Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung Steuerliche Förderungsgesetze

 

Leitsatz (amtlich)

Gegen einen Beschluß, durch den das FG die Vollziehung aussetzen will, durch den es in Wirklichkeit jedoch eine einstweilige Anordnung trifft, ist sowohl der Rechtsbehelf statthaft, der gegen die erkennbar gewollte Entscheidung gegeben ist, als auch der, der dem objektiven Gehalt der angefochtenen Entscheidung entspricht.

Es ist begrifflich nicht möglich, die Vollziehung eines Verwaltungsaktes auszusetzen, durch den lediglich ein Erlaßantrag abgelehnt wird.

 

Normenkette

FGO §§ 69, 114, 128; AO § 242; LAG § 129

 

Tatbestand

Im Verfahren über die Hauptsache, das beim Finanzgericht (FG) anhängig ist, ist streitig, ob es das Finanzamt (FA) mit Recht abgelehnt hat, Zinsen und Tilgungsleistungen auf die Hypothekengewinnabgabe (HGA) zu erlassen. Das FA (Bf.) hatte den auf § 129 LAG gestützten Antrag der Bgin., die bezeichneten Schuldverpflichtungen für den Erlaßzeitraum 1956/1958 wegen ungünstiger Ertragslage zu erlassen, abgelehnt. Mit der nach erfolglosem Einspruch eingereichten Klage beantragte die Bgin. beim FG,

die beklagte Behörde unter Aufhebung des Bescheides vom 7. August 1963 und der Einspruchsentscheidung vom 2. November 1965 zu verurteilen, die Zinsen und Tilgungsleistungen auf die HGA für den Erlaßzeitraum 1956/1958 wegen ungünstiger Ertragslage zu erlassen.

Gleichzeitig beantragte die Bgin., "hinsichtlich der Zinsen und Tilgungsleistungen auf die HGA für den Erlaßzeitraum 1956/1958 die Vollziehung auszusetzen".

Das FG erließ hierauf folgenden Beschluß: "Die Vollziehung hinsichtlich der Zinsen und Tilgungsleistungen auf die HGA für den Erlaßzeitraum 1956/1958 wird hinsichtlich eines Teilbetrages von 1.961,56 DM bis zur Entscheidung des Rechtsstreits durch das FG Hamburg ausgesetzt."

Die Entscheidungsgründe enthalten unter anderem folgende Ausführungen:

"Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung hinsichtlich der Zinsen und Tilgungsleistungen auf die HGA für den Erlaßzeitraum 1956/1958 ist zulässig. Er ist jedoch nur teilweise begründet.

Es bestehen ernsthafte Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Einspruchsentscheidung."

"Insoweit wird die Vollziehung bis zur Entscheidung über die Klage durch das FG gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 FGO ausgesetzt."

Die in dem angefochtenen Beschluß enthaltene Rechtsmittelbelehrung bezeichnet die Beschwerde als zulässigen Rechtsbehelf.

Mit der gegen den Aussetzungsbeschluß gerichteten Beschwerde macht das FA in erster Linie geltend, das FG habe zu Unrecht § 69 Abs. 3 FGO angewendet; der Aussetzung seien nur vollziehbare Verwaltungsakte fähig.

Die Bgin. beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen. Sie ist der Auffassung, Gegenstand des Hauptverfahrens sei der HGA-Bescheid für die Jahre 1956/1958.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist zulässig und begründet.

I. -

Bedenken gegen die Zulässigkeit der Beschwerde bestehen nicht deshalb, weil die vom FG getroffene Entscheidung der Sache nach eine einstweilige Anordnung darstellt, obwohl das FG in Wirklichkeit die Vollziehung aussetzen wollte.

Der Antrag der Bgin. war darauf gerichtet, die Vollziehung hinsichtlich der Zinsen und Tilgungsleistungen auf die HGA für den Erlaßzeitraum 1956/1958 auszusetzen. Die Entscheidungsformel des angefochtenen Beschlusses entspricht diesem Antrag wörtlich mit der Maßgabe, daß das FG die Vollziehung nur wegen eines Teilbetrages aussetzte. Als Gegenstand des Beschlusses bezeichnet die Vorinstanz die "Aussetzung der Vollziehung hinsichtlich der Zinsen und Tilgungsleistungen auf die HGA für den Erlaßzeitraum 1956/1958".

Nach der Rechtsmittelbelehrung ist als statthafter Rechtsbehelf (nur) die Beschwerde an den Bundesfinanzhof (BFH) gegeben. Auf eine einstweilige Anordnung kann sich diese Belehrung schon deswegen nicht beziehen, weil die Beschwerde nur gegen einen Beschluß in Betracht kommt, durch den ein Antrag, eine solche Anordnung zu erlassen, abgelehnt wird (§§ 114 Abs. 4, 128 Abs. 1 FGO).

Schließlich sprechen auch die oben wiedergegebenen Stellen aus dem angefochtenen Beschluß eindeutig dafür, daß der Wille des FG darauf gerichtet war, die Vollziehung auszusetzen. Das FG hat den Teilerfolg des Aussetzungsantrages damit begründet, daß ernsthafte Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Einspruchsentscheidungen bestünden. Es hat außerdem als Rechtsgrundlage für seine Entscheidung den § 69 Abs. 3 Satz 1 FGO angeführt.

Der Sache nach hat das FG jedoch nicht eine Aussetzung der Vollziehung gewährt, sondern eine einstweilige Anordnung erlassen. Für die Qualifikation ist es unerheblich, ob die Voraussetzungen des § 114 FGO im Streitfall erfüllt waren.

Es ist schon rein begrifflich nicht möglich, die Vollziehung der den Erlaßantrag ablehnenden Verfügung auszusetzen (vgl. Urteil des BFH III 325/59 S vom 21. Juli 1961, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bd. 73 S. 497 - BFH 73, 497 -, BStBl III 1961, 446; Beschluß I S 3/66 vom 26. April 1966, BFH 86, 55, BStBl III 1966, 359). Dies ergibt sich aus der Funktion der Aussetzung der Vollziehung. Da nach dem Recht der AO (§ 242 Abs. 1) und der FGO (§ 69 Abs. 1) Rechtsbehelfen und Klagen grundsätzlich eine aufschiebende Wirkung nicht zukommt - die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts nicht gehindert wird - ist zur Wahrung der schutzwürdigen Interessen des rechtsuchenden Staatsbürgers die Möglichkeit geschaffen worden, durch Verwaltungs- oder Gerichtsakt (§ 242 Abs. 2 AO, § 69 Abs. 2 und 3 FGO) die aufschiebende Wirkung durch die Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes herbeizuführen. Diese Möglichkeit kommt hinsichtlich solcher Hoheitsakte einer Verwaltungsbehörde in Betracht, die einen Eingriff in die Rechtssphäre des Staatsbürgers bewirken oder in der Form einer Feststellung darstellen. Sie ist jedoch hinsichtlich solcher Verwaltungsakte undenkbar, die eine hoheitliche Regelung nicht enthalten, durch die es vielmehr abgelehnt wird, eine Regelung - etwa durch Gewährung oder Feststellung einer begehrten günstigen Rechtsposition - zu treffen. Unterläßt die Behörde eine begehrte günstige Regelung oder lehnt sie eine solche ab, kann vorläufiger Rechtsschutz nur in der Form der einstweiligen Anordnung nach § 114 FGO in Betracht kommen.

Das FG hat durch die von ihm getroffene Entscheidung nicht die Vollziehung der den Erlaßantrag ablehnenden Verfügung des FA ausgesetzt, vielmehr dem FA geboten, sich jedweder auf die Einziehung der HGA gerichteten Maßnahmen zu enthalten, soweit es sich um Verpflichtungen in Höhe von 1.961,56 DM handelt, die während des Erlaßzeitraumes 1956/1958 fällig geworden sind. Dies ist zwar in der Entscheidungsformel des angefochtenen Beschlusses, weil die Vorinstanz sowohl den Begriff der Aussetzung der Vollziehung als auch das Wesen der einstweiligen Anordnung verkannt hat, nicht ausdrücklich gesagt. Es ist jedoch offensichtlich, daß das FG mit seiner Entscheidung verhindern wollte, daß das FA vor der endgültigen Entscheidung des FG in der Hauptsache den Betrag von 1.961,56 DM einzieht. Eine solche Maßnahme kann in dem vorliegenden Zusammenhang nur als einstweilige Anordnung im Sinne des § 114 FGO qualifiziert werden.

Gegen den angefochtenen Beschluß ist die Beschwerde gegeben, obwohl er der Sache nach eine einstweilige Anordnung enthält, die vom FA an sich nur mit dem Antrag auf mündliche Verhandlung (§ 114 Abs. 4 Satz 1 FGO) angegriffen werden konnte.

In Rechtsprechung und Schrifttum (vgl. Stein-Jonas-Schönke, Zivilprozeßordnung, Einleitung III vor § 511; Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 9. Aufl., § 133, II; Baumbach- Lauterbach, Zivilprozeßordnung, 29. Aufl., Grundzüge zu § 511, Anm. 4; Klinger, Verwaltungsgerichtsordnung, 2. Aufl., vor § 124 Einführung B; Eyermann-Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 4. Aufl., § 124 Anm. 3, § 125 Anm. 9) ist streitig, ob für die Art des statthaften Rechtsbehelfs der in der angefochtenen Entscheidung erkennbar zum Ausdruck gebrachte Wille des Gerichts (subjektive Theorie) oder der objektive Gehalt der angefochtenen Entscheidung (objektive Theorie) maßgebend ist oder ob sowohl der Rechtsbehelf zuzulassen ist, der gegen die erkennbar gewollte Entscheidung gegeben ist, als auch der, der dem objektiven Gehalt der angegriffenen Entscheidung entspricht (sogenannter Grundsatz der Meistbegünstigung). Der Senat schließt sich der zuletzt genannten Auffassung aus den bei Stein-Jonas-Schönke, a. a. O., III, 1, und Rosenberg, a. a. O., dargelegten Gründen an.

Die vorstehend dargestellten Meinungsverschiedenheiten beziehen sich hauptsächlich auf solche Fälle inkorrekter Entscheidungen, in denen z. B. ein Urteil statt eines Beschlusses ergangen ist oder in denen das Gericht ein Zwischenurteil erlassen wollte, in Wirklichkeit jedoch ein Teilurteil oder Urteil über den Grund des Anspruches ergangen ist (vgl. die Nachweise bei Stein- Jonas-Schönke, a. a. O., III, 2; Rosenberg, a. a. O.). Ein Mangel dieser Art liegt hier nicht vor. Die Entscheidung über den Antrag, die Vollziehung auszusetzen, ergeht durch Beschluß; dasselbe gilt für den Antrag, eine einstweilige Anordnung zu erlassen. Im vorliegenden Falle ist der Fehler - wie bereits dargelegt - darin zu sehen, daß eine Divergenz zwischen dem vom FG Gewollten und dem tatsächlich Geschehenen besteht; die dem äußeren Anschein nach als Aussetzung der Vollziehung ergangene Entscheidung ist sachlich eine einstweilige Anordnung. Dieser Mangel war unter Berücksichtigung des Umstandes, daß das Institut der einstweiligen Anordnung dem bisherigen steuerlichen Verfahrensrecht fremd war, für die Verfahrensbeteiligten nicht ohne weiteres erkennbar; er ist, wie die Schriftsätze des FA und der Bgin. erkennen lassen, auch nicht erkannt worden. Es wäre daher nicht sachgerecht, den Fehler der Vorinstanz dem beschwerdeführenden FA zum Nachteil gereichen zu lassen und die Beschwerde als unstatthaft zu verwerfen, weil das FA gegen die Entscheidung des FG Antrag auf mündliche Verhandlung hätte stellen müssen (§ 114 Abs. 4 FGO).

Der Auffassung der Bgin., Gegenstand der Aussetzung der Vollziehung sei der HGA-Bescheid gewesen, kann nicht gefolgt werden. Dieser Bescheid ist unanfechtbar geworden. Die Aussetzung der Vollziehung kann sich, wie sich aus den Absätzen 1 bis 3 des § 69 FGO ergibt, rein begrifflich - von der hier nicht interessierenden Ausnahme des § 69 Abs. 2 Satz 3 FGO abgesehen - nur auf angefochtene Verwaltungsakte beziehen. Gegenstand des Verfahrens in der Hauptsache ist aber die ablehnende Verfügung des FA, für den Erlaßzeitraum 1956/1958 Zinsen und Tilgungsleistungen auf die HGA zu erlassen.

II. - Die Beschwerde ist auch begründet. Die angefochtene Entscheidung muß aufgehoben und die Sache an das FG zur anderweiten Entscheidung zurückverwiesen werden.

Der zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses führende Rechtsirrtum des FG besteht - wie bereits dargelegt - darin, daß die Vorinstanz die Entscheidung, die sie fällen wollte, in Wirklichkeit nicht gefällt hat. Für die Entscheidung über die Beschwerde muß davon ausgegangen werden, daß das FG - wenn auch in inkorrekter Weise - der Sache nach eine einstweilige Anordnung erlassen hat. Ob eine vom FG erlassene einstweilige Anordnung materiell rechtmäßig ist, darf der BFH nicht prüfen. Er kann nur auf eine Beschwerde (§ 128 FGO), die sich dagegen richtet, daß das FG es abgelehnt hat, eine einstweilige Anordnung zu erlassen, in eigener Kompetenz eine Regelung im Sinne des § 114 FGO treffen.

Die Aufhebung des Beschlusses und die Zurückverweisung der Sache zur anderweiten Entscheidung machen den Weg frei für eine die dargestellte Divergenz nicht enthaltende Entscheidung. Das FG erhält damit Gelegenheit, die Bgin. darauf hinzuweisen, daß ihr Antrag der Sache nach auf eine einstweilige Anordnung gerichtet sei; der Bgin. wird es dadurch ermöglicht, zu prüfen, ob sie den Antrag unter Berücksichtigung der Regeln des § 114 FGO (Abs. 1 und 3 in Verbindung mit § 920 der Zivilprozeßordnung) in einer Weise begründen kann, die Aussicht auf Erfolg verspricht..

 

Fundstellen

Haufe-Index 412365

BStBl III 1967, 142

BFHE 1967, 335

BFHE 87, 335

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