Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Zulässigkeit einer Anschlußbeschwerde; zur Aussetzung der Vollziehung eines Garantiemengenfeststellungsbescheids

 

Leitsatz (NV)

1. Eine nach Ablauf der Beschwerdefrist eingelegte selbständige Anschlußbeschwerde ist in eine unselbständige umzudeuten.

2. Die unselbständige Anschlußbeschwerde ist nicht fristgebunden.

3. Legt das HZA als Antragsgegner Beschwerde ein, so ist diese zulässig, wenn eine materielle Beschwer vorliegt. Diese ist gegeben, wenn das FA den Antrag als unzulässig anstatt als unbegründet zurückgewiesen hat.

4. In der stillschweigenden Entgegennahme der Mitteilung der Molkerei über die Referenzmenge nach § 4 Abs. 5 Satz 2 durch das HZA liegt ein Verwaltungsakt.

5. Zu den Voraussetzungen für die Aussetzung der Vollziehung eines Garantiemengenfeststellungsbescheids.

 

Normenkette

FGO §§ 69, 128-129; MGVO § 4 Abs. 5 S. 2, § 6 Abs. 6

 

Tatbestand

Der Antragsteller ist Landwirt und Milcherzeuger. Mit Schreiben vom 7. Juni 1984 teilte ihm die Molkerei, an die er seine Milch abliefert, mit, daß seine Anlieferungs-Referenzmenge nach § 4 der Milch-Garantiemengen-Verordnung (MGVO) 352 300 kg betrage (d. h. 400 868 kg abzüglich der nach der MGVO vorgesehenen Kürzungssätze). Auf Antrag des Antragstellers erkannte die für ihn zuständige Landwirtschaftskammer eine besondere Situation nach § 6 Abs. 4 MGVO an und erteilte ihm am 27. September eine Bescheinigung nach § 9 Abs. 2 Nr. 2 MGVO, nach der ab 1. Oktober 1984 anstelle der bisherigen Referenzmenge von 400 868 kg eine solche von 406 400 kg Milch trat. Von der Bescheinigung einer höheren Referenzmenge sah die Landwirtschaftskammer im Hinblick auf die Regelung des § 6 Abs. 6 MGVO ab (Begrenzung auf die Milchmenge von 80 Kühen; der Antragsteller hat 91 Milchkühe in seinen Stallungen stehen). Über die nach erfolglosem Widerspruch gegen den Bescheid der Landwirtschaftskammer erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht (VG) offenbar noch nicht entschieden.

Die Molkerei berechnete unter Berücksichtigung des Bescheids der Landwirtschaftskammer vom 27. September 1984 und der nach der MGVO vorzunehmenden Kürzungen die Referenzmenge mit 355 600 kg und teilte dies dem Antragsteller mit. Dieser legte gegen die Referenzmengenfeststellung Einspruch beim HZA ein, den das HZA als unbegründet mit dem Hinweis zurückwies, die Referenzmengenberechnung sei nach den Vorschriften der MGVO durchgeführt worden. Mit seiner dagegen erhobenen Klage machte der Antragsteller u.a. geltend: Die Referenzmengenfeststellung berücksichtigte seine Investitionen nicht. Die Begrenzung auf die Milchleistung von 80 Kühen bedrohe seine Existenz. Diese Begrenzung sei auch rechtswidrig; sie verletze ihn in seinen Grundrechten auf Gleichheit vor dem Gesetz und auf Schutz des Eigentums. Er beantragte vor dem FG die Aufhebung der Referenzmengenfeststellung des HZA und die Verpflichtung des HZA, ihn erneut unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden, wobei sein tatsächlicher Kuhbestand bis zur Grenze von 91 Stück Milchvieh bei der erneuten Referenzmengenfeststellung zugrunde zu legen sei. Das FG wies die Klage als unzulässig mit der Begründung ab, es fehle an einem anfechtbaren Verwaltungsakt (Urteil vom 9. Oktober 1985 IV 221/85, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1986, 79). Gegen diese Entscheidung legte sowohl der Antragsteller als auch das HZA Revision ein (Aktenzeichen des Bundesfinanzhofs - BFH - VII R 2-3/86), über die noch nicht entschieden ist.

