Entscheidungsstichwort (Thema)

Verletzung rechtlichen Gehörs

 

Leitsatz (NV)

  1. Das FG genügt seiner Verpflichtung, den Beteiligten rechtliches Gehör im Rahmen der mündlichen Verhandlung zu gewähren, grundsätzlich dadurch, dass es eine mündliche Verhandlung anberaumt, die Beteiligten ordnungsgemäß lädt und die mündliche Verhandlung zu dem festgesetzten Zeitpunkt durchführt.
  2. Dies gilt jedoch nur für bereits in das jeweilige Verfahren eingeführte und den Beteiligten bekannte oder bekannt gegebene Tatsachen oder Rechtsfragen.
  3. Das FG ist im Rahmen seiner Ermessensentscheidung insbesondere dann zur Vertagung verpflichtet, wenn die Entscheidung nur aufgrund tatsächlicher oder rechtlicher Gesichtspunkte erfolgen könnte, zu denen den Beteiligten bisher kein rechtliches Gehör gewährt worden war.
  4. Das FG verletzt das Recht auf rechtliches Gehör, wenn es zur maßgeblichen Grundlage der Klageabweisung einen Vertrag zwischen Dritten macht, den das FA erstmalig in der in Abwesenheit der Klägerin durchgeführten mündlichen Verhandlung in das Verfahren einführt und dort vorlegt.
 

Normenkette

FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3, § 116 Abs. 6, § 119 Nr. 3; BGB § 613a

 

Tatbestand

I. Mit Aufhebungsvertrag vom 20. April 1995 wurde das Arbeitsverhältnis der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) bei der Einzelfirma A zum 30. April 1995 aufgehoben und eine Abfindung von … DM vereinbart; das Unternehmen stellte seine Tätigkeit wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten ein. Gleichfalls mit Vertrag vom 20. April 1995 schloss die Klägerin einen neuen Arbeitsvertrag mit der am 3. April 1995 gegründeten Firma A-GmbH, an der GmbH war u.a. der Inhaber des ehemaligen Einzelunternehmens beteiligt.

Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ―FA―) lehnte die Steuerfreiheit der Abfindung nach § 3 Nr. 9 des Einkommensteuergesetzes (EStG) unter Hinweis auf § 613a des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) ab, weil das Arbeitsverhältnis zwar mit neuem Arbeitgeber, aber im Wesentlichen auf der Grundlage der bisherigen Vertragsbedingungen fortgeführt worden sei. Die Klägerin hielt dem entgegen, das frühere Arbeitsverhältnis sei weder durch vertragliche noch durch gesetzliche Vorschriften fortgesetzt worden.

Erst in der mündlichen Verhandlung, an der die Klägerin nicht teilnahm, legte die Vertreterin des FA einen Kaufvertrag vom 10. April 1995 zwischen dem bisherigen Einzelunternehmer und der GmbH vor, der ―nach Auffassung des Finanzgerichts (FG)― den Verkauf des Einzelunternehmens zum Gegenstand hatte.

Das FG wies die Klage ab, weil das Arbeitsverhältnis nicht beendet, sondern auf Grund des Betriebsüberganges vom 10. April 1995 gemäß § 613a BGB mit dem neuen Arbeitgeber fortgesetzt worden sei. Dem Aufhebungsvertrag könne deshalb keine Bedeutung mehr zukommen.

Die Klägerin begehrt die Zulassung der Revision und rügt mit ihrer Beschwerde, das FG habe unzulässigerweise und überraschend unter Verletzung ihres Rechts auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 des Grundgesetzes (GG) einen Vertrag zwischen Dritten verwertet und zudem dessen Inhalt nicht hinreichend aufgeklärt.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet.

1. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig, soweit die Klägerin die Verletzung ihres Rechts auf rechtliches Gehör geltend macht. Sie hat die Beschwerde form- und fristgerecht eingelegt (§ 116 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―) und begründet (§ 116 Abs. 3 FGO) und einen Verfahrensfehler dargelegt, auf dem das Urteil des FG beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).

