Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Abhandenkommen der Revisionsschrift

 

Leitsatz (NV)

1. Müssen bei dem Revisionskläger aufgrund einer Mitteilung des Finanzamts gewichtige Zweifel daran aufkommen, daß seine Revisionsschrift beim FG eingegangen ist, so ist er zur Erlangung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gehalten, unverzüglich beim Finanzgericht wegen des Eingangs der Revisionsschrift nachzufragen.

2. Wird zur Entschuldigung einer Fristversäumnis vorgetragen, ein zur Fristwahrung abgesandter Schriftsatz sei abhanden gekommen und das Abhandenkommen falle nicht in den Verantwortungsbereich des Beteiligten (oder seines Prozeßbevollmächtigten), so müssen zur Erlangung der Wiedereinsetzung Tatsachen glaubhaft gemacht werden, aus denen sich ergibt, daß das Schriftstück den Verantwortungsbereich des Beteiligten (bzw. seines Prozeßbevollmächtigten) in ordnungsmäßiger Form verlassen hat.

 

Normenkette

FGO § 56 Abs. 2 Sätze 1-2

 

Verfahrensgang

FG Köln

 

Tatbestand

Auf die Beschwerde der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) wegen Nichtzulassung der Revision im klagabweisenden Urteil des Finanzgerichts (FG) vom 26. November 1985 V K 280/85 hat der erkennende Senat durch Beschluß vom 30. April 1986 IV B 10/86 die Revision gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zugelassen. Diese Entscheidung wurde den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin am 22. Mai 1986 zugestellt. Innerhalb der Revisionsfrist ging eine Revisionsschrift der Klägerin nicht ein. Mit Schreiben vom 1. August 1986 teilte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin folgendes mit:

,,. . ., gegen das Urteil des Finanzgerichts vom 26. 11. 1985 wurde keine Revision eingelegt, obwohl der Bundesfinanzhof diese mit Beschluß vom 30. 4. 1986 zugelassen hatte. Das vorgenannte Urteil ist damit rechtskräftig. Die Aussetzung der Vollziehung endete am 24. 6. 1986. Ich werde von der Erhebung von Säumniszuschlägen absehen, wenn die rückständigen Beträge von insgesamt 143,- DM bis zum 30. 9. 1986 entrichtet werden."

In ihrem Antwortschreiben vom 25. September 1986 bekundeten die Prozeßbevollmächtigten der Klägerin gegenüber dem FA ihr Erstaunen, daß dieses davon ausgehe, daß das klagabweisende FG-Urteil trotz erfolgreicher Nichtzulassungsbeschwerde rechtskräftig geworden sei. Sie hätten unter dem 27. Mai 1986 Revision beim FG eingelegt. Abschließend baten die Prozeßbevollmächtigten das FA um Mitteilung, aufgrund welcher Umstände das FA davon ausgehe, daß das FG-Urteil rechtskräftig geworden sei, damit gegebenenfalls Nachforschungen angestellt werden könnten, wo die Revisionsschrift geblieben sei. Mit Antwortschreiben vom 1. Oktober 1986 übersandte das FA die Fotokopie eines Schreibens der Geschäftsstelle des erkennenden Senats vom 21. Juli 1986. Mit diesem Schreiben wurden die Vorakten an FA und an FG unter dem Hinweis zurückgegeben, auf den Zulassungsbeschluß vom 30. April 1986 sei eine Revision nicht eingelegt worden.

Mit dem am 15. Oktober 1986 beim FG eingegangenen Schreiben vom 14. Oktober 1986 beantragen die Prozeßbevollmächtigten der Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unter Vorlage von Kopien einer vom 27. Mai 1986 datierenden Revisionsschrift. Sie legen dar, durch das ihnen am 6. Oktober 1986 zugegangene Antwortschreiben des FA vom 1. Oktober 1986 vom beigefügten Schreiben der Geschäftsstelle des erkennenden Senats vom 21. Juli 1986 Kenntnis erlangt zu haben. Die Revisionsschrift vom 27. Mai 1986 sei aber am Abend dieses Tages zur Post gegeben worden, was durch die eidesstattliche Versicherung der Anwaltsgehilfin A glaubhaft gemacht werde. Frau A hat in der beigefügten eidesstattlichen Versicherung ausgeführt, sie habe die Revisionsschrift am 27. Mai 1986 nach Diktat geschrieben. Aufgrund der Büroorganisation würden die von ihr geschriebenen Schreiben von ihr persönlich kuvertiert, frankiert und in den Briefkasten geworfen. Da sie immer in dieser Weise verfahre, könne sie mit Sicherheit sagen, daß dies auch im vorliegenden Fall so geschehen sei. Ein anderer Geschehensablauf sei aufgrund der Büroorganisation ausgeschlossen.

Die Klägerin beantragt, ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren und unter Aufhebung des FG-Urteils vom 26. November 1985 und des Einkommensteuerbescheids 1981 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 18. Juni 1986 die Einkommensteuer 1981 auf 725 DM festzusetzen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen. Es hält die Revision für unzulässig.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unzulässig.

Die Revision ist im Falle eines vorangegangenen Verfahrens wegen Nichtzulassung der Revision innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschwerdebescheids einzulegen (§ 115 Abs. 5 Satz 4 i. V. m. § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO). Diese Frist ist verstrichen, da die Beschwerdeentscheidung am 22. Mai 1986 zugestellt worden ist und die Revisionsschrift, die zwar vom 27. Mai 1986 datiert, beim FG erst am 15. Oktober 1986 eingegangen ist. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 56 FGO kann nicht gewährt werden, da die Klägerin weder den entsprechenden Antrag rechtzeitig gestellt noch eine unverschuldete Fristversäumnis glaubhaft gemacht hat.

1. Gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO ist der Antrag auf Wiederseinsetzung in den vorigen Stand binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Weiß ein Beteiligter nichts vom Eintritt der Säumnis, dann ist das Hindernis in dem Zeitpunkt weggefallen, in dem er (oder sein Prozeßbevollmächtigter) von der Fristversäumnis Kenntnis bekommen hatte oder bei ordnungsgemäßer Erledigung seiner Angelegenheiten bzw. berufsmäßigen Aufgaben hätte Kenntnis haben müssen (vgl. Gräber, Finanzgerichtsordnung, § 56 Rdnr. 9 m.w.N.; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 110 AO 1977 Rdnr. 25).

Den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin mußten aufgrund der Mitteilung des FA vom 1. August 1986, wegen der eingetretenen Rechtskraft des FG-Urteils sei die bis dahin gewährte Aussetzung der Vollziehung aufzuheben, derart gewichtige Zweifel an der Fristwahrung aufkommen, daß in Wahrung des von der höchstrichterlichen Rechtsprechung festgelegten Maßstabs von der äußersten Sorgfalt (Beschluß des Bundesarbeitsgerichts - BAG - vom 15. Oktober 1973 3 AZR 461/73, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1974, 124, und Beschluß des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 10. Juni 1974 VII ZB 12/74, Versicherungsrecht - VersR - 1974, 1029) zumindest eine unverzügliche Rückfrage bei der für eine Sachaufklärung zuständigen Stelle geboten war. Da die Prozeßbevollmächtigten in ihrem Wiedereinsetzungsgesuch vorgetragen haben, sie hätten (entsprechend § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO) die vom 27. Mai 1986 datierende Revisionsschrift dem am gleichen Ort domizilierenden FG auf dem Postwege übersandt, wäre es ein unumgängliches Gebot anwaltlicher Sorgfalt gewesen, bei diesem Gericht und nicht beim FA die unverzüglich gebotene Rückfrage zu halten. Eine Rückfrage am 25. September 1986, also erst nach sieben Wochen und noch dazu beim FA, genügt den Anforderungen an die gebotene Sorgfalt nicht.

Es kann hier dahinstehen, ob die Zweiwochenfrist des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO bereits mit dem Zugang des FA-Schreibens vom 1. August 1986 in Lauf gesetzt wurde oder erst mit der Auskunft des FG, falls es im Falle einer unverzüglichen Rückfrage bei ihm den Eingang der Revisionsschrift verneint hätte. Jedenfalls ist im Streitfall zu verneinen, daß die Zweiwochenfrist erst mit der Rückantwort des FA im Schreiben vom 1. Oktober 1986 in Gang gesetzt worden ist. Eine unverzügliche Rückfrage beim FG hätte auf jeden Fall noch Anfang des Monats August die notwendige Klärung über die Fristversäumnis herbeigeführt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätten die Prozeßbevollmächtigten der Klägerin von der Fristversäumnis Kenntnis haben können und müssen. Damit ist zum Zeitpunkt des 15. Oktober 1986 (Eingang des Wiedereinsetzungsantrages beim FG) die Zweiwochenfrist verstrichen.

2. Nach § 56 Abs. 2 Satz 2 FGO sind die Tatsachen, die die unverschuldete Fristversäumnis belegen sollen, glaubhaft zu machen. Diesen Anforderungen genügen die Ausführungen der Klägerin nicht. Wird wie im Streitfall vorgetragen, das Abhandenkommen eines Schriftsatzes falle in den Verantwortungsbereich anderer Personen oder Einrichtungen als in denjenigen des Beteiligten (oder seines Prozeßbevollmächtigten), bedarf es vorgreiflich der Glaubhaftmachung derjenigen Umstände, die belegen sollen, daß das Schriftstück den Verantwortungsbereich des Beteiligten (bzw. seines Prozeßbevollmächtigten) tatsächlich in ordnungsgemäßer Form verlassen hat. Es müssen demgemäß die Umstände des Absendens, der Adressierung oder des Nachweises einer Ausgangskontrolle näher dargelegt werden (vgl. nicht veröffentlichter Beschluß des Bundesfinanzhofs vom 13. März 1985 I R 122/83).

Die Klägerin hat diesen Anforderungen nicht in zureichendem Maße genügt. Unterstellt, die Anwaltsgehilfin A bringe alle von ihr geschriebenen Postsendungen am Tage ihrer Datierung tatsächlich zur Post, ist jedoch nicht glaubhaft gemacht, daß die vom 27. Mai 1986 datierende Revisionsschrift auch wirklich an diesem Tage geschrieben und ausgefertigt worden ist. Hierzu wären nähere Darlegungen zur Büroorganisation der Prozeßbevollmächtigten erforderlich gewesen. Es hätte unter Hinweis auf die ordnungsgemäße Fristen- und Postausgangskontrolle dargelegt werden müssen, daß der fristgebundene Schriftsatz gemäß den nachprüfbaren Aufzeichnungen im Fristenkontrollbuch und Postausgangsbuch zum angegebenen Zeitpunkt gefertigt und versandt worden ist, und wer die entsprechenden Eintragungen vorgenommen bzw. ihre Richtigkeit kontrolliert hat. Angesichts dieser Antragsmängel ist nicht glaubhaft gemacht, daß die Revisionsschrift wirklich zum angegebenen Zeitpunkt geschrieben und zur Post gegeben worden ist.

 

Fundstellen

Haufe-Index 414999

BFH/NV 1988, 780

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