Auf Antrag des Antragstellers hatte das HZA am 22. Oktober 1984 zunächst Aussetzung der Vollziehung bewilligt, diese aber mit Bescheid vom 7. Dezember 1984 wieder aufgehoben. Der Antragsteller stellte daraufhin beim FG den Antrag, unter einstweiliger Aussetzung der Vollziehung der Referenzmengenfeststellung des HZA eine einstweilige Regelung dahingehend zu treffen, daß seine Referenzmenge nach seinem tatsächlichen Kuhbestand bis zur Grenze von 91 Stück Milchvieh bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Klage in der Hauptsache oder einer rechtskräftigen Entscheidung über die Klage vor dem VG festgesetzt wird.

Das FG lehnte den Antrag mit folgender Begründung ab: Der Antrag sei nicht statthaft. Es fehle an einem vollziehbaren Verwaltungsakt. Die Entgegennahme der Mitteilung der Molkerei über die Referenzmenge durch das HZA sei kein Verwaltungsakt. Anderes gelte auch dann nicht, wenn der Antrag als ein solcher auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung auszulegen wäre. Die Entscheidung der Frage, ob § 6 Abs. 2 MGVO wegen Verstoßes gegen Grundrechte nicht anzuwenden sei, falle in den Zuständigkeitsbereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Soweit die Verfassungsmäßigkeit der MGVO insgesamt in Frage gestellt werde, komme ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung der Abgabenfestsetzung bei dem dafür zuständigen HZA in Betracht. Das FG hat die Beschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.

Gegen diesen Beschluß haben beide Beteiligte Beschwerde eingelegt. Der Antragsteller begründet seine Beschwerde wie folgt:

Die Feststellung der Referenzmenge sei als Verwaltungsakt zu qualifizieren. Die Regelung des § 6 MGVO sei insoweit verfassungswidrig, als sie zwar Ausnahmeregelungen für besondere Härtefälle enthalte, die Rechtsfolge hieraus aber eine Sperre sei, nämlich eine Begrenzung auf 80 Kühe. Aus § 8 des Gesetzes zur Durchführung der gemeinsamen Marktorganisationen (MOG) folge nicht, daß der nationale Gesetzgeber gezwungen gewesen sei, eine solche starre Grenze festzulegen. Diese führe im Ergebnis dazu, daß Härtefälle bei Kleinbauern ohne sachlichen Grund bevorzugt würden. Eine solche Abgrenzung erscheine willkürlich. Eine verfassungskonforme Auslegung der MGVO müsse dazu führen, daß das HZA aufgrund eigener Entscheidung die Referenzmenge für ihn, den Antragsteller, auf den tatsächlichen Bestand seiner Kühe bis zur Höchstgrenze von 91 Kühen erhöhe.

Da eine endgültige Entscheidung in der Hauptsache noch nicht absehbar sei, bedürfe es einer einstweiligen Regelung. Er müsse sonst endgültige Zustände schaffen, indem er weiteres Vieh schlachte oder verkaufe. Durch solche Maßnahmen und die dadurch bedingte Zinsbelastung werde seine wirtschaftliche Existenz gefährdet. Der Antragsteller legte ein Gutachten des vereidigten und öffentlich bestellten Gutachters E. über die Auswirkungen der Anwendung der MGVO für den Antragsteller vor. Der Gutachter kommt zum Ergebnis, daß bei Anwendung der Regelung des Art. 6 Abs. 6 MGVO dem Antragsteller nur noch ein Familieneinkommen in Höhe von 21 120 DM jährlich verbleibe. Unter diesen Umständen, so führt der Antragsteller weiter aus, bilde der Hof für seine Familie und die seines Sohnes keine ausreichende Lebensgrundlage mehr.