2. Die Beschwerde ist auch begründet. Die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO liegen vor. Das FG hat den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt, indem es bei seiner Entscheidung den vom FA erstmalig in der mündlichen Verhandlung erwähnten und vorgelegten Vertrag vom 10. April 1995 zur maßgeblichen Grundlage der Klageabweisung gemacht und damit verfahrensfehlerhaft in Abwesenheit der Klägerin aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden hat (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 3. September 2001 GrS 3/98, BFHE 196, 39, BStBl II 2001, 802, unter C. III. 1. b).

a) Das FG genügt seiner Verpflichtung, den Beteiligten rechtliches Gehör im Rahmen der mündlichen Verhandlung zu gewähren, zwar grundsätzlich dadurch, dass es eine mündliche Verhandlung anberaumt, die Beteiligten ordnungsgemäß lädt und die mündliche Verhandlung zu dem festgesetzten Zeitpunkt durchführt. Macht der Steuerpflichtige ―wie hier― von der Möglichkeit der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung keinen Gebrauch, so kann er sich später insoweit nicht mehr auf die Verletzung seines Rechts auf Gehör berufen. Die Gelegenheit war gegeben, das Recht ist verbraucht (vgl. auch BFH-Urteil vom 23. November 1978 I R 144/76, BFHE 126, 368, BStBl II 1979, 191).

Dies gilt jedoch nur für bereits in das jeweilige Verfahren eingeführte und den Beteiligten bekannte oder bekannt gegebene Tatsachen oder Rechtsfragen (vgl. BFH-Urteil vom 21. Januar 1998 III R 31/97, BFH/NV 1998, 732). Im Falle eines Ausbleibens eines Beteiligten hat das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu befinden, ob es gleichwohl in der Sache entscheidet oder den Termin vertagt. Es ist im Rahmen seiner Ermessensentscheidung insbesondere dann zur Vertagung verpflichtet, wenn die Entscheidung nur aufgrund tatsächlicher oder rechtlicher Gesichtspunkte erfolgen könnte, zu denen den Beteiligten bisher kein rechtliches Gehör gewährt worden war (BFH-Urteil vom 10. August 1988 III R 220/84, BFHE 154, 17, BStBl II 1988, 948; vgl. auch BFH-Beschluss vom 9. Juli 1996 VII R 23/96 und VII B 41/96, BFH/NV 1997, 44, sowie BFH-Urteil vom 21. Dezember 1994 I R 65/94, BFHE 176, 571).

b) Das FG hat dem Vertrag und insbesondere dem Datum seines Abschlusses entscheidende Bedeutung dafür beigemessen, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin nicht aufgelöst worden sei. Die Tatsache des Vertrags und sein Datum sind neue tatsächliche Gesichtspunkte, zu denen der abwesenden Klägerin bisher kein rechtliches Gehör gewährt worden war. Die Klägerin musste auch nicht damit rechnen, dass das FA einen derartigen Vertrag vorlegen würde.

Das FA hatte zwar in der Einspruchsentscheidung § 613a BGB erwähnt, die Zurückweisung des Einspruchs aber nicht auf den Betriebsübergang gestützt. Die Klägerin hatte einer Fortsetzung ihres Arbeitsverhältnisses im Klageverfahren aufgrund vertraglicher oder gesetzlicher Vorschriften ausdrücklich widersprochen.

c) Es ist nicht auszuschließen, dass das FG zu einer anderen Entscheidung hätte gelangen können (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO), wenn die Klägerin sich zu dem Kaufvertrag hätte äußern können; für den Fall der Versagung des rechtlichen Gehörs wird dies gemäß § 119 Nr. 3 FGO unwiderleglich vermutet (BFH-Beschluss in BFHE 196, 39, BStBl II 2001, 802, unter C. III. 1. b). Die Kausalitätsvermutung des § 119 Nr. 3 FGO soll zwar dann nicht gelten, wenn der Gehörverstoß nur einzelne Feststellungen oder rechtliche Gesichtspunkte betrifft, die für den Ausgang des Rechtsstreits offensichtlich nicht entscheidungserheblich sind (vgl. BFH-Beschluss in BFHE 196, 39, BStBl II 2001, 802, unter C. III. 1. a). Der Betriebsübergang durch Betriebsverkauf ergibt sich nach Überzeugung des FG im Streitfall aber gerade aus dem vorgelegten Vertrag.

3. Die Aufhebung des FG-Urteils und die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung beruht auf § 116 Abs. 6 FGO.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1053822

BFH/NV 2004, 51

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