Entscheidungsstichwort (Thema)

Prozeßkostenhilfe in Schätzungsfällen

 

Leitsatz (NV)

Im Prozeßkostenhilfeverfahren findet in Schätzungssachen keine abschließende Würdigung statt. Es ist anhand der wichtigsten Tatumstände lediglich zu prüfen, ob eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Behauptung des Klägers spricht. Geht es um die Schätzung von Betriebsausgaben, ist zu Gunsten eines Klägers, der seinen Gewinn nach § 4 Abs. 3 EStG ermittelt, zu berücksichtigen, daß die Betriebsausgaben nicht aufgezeichnet zu werden brauchen.

 

Normenkette

FGO § 96 Abs. 1, § 142 Abs. 1; ZPO § 114; AO 1977 § 162 Abs. 2; EStG § 4 Abs. 3

 

Verfahrensgang

Hessisches FG

 

Tatbestand

Der Kläger, Antragsteller und Beschwerdeführer (Kläger) war in den Streitjahren 1977 bis 1981 Versicherungsvertreter. Er ermittelte seinen Gewinn gemäß § 4 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Im Hauptsacheverfahren betreffend Einkommensteuersteuer 1977 bis 1981 vor dem Finanzgericht (FG) ist die Höhe der betrieblich veranlaßten Kfz-Kosten streitig:

vom Kläger erklärte und in den angegriffenen Steuerbe-

begehrte Kfz-Kosten scheiden anerkannte Kfz-Kosten

DM DM

1977 18 301,76 7 250,00

1978 19 627,86 7 250,00

1979 18 872,96 7 250,00

1981 20 480,00 7 250,00

Den erklärten Kfz-Kosten lagen jährliche Kilometerleistungen von 57 193 km (1977), 61 337 km (1978), 58 978 km (1979) und 64 595 km (1981) zugrunde (Aufwendungssatz 0,32 DM/km). Der Beklagte, Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) ging nach einer Betriebsprüfung davon aus, daß jährlich lediglich 12 000 km gefahren worden seien (Aufwendungssatz nach ADAC-Tabellen 0,603 DM/km).

Das FG hatte einen Antrag des Klägers auf Gewährung von Prozeßkostenhilfe (PKH) mangels hinreichender Erfolgsaussichten mit folgender Begründung abgelehnt: Für 1980 sei verspätet Einspruch eingelegt worden. Die betrieblich gefahrenen Strecken müßten anhand von Aufzeichnungen der Einzelfahrten belegt werden. Der Kläger habe weder Fahrtenbücher noch sonstige sachdienliche Unterlagen vorgelegt. Die Schätzung der Kfz-Kosten durch das FA sei nach dem gegenwärtigen Verfahrensstand nicht zu beanstanden.

Der Kläger hat - beschränkt auf die Jahre 1977 bis 1979 und 1981 - Beschwerde eingelegt und Reisekostenabrechnungen für die Jahre 1977 bis 1979 und 1981 nebst Bestätigungen von Kunden seiner Versicherungsgesellschaft, von Tankstellen usw. vorgelegt. Er ist der Ansicht, daß diese Unterlagen eine höhere Schätzung der Kfz-Kosten rechtfertigten. Der Kläger hat auf Anfrage des FG im Nichtabhilfeverfahren ausgeführt, die Reisekostenabrechnungen seien von seiner Tochter erst 1987 erstellt worden. Grundaufzeichnungen seien Kalendereinträge gewesen. Vorgelegt werde der Kalender für 1979. Die anderen Kalender seien nach der Übertragung vernichtet worden. Sie hätten jedoch seinerzeit dem Betriebsprüfer vorgelegen.

Das FA beantragt, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen. Es erwidert: Dem Betriebsprüfer seien ein Taschenkalender 1977, ein Falttaschenkalender 1978 und ein Taschenkalender 1979 vorgelegt worden. Der Taschenkalender 1977 sei auf 1978 umgestellt worden, habe dabei jedoch zahlreiche Widersprüche zu dem Falttaschenkalender 1978 aufgewiesen. Die Angaben in den nachgereichten Unterlagen könnten nicht übernommen werden.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückweisung der Sache an das FG.

Voraussetzung für die Gewährung von PKH ist, daß die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 142 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO - i.V.m. § 114 der Zivilprozeßordnung - ZPO -). Hinreichende Erfolgsaussichten sind anzunehmen, wenn das Vorbringen des Klägers bei summarischer Prüfung nicht von vornherein als aussichtslos erscheint, vielmehr der begehrte Erfolg eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich hat (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 29. April 1981 IV S 4/77, BFHE 133, 253, BStBl II 1981, 580; vom 25. März 1986 III B 5-6/86, BFHE 146, 223, BStBl II 1986, 526). Es ist davon auszugehen, daß ein die Erfolgsaussichten begründender Sachverhalt auch noch im Beschwerdeverfahren vorgebracht werden kann (BFH-Beschluß vom 2. Oktober 1986 VII B 39/86, BFH/ NV 1987, 390). Ein Erfolg (oder Teilerfolg) der Klage läßt sich nicht ausschließen.

Mit dem FG ist anzunehmen, daß der Kläger die Kfz-Kosten und deren betriebliche Veranlassung nicht nachgewiesen hat. Die nachträglich erstellten Reisekostenrechnungen haben keinen höheren Beweiswert als die Grundaufzeichnungen in den Kalendern. Die Kalender 1977, 1978 und 1981 existieren nicht mehr, weil sie der Kläger vernichtet hat. Der Kläger kann sich nicht darauf berufen, daß der Betriebsprüfer die Kalender gesehen hat. Er hätte vielmehr in Rechnung stellen müssen, daß die Aufzeichnungen der Streitjahre noch für das schwebende Verfahren benötigt werden. Davon abgesehen, würden die Kalender, wenn sie - so ist zu vermuten - wie der vorgelegte Kalender 1979 ausgesehen haben sollten, die behaupteten Fahrtleistungen nicht belegen. In dem Kalender 1979 ist mit Bleistift eingetragen worden. Die Eintragungen hätten sich also durch Radieren verändern lassen (dazu § 146 Abs. 4 der Abgabenordnung - AO 1977 -). Auch fehlen Angaben über den Reisezweck.

Der fehlende Nachweis führt indessen nicht zur Versagung eines Betriebsausgabenabzugs. Die betrieblich veranlaßten Fahrtkosten, die hier zweifellos in einem bedeutenden Umfang angefallen sind, sind vielmehr zu schätzen (§ 162 Abs. 2 Satz 1 AO 1977). Hiervon ist auch das FG ausgegangen. Es stellt in dem angegriffenen Beschluß eine eingehende Prüfung an, daß es zu keinem höheren Schätzbetrag als das FA kommen werde. Dieses Vorgehen steht im Widerspruch zu der BFH-Rechtsprechung, nach der in PKH-Schätzungssachen keine abschließende Würdigung stattfindet; es ist lediglich anhand der wichtigsten Tatumstände zu prüfen, ob eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Behauptung des Klägers spricht (BFH-Beschlüsse vom 27. August 1986 VIII B 84/85, BFH/NV 1987, 119; vom 6. Februar 1987 III B 169 u. 170/86, BFH/NV 1987, 322; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, § 142 Anm. 7). Das FG hat einerseits, bezogen auf den Erkenntnisstand im Zeitpunkt seines Beschlusses, in dem Schätzungsstreit endgültig Stellung bezogen. Andererseits läßt seine unbegründet gebliebene Nichtabhilfeentscheidung nicht erkennen, ob sich aus den nachgereichten Unterlagen neue wichtige Gesichtspunkte für den Standpunkt des Klägers ergeben haben könnten.

Die Sache wird an das FG zurückverwiesen. Der Senat kann die Schätzungsprognose nicht in eigener Zuständigkeit anstellen. Die Prognose fällt in den Bereich tatsächlicher Würdigung, die einer revisionsrechtlichen Überprüfung entzogen ist.

Das FG wird im zweiten Rechtsgang folgendes zu beachten haben: PKH kann auch teilweise gewährt werden (BFH-Beschluß vom 16. Mai 1985 VIII S 18/84, BFH/NV 1987, 186). Das FG ist bei seiner Schätzungsprognose unabhängig von dem Schätzungsverhalten des FA (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO). Es könnte z. B. auch - jedenfalls für Prognosezwecke - den Reingewinn, ausgehend von den bekannten Betriebseinnahmen (Provisionen), mit Hilfe eines üblichen Reingewinnsatzes schätzen. Sollte es weiterhin unmittelbar die betrieblich veranlaßten Kfz-Aufwendungen schätzen wollen, wird es zugunsten des Klägers zu berücksichtigen haben, daß dieser seinen Gewinn nach § 4 Abs. 3 EStG ermittelt und nicht verpflichtet ist, Betriebsausgaben aufzuzeichnen (BFH-Urteil vom 2. März 1982 VIII R 225/80, BFHE 136, 28, BStBl II 1984, 504). Die fehlenden bzw. mangelhaften Aufzeichnungen des Klägers entbinden das FG nicht davon, bei der Schätzung ziffernmäßig den tatsächlich entstandenen, betrieblich veranlaßten Fahrtaufwendungen so nahe wie möglich zu kommen. Der Kläger kann nicht mit Schätzungsnachteilen belegt werden, die sich aus einer nicht ordnungsgemäßen Buchführung (§ 158, § 162 Abs. 2 Satz 2 AO 1977) ergeben. Sollte eine höhere Leistung als jährlich 12 000 km zu prognostizieren sein, wird möglicherweise im Wege der Gegenrechnung der Aufwendungssatz zu berücksichtigen sein, den der Betriebsprüfer unter Übernahme von ADAC-Werten mit 0,603 DM/km angesetzt hat. Der Kläger selbst hat in Anlehnung an Abschn. 119 Abs. 3 Nr. 1 der Einkommensteuer-Richtlinien (EStR) lediglich einen Satz von 0.32 DM/km geltend gemacht. Sollte die Klage - wenn auch nur teilweise - erfolgversprechend sein, wird das FG noch die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers prüfen müssen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 415781

BFH/NV 1988, 731

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