Der Antragsteller wiederholt im wesentlichen seinen Antrag aus der Vorinstanz und bittet, die Vorentscheidung entsprechend abzuändern, hilfsweise, die Sache an das FG zurückzuverweisen.

Mit Fernschreiben vom 30. Oktober 1985 - eingegangen beim FG am 4. November 1985 - legte das HZA gegen den ihm am 17. Oktober 1986 zugestellten Beschluß Beschwerde ein. Auf den Hinweis des Vorsitzenden des erkennenden Senats, daß demnach die Beschwerde verspätet eingegangen sei, bat das HZA mit Schriftsatz vom 23. Dezember 1985, die Beschwerde als unselbständige Anschlußbeschwerde zu behandeln. Zur Begründung führt das HZA aus:

Das FG hätte den Antrag als unbegründet und nicht als unzulässig zurückweisen müssen. In der Referenzmengenfeststellung liege ein vollziehbarer Verwaltungsakt. Die Vollziehung der Referenzmengenfeststellung könne nach § 361 der Abgabenordnung (AO 1977) und § 69 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ausgesetzt werden. Dies folge aus dem Umstand, daß die Quotenfestsetzung als Grundlage einer eventuellen Abgabenerhebung die wirtschaftliche Dispositionsmöglichkeit des Erzeugers einschränke. Im Ergebnis sei aber der Entscheidung des FG zuzustimmen, weil keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Referenzmengenfeststellung bestünden und deren Vollziehung keine unbillige Härte zur Folge habe. Das HZA hat keinen ausdrücklichen Antrag gestellt.

 

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerden der Beteiligten sind zulässig.

Die Beschwerde des HZA ist als unselbständige Anschlußbeschwerde zu behandeln. Das HZA hat die Beschwerde zwar zunächst selbständig eingelegt. Als solche war sie unzulässig, da sie nach Ablauf der Beschwerdefrist nach § 129 Abs. 1 FGO beim FG eingegangen ist. Die Beschwerde ist jedoch umzudeuten in eine - nach gefestigter Rechtsprechung des BFH grundsätzlich statthafte (vgl. z. B. Beschluß vom 24. Oktober 1969 VI B 63/69, BFHE 97, 276, BStBl II 1970, 95) - unselbständige Anschlußbeschwerde; dem Schriftsatz des Antragstellers vom 7. Februar 1986 ist mittelbar zu entnehmen, daß er damit einverstanden ist (vgl. zu der entsprechenden Frage bei der Anschlußrevision BFH-Urteil vom 22. Mai 1979 VIII R 218/78, BFHE 128, 314, 317, BStBl II 1979, 741, mit Hinweisen auf Rechtsprechung und Literatur).

Die unselbständige Anschlußbeschwerde ist zulässig, obwohl sie erst nach Ablauf der Frist des § 129 Abs. 1 FGO eingelegt worden ist (BFH-Entscheidungen in BFHE 97, 276, BStBl II 1970, 95, und vom 31. Juli 1967 I B 35/67, BFHE 90, 92, BStBl III 1967, 784; vgl. auch Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 129 FGO Anm. 2; Ziemer/Haarmann/Lohse/Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Bd. 3, Tz. 10202). Daran, daß die unselbständige Anschlußbeschwerde nicht fristgebunden ist, ändert sich nichts dadurch, daß die unselbständige Anschlußrevision in entsprechender Anwendung des § 556 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) innerhalb einer bestimmten Frist einzulegen ist (BFH-Urteil vom 8. April 1981 II R 4/78, BFHE 133, 155, BStBl II 1981, 534). § 556 Abs. 1 ZPO gilt nur für die Anschlußrevision. Eine entsprechende Bestimmung für die Anschlußbeschwerde fehlt. Nach allgemeiner Meinung kann daher auch die zivilrechtliche Anschlußbeschwerde bis zum Ergehen der Beschwerdeentscheidung (oder bis zur vorausgehenden mündlichen Verhandlung) eingelegt werden (vgl. z. B. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, 44. Aufl., § 577 Anm. 1 B; Zöller, Zivilprozeßordnung, 14. Aufl., § 577 Anm. 4).

