Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensmangel: Überraschungsentscheidung, klarer Verstoß gegen den Inhalt der Akten

 

Leitsatz (NV)

  1. Eine Überraschungsentscheidung und damit ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG, § 76 FGO und § 96 Abs. 2 FGO liegt vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen musste. Der Anspruch auf rechtliches Gehör und die richterliche Hinweispflicht i.S. des § 76 Abs. 2 FGO verlangen jedoch nicht, dass das Gericht die maßgeblichen Rechtsfragen mit den Beteiligten umfassend erörtert. Auf nahe liegende rechtliche oder tatsächliche Gesichtspunkte braucht es zumindest dann nicht ausdrücklich hinzuweisen, wenn die Beteiligten fachkundig vertreten sind.
  2. Ein Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten ist nur dann ein Zulassungsgrund i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO, wenn das FG seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde legt, der schriftlich festgehaltenem Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht, oder wenn eine nach den Akten klar feststehende Tatsache unberücksichtigt geblieben ist. Eine schlüssige Rüge setzt deshalb die Darlegung des Beschwerdeführers voraus, dass ein von den Beteiligten vorgetragener oder aus den Akten erkennbarer Sachverhalt vom FG nicht zur Kenntnis genommen worden sei, dass Maßnahmen zur Sachverhaltsaufklärung sich dem FG hätten aufdrängen müssen oder das FG falsche Beweisregeln bei seiner Ermittlung des Gesamtergebnisses des Verfahrens angewendet habe. Es muss substantiiert dargelegt werden, dass die Vorentscheidung unter Zugrundelegung der dort vertretenen materiell-rechtlichen Auffassung möglicherweise anders getroffen worden wäre, wenn dem FG der vermeintliche Verfahrensfehler nicht unterlaufen wäre.
 

Normenkette

FGO §§ 76, 96 Abs. 2, §§ 115, 116 Abs. 3 S. 3; GG Art. 103 Abs. 1

 

Gründe

Die Beschwerde hat keinen Erfolg - teils, weil sie nicht in der erforderlichen Weise begründet wurde (§ 116 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung ―FGO― i.d.F. des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze ―2.FGOÄndG― vom 19. Dezember 2000, BGBl I 2000, 1757), teils, weil die Zulassungsgründe, welche die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) geltend machen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 FGO n.F.), nicht vorliegen.

1. Dargelegt i.S. des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO n.F. ist der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO nur, soweit der Rechtsuchende substantiiert und in sich schlüssig eine konkrete, im Interesse der Allgemeinheit an der Entwicklung und Handhabung des Rechts klärungsbedürftige und in diesem Verfahren klärungsfähige Rechtsfrage aufwirft (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 22. Dezember 1999 I B 46/99, BFH/NV 2000, 955, 956, und vom 18. Mai 2000 V B 178/99, BFH/NV 2000, 1504, 1505). Daran fehlt es im Streitfall, weil die Frage, ob bei der Einkommensteuerveranlagung eine Bindung an die Feststellungen bei der Einheitsbewertung besteht, entgegen der Auffassung der Kläger als grundsätzlich geklärt angesehen werden kann (vgl. BFH-Urteile vom 5. Dezember 1989 VIII R 322/84, BFH/NV 1990, 499; vom 27. Oktober 1998 X R 157/95, BFHE 187, 445, BStBl II 1999, 91).

2. Eine Zulassung der Revision gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO n.F. ―der Zulassungsgrund "Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung" erfasst auch die Divergenz der Entscheidung des Finanzgerichts (FG) von der Rechtsprechung des BFH― scheidet schon deshalb aus, weil die Begründung der Beschwerde insoweit nicht den Anforderungen nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO n.F. entspricht. Hinsichtlich der behaupteten Abweichung der FG-Entscheidung von dem BFH-Urteil vom 15. März 1973 VIII R 90/70 (BFHE 109, 254, BStBