Entscheidungsstichwort (Thema)

Beschwerde gegen Ablehnung der Aussetzung des Verfahrens durch Beschluß des FG - Rechtsschutzinteresse für eine Klage

 

Leitsatz (amtlich)

1. a) Lehnt das FG einen Antrag auf Aussetzung des Klageverfahrens durch Beschluß ab, so ist die hiergegen eingelegte Beschwerde unabhängig davon zulässig, ob das FG bereits in der Hauptsache entschieden hat.

b) Hat die Beschwerde Erfolg, kann der in der Nichtaussetzung liegende Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens nachträglich mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision geltend gemacht werden. Wegen der Versäumung der Beschwerdefrist ist dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

2. Das Rechtsschutzinteresse für eine Klage betr. die Höhe des Grundfreibetrags entfällt nicht dadurch, daß das FA den angefochtenen Einkommensteuer-Bescheid von sich aus für vorläufig erklärt.

 

Orientierungssatz

Eine Aussetzung des Klageverfahrens nach § 74 FGO kann geboten sein, wenn vor dem BVerfG bereits ein nicht als aussichtslos erscheinendes Musterverfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm anhängig ist, den FG zahlreiche Parallelverfahren vorliegen und keiner der Beteiligten des Klageverfahrens ein besonderes berechtigtes Interesse an einer Entscheidung des FG über die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen gesetzlichen Regelung trotz des beim BVerfG anhängigen Verfahrens hat (vgl. BFH-Beschluß vom 7.2.1992 III B 24, 25/91).

 

Normenkette

FGO §§ 74, 128 Abs. 2 Hs. 2, § 56 Abs. 1, § 115 Abs. 2 Nr. 3; AO 1977 § 165 Abs. 1

 

Tatbestand

Nach erfolglosem Einspruchsverfahren gegen den Einkommensteuerbescheid für 1983 begehrten die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) die Berücksichtigung eines erhöhten Grundfreibetrages und zu diesem Zwecke die Aussetzung des Klageverfahrens, bis das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) über die bei ihm anhängige Verfassungsbeschwerde betreffend die Verfassungsmäßigkeit des Grundfreibetrags im Zusammenhang mit der Einkommensteuer 1983 entschieden habe.

Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) änderte den angefochtenen Bescheid während des finanzgerichtlichen Verfahrens durch Bescheid vom 17.September 1991; der geänderte Bescheid wurde auf Antrag der Kläger zum Gegenstand des Verfahrens. In diesem Bescheid hat das FA zwei nach dem Einkommensteueränderungsgesetz (EStÄndG) 1991 erhöhte Kinderfreibeträge gewährt und den Bescheid wegen der streitigen Höhe des Grundfreibetrages gemäß § 165 Abs.1 der Abgabenordnung (AO 1977) für vorläufig erklärt.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage als unzulässig ab. Es führte aus, nachdem die Kläger ihre Bedenken gegen die Änderung in dem zunächst angefochtenen Bescheid fallengelassen hätten, könnte ihre Beschwer nur noch darin liegen, daß sie die Festsetzung eines höheren Grundfreibetrages begehrten. Insoweit könne das FA jedoch den für vorläufig erklärten Einkommensteuerbescheid jederzeit ändern, sobald das BVerfG den Grundfreibetrag für verfassungswidrig erkläre und der Gesetzgeber ihn entsprechend erhöhe. Ein Rechtsschutzinteresse für die Gewährung eines höheren Grundfreibetrages sei deshalb nicht gegeben.

Mit Beschluß vom gleichen Tag wies das FG den Antrag auf Aussetzung des Verfahrens zurück. Zur Begründung führte es --unter Hinweis auf das gleichzeitig ergehende Urteil-- lediglich aus, eine Aussetzung des Verfahrens sei nicht zweckmäßig, weil die Klage unzulässig geworden sei.

Gegen diesen Beschluß richtet sich die vorliegende Beschwerde.

Die Kläger beantragen, das Verfahren auszusetzen, bis eine Entscheidung des BVerfG über die Verfassungsmäßigkeit des Grundfreibetrages 1983 ergangen sei oder feststehe, daß dieses in der Sache nicht entscheiden wird.

Die Kläger meinen, das FG hätte dem Aussetzungsantrag stattgeben müssen und die Klage nicht abweisen dürfen. Denn sie hätten keine Möglichkeit gehabt, sich gegen die Verfahrensweise des FA zu wenden. Damit aber gelinge es dem FA, die Kosten des Verfahrens auf den Steuerzahler abzuwälzen, selbst wenn dieser später in der Sache Recht bekomme. Außerdem liege darin ein Verstoß gegen Art.19 Abs.4 des Grundgesetzes (GG). Schließlich könne nicht unberücksichtigt bleiben, daß bei einer Erledigung der Verfahren vor dem BVerfG durch Rücknahme des dort ursprünglich gestellten Antrags sie, die Kläger, keine Möglichkeit mehr hätten, ihren ursprünglichen Klageantrag selbständig verfolgen zu können. Ein Verfahren beim BVerfG beruhe außerdem auf einem Vorlagebeschluß eines FG, dessen Zulässigkeit immer besonders geprüft werde. Werde die Zulässigkeit verneint, hätten sie keine Möglichkeit auf Verfolgung ihres Begehrens.

Das FA beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

Es meint, die Zurückweisung des Aussetzungsantrags durch das FG sei verfahrensrechtlich nicht zu beanstanden und unterliege auch keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Eine Abweichung vom Beschluß des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 8.Mai 1991 I B 132, 134/90 (BFHE 164, 194, BStBl II 1991, 641) liege schon deshalb nicht vor, weil das FG hier --anders als in dem vom BFH entschiedenen Fall-- keine Sachentscheidung getroffen habe.

Während des Beschwerdeverfahrens ist ein wiederum geänderter Einkommensteuerbescheid ergangen, in dem der Vorläufigkeitsvermerk auch auf die Höhe der abzugsfähigen Vorsorgeaufwendungen erstreckt worden ist. Die Kläger haben beantragt, den geänderten Bescheid zum Gegenstand des Verfahrens zu machen.

 

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerde ist zulässig.

a) Ihre Statthaftigkeit ergibt sich aus § 128 Abs.2, Halbsatz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO).

Die Beschwerde ist nicht dadurch unzulässig geworden, daß das FG --in zeitlichem Zusammenhang mit der Ablehnung des Aussetzungsantrags-- im Hauptsacheverfahren entschieden hat. Das Rechtsschutzbedürfnis für die Beschwerde besteht vielmehr fort; denn stellt der BFH fest, daß das FG den Aussetzungsantrag zu Unrecht abgelehnt hat, liegt in diesem Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens (vgl. Beschluß in BFHE 164, 194, BStBl II 1991, 641) ein Verfahrensfehler, der auf entsprechende Beschwerde hin zur Zulassung der Revision gemäß § 115 Abs.2 Nr.3 FGO führen muß. Für diese Nichtzulassungsbeschwerde ist den Klägern ggf. in entsprechender Anwendung der vom Großen Senat des BFH im Beschluß vom 30.November 1981 GrS 1/80 (BFHE 134, 525, 531, BStBl II 1982, 217) aufgestellten Grundsätze Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Zwar hat der Große Senat des BFH seine --die Frage der Richterablehnung betreffende-- Entscheidung in BFHE 134, 525, 531, BStBl II 1982, 217 auch darauf gestützt, daß die Frage der Begründetheit des Ablehnungsgesuchs selbst nicht Gegenstand einer revisionsrichterlichen Nachprüfung sein könne. Nach Auffassung des erkennenden Senats läßt sich hieraus jedoch nicht schließen, daß den Klägern im vorliegenden Fall entgegengehalten werden könnte, sie hätten die Nichtaussetzung des Klageverfahrens von vornherein im Wege der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision geltend machen müssen. Insoweit ist nach Auffassung des Senats maßgebend, daß es sich bei der Entscheidung über die Aussetzungsfrage, wenn diese (wie hier) durch gesonderten Beschluß erfolgt, um eine selbständige Zwischenentscheidung handelt, die auch selbständig mit der Beschwerde anfechtbar ist. Hier wie bei der Richterablehnung ist das FG nicht gehindert, vor Rechtskraft der Zwischenentscheidung ein Sachurteil zu erlassen (BFH-Beschluß vom 2.März 1978 IV R 120/76, BFHE 125, 12, BStBl II 1978, 404, 406, zur Richterablehnung; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14.Aufl., § 74 FGO Anm.3). Tut es dies, muß der Kläger auch die Möglichkeit haben, die gesonderte Nichtaussetzung des Verfahrens selbständig überprüfen zu lassen, und zwar in dem vom FG eingeschlagenen Verfahren, also durch Beschwerde gegen den ablehnenden Beschluß des FG (vgl. auch Ziemer/Haarmann/Lohse/Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Tz.2744/3, wegen der entsprechenden Frage im Rechtsbehelfsverfahren vor der Verwaltungsbehörde).

b) Das Rechtsschutzinteresse war auch nicht dadurch entfallen, daß das FA den angefochtenen Einkommensteuerbescheid für vorläufig erklärt hat. Denn durch die Vorläufigkeitserklärung kann nicht das prozessuale Interesse der Kläger auf Klärung ihres Begehrens in dem angestrengten Klageverfahren beseitigt werden. Anderenfalls hätte das FA --jedenfalls in Fällen, in denen, wie hier, nur ein Punkt streitig ist-- die Möglichkeit, den Kläger aus dem Verfahren zu drängen. Das aber will der Gesetzgeber gerade verhindern, wie sich aus § 68 FGO ergibt. Aber auch bei mehreren Streitpunkten könnte die Frage nach Auffassung des Senats nicht anders beurteilt werden, und zwar schon aus kostenrechtlichen Erwägungen.

Die vorstehende Rechtsauffassung steht nicht in Widerspruch zum Senatsurteil vom 7.Februar 1992 III R 61/91 (BFHE 167, 279, BStBl II 1992, 592). Hier hat der Senat ausgesprochen, daß der Kläger einen Rechtsanspruch auf Vorläufigkeitserklärung des angegriffenen Steuerbescheids hat, wenn das FG anderenfalls das Klageverfahren wegen eines beim BVerfG anhängigen Musterverfahrens aussetzen müßte. Das Urteil geht davon aus, daß ein solcher Anspruch auch geltend gemacht wird.

2. Die Beschwerde ist auch begründet.

Durch Beschluß vom 7.Februar 1992 III B 24, 25/91 (BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408) hat der erkennende Senat entschieden, daß eine Aussetzung des Klageverfahrens nach § 74 FGO geboten sein kann, wenn vor dem BVerfG bereits ein nicht als aussichtslos erscheinendes Musterverfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm anhängig ist, den FG zahlreiche Parallelverfahren vorliegen und keiner der Beteiligten des Klageverfahrens ein besonderes berechtigtes Interesse an einer Entscheidung des FG über die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen gesetzlichen Regelung trotz des beim BVerfG anhängigen Verfahrens hat. Der vorstehende Beschluß betraf ein Klageverfahren, in dem es u.a. um verfassungsrechtliche Zweifel an der Höhe des Grundfreibetrages für 1983 ging. Im Hinblick u.a. auf den Vorlagebeschluß des FG Münster vom 1.Februar 1991 16 K 936/90 E (Entscheidungen der Finanzgerichte 1991, 253) an das BVerfG betreffend die Höhe des Grundfreibetrags in den Veranlagungszeiträumen 1978 bis 1984 hat der Senat in seinem vorerwähnten Beschluß eine entsprechende Aussetzung des Verfahrens durch das FG für berechtigt und auch geboten erachtet. Wegen der Begründung im einzelnen nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen auf den Beschluß in BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408 Bezug. Nach diesen Grundsätzen wäre auch im vorliegenden Streitfall, der die Höhe des Grundfreibetrags im Jahr 1983 betrifft, eine Aussetzung des Verfahrens, die die Kläger beantragt hatten, geboten gewesen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 64176

BFH/NV 1993, 6

BStBl II 1993, 123

BFHE 169, 110

BFHE 1993, 110

BB 1993, 65 (L)

DB 1993, 76 (L)

DStR 1993, 322 (KT)

DStZ 1993, 735 (KT)

HFR 1993, 119 (LT)

StE 1992, 705 (K)

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