Wie für jedes Rechtsmittel ist auch bei der Beschwerde das Vorliegen einer Beschwer Voraussetzung für die Zulässigkeit. Legt das HZA als Antragsgegner Beschwerde ein, so kommt es auf die materielle Beschwer an. Eine solche Beschwer liegt auch vor, wenn, wie im vorliegenden Fall, der Antrag als unzulässig anstatt als unbegründet abgelehnt worden ist (vgl. Beschluß des Senats vom 25. März 1986 VII B 164-165/85, BFHE 146, 188; Abdruck ist beigefügt).

2. Die Beschwerde des HZA hat Erfolg; sie führt in Abänderung der Vorentscheidung dazu, daß der Antrag des Antragstellers als unbegründet abgewiesen wird. Die Beschwerde des Antragstellers ist nicht begründet.

a) Zu Recht hat das FG den Finanzrechtsweg für gegeben erachtet (vgl. Beschluß des Senats vom 17. Dezember 1985 VII B 116/85, BFHE 145, 289, Recht der internationalen Wirtschaft/Außenwirtschaftsdienst des Betriebs-Beraters - RIW/AWD - 1986, 229).

b) Der Antragsteller begehrt, im Wege vorläufigen Rechtsschutzes eine höhere als die bisher festgestellte Referenzmenge festzustellen. Wie der Senat mit Beschluß in BFHE 145, 289, RIW/AWD 1986, 229 entschieden hat, ist in einem solchen Fall Rechtsschutz durch Aussetzung der Vollziehung und nicht durch einstweilige Anordnung zu gewähren. Der Senat hält an dieser Auffassung fest und verweist auf die Gründe des zitierten Beschlusses. Auch das FG ist offenbar davon ausgegangen.

c) Die Aussetzung der Vollziehung setzt das Vorliegen eines Verwaltungsakts voraus. Entgegen der Auffasung des FG ist hier ein solcher gegeben. Er liegt in der stillschweigenden Entgegennahme der Mitteilung der Molkerei nach § 4 Abs. 5 Satz 2 MGVO durch das HZA. Zur Begründung verweist der Senat auf den zitierten Beschluß vom 25. März 1986 VII B 164-165/85.

d) Nach § 69 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO soll das FG auf Antrag die Vollziehung ganz oder teilweise aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Zur Begründung verweist der Senat auf die Nr. 3 der Begründung seines Beschlusses in BFHE 145, 289, RIW/AWD 1986, 229.

Die verfassungsrechtlichen Bedenken des Antragstellers beziehen sich auf die Regelung des § 6 Abs. 6 MGVO. Sie haben also allein etwas mit dem Bereich der Berücksichtigung besonderer Situationen zu tun (vgl. z. B. Art. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 857/84 des Rates vom 31. März 1984, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften L 90/13, und § 6 MGVO). Darüber braucht aber der Senat im vorliegenden Verfahren nicht zu entscheiden, da sie nur im Rahmen des Bescheinigungsverfahrens nach § 9 Abs. 2 MGVO eine Rolle spielen können und im Falle eines Rechtsmittels gegen den entsprechenden Verwaltungsakt der zuständigen Landesstelle oder im Falle eines Antrags bei Gericht auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes der Entscheidung der VG unterliegen. Das gilt auch im Falle einer mit höherrangigem Recht nicht zu vereinbarenden Unvollständigkeit der Regelung der Härtefälle.

 

Fundstellen

Haufe-Index 414501

BFH/NV 1987, 133

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