen konnten. Sie erstrebten also eine Entscheidung, wie sie für die erste Instanz in § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO und für das Revisionsverfahren ähnlich in § 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO vorgesehen ist. Für den Fall, daß das FG nicht zu einem derartigen Ergebnis kommen, sondern selbst in der Sache entscheiden sollte, stellten sie ihre - betragsmäßig nun veränderten - Anträge hinsichtlich der materiellen Gestaltung des von ihnen beanstandeten Bescheids. Das war sachgemäß. Denn auch im Klageverfahren ging es letzten Endes nicht um die verfahrensrechtliche Zurückversetzung, sondern um die Zurückversetzung mit dem Ziel, das sachlich Erstrebte zu erreichen.

Daß mit der Rücknahme der hinsichtlich ihrer formellen Richtigkeit umstrittenen Einspruchsentscheidung die Steuerpflichtigen den von ihnen erstrebten Zustand (Zurückversetzung in die Vorinstanz zur erneuten Entscheidung über ihr sachliches Begehren) in vollem Umfange, nicht aber auch eine sachliche Entscheidung zu ihren Gunsten erreicht hatten, war auch die vom FA selbst in der Rücknahmeverfügung ausgesprochene Ansicht. Es änderte nicht etwa die Einspruchsentscheidung, sondern es hob sie auf, erklärte, daß damit der (angefochtene) Bescheid wieder in der alten Form in Kraft trete und daß über den Einspruch der Steuerpflichtigen "zu einem späteren Zeitpunkt erneut entschieden" werde.

Es kann dahingestellt bleiben, ob das FA nach den von ihm herangezogenen §§ 93 und 94 AO berechtigt war, ohne eine Änderung seiner sachlichen Entscheidung lediglich die Einspruchsentscheidung aufzuheben. Denn seine Rücknahmeverfügung ist nicht angefochten. Es bedarf keiner Prüfung, ob sie unbeachtlich wäre, falls sie als nichtig anzusehen wäre. Denn derart schwere Mängel, daß eine Nichtigkeit angenommen werden könnte, liegen offenbar nicht vor.

Das FG befand sich nunmehr in einer Situation, in der die angefochtene Entscheidung (die Einspruchsentscheidung) nicht mehr existierte, somit auch eine auf sie bezügliche Entscheidung unmöglich geworden war und der Rechtsbehelf sich also erledigt hatte, so daß nur noch über die Kosten der Klage entschieden werden konnte.

Für einen solchen Fall sieht § 138 FGO unmittelbar keine Regelung vor. Die richtige Kostenentscheidung kann daher nur durch eine entsprechende Anwendung der in der Vorschrift zum Ausdruck gekommenen Rechtsgedanken gefunden werden, so wie auch für den Zivilprozeß bei einer Erledigung des Rechtsmittels eine entsprechende Anwendung des § 91a ZPO für richtig gehalten wird (vgl. Baumbach-Lauterbach, Zivilprozeßordnung, 29. Aufl., § 91a Anm. 4; Stein-Jonas-Schönke, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 19. Aufl., § 91a Anm. VI 4). Da die Entscheidung zur Hauptsache noch offen ist, scheidet § 138 Abs. 1 FGO für eine anologe Anwendung aus. Aus demselben Grunde entfällt eine analoge Anwendung des § 138 Abs. 2 Satz 1 erste Alternative FGO; denn das FA hat dem Begehren der Steuerpflichtigen der Sache nach noch nicht entsprochen. Der Fall des § 138 Abs. 2 Satz 1 zweite Alternative FGO (Untätigkeitsklage) liegt nicht vor. Es verbleibt mithin nur noch § 138 Abs. 2 Satz 2 FGO, der zwar - trotz seiner Stellung im Gesetz - keinen Fall der Erledigung der Hauptsache betrifft, aber doch insoweit seinem Rechtsgedanken nach ähnlich und daher entsprechend anwendbar ist, als er eine Kostenentscheidung für einen Fall vorsieht, in dem das FG, ohne in der Sache selbst zu entscheiden (§ 100 Abs. 2 Satz 2 FGO), die angefochtene Einspruchsentscheidung aufhebt, also das sachliche Ergebnis offenbleibt. Für diesen Fall sollen dem FA alle Kosten des Klageverfahrens auferlegt werden. Die entsprechende Anwendung dieser Vorschrift rechtfertigt sich in einem Falle, in dem das FA - zu Recht oder zu Unrecht - die gleiche prozessuale Situation (Zurückversetzung ins Einspruchsverfahren) selbst geschaffen hat. Es kann dabei - entgegen der Ansicht des FA - keine Rolle spielen, ob das FG, wäre es zu einer Entscheidung gekommen, eine solche nach § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO getroffen hätte oder nicht. Derartige Erwägungen hätten vielleicht bei einer Anwendung des § 138 Abs. 1 FGO von Bedeutung werden können, wo es um ein hypothetisches Ergebnis geht. Hier dagegen beruht die Kostenentscheidung auf der ganz anderen Erwägung, daß eine dem § 138 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO vergleichbare Lage tatsächlich vorliegt.

Da in der Sache selbst noch keine Entscheidung vorlag und das Einspruchsverfahren noch schwebte, mußte sich - wie auch bei unmittelbarer Anwendung des § 138 Abs. 2 Satz 2 FGO im Falle der Aufhebung nur der Einspruchsentscheidung - die Kostenentscheidung auf die Kosten des Klageverfahrens beschränken; die Kosten des Einspruchsverfahrens konnten nicht einbezogen werden. Der angefochtene Beschluß mußte mithin dahin abgeändert werden, daß die das Vorverfahren betreffende Kostenentscheidung nebst der Streitwertfestsetzung für das Einspruchsverfahren entfällt und die Kosten des Klageverfahrens dem FA aufzuerlegen sind.

 

Fundstellen

Haufe-Index 68244

BStBl II 1969, 113

BFHE 1969, 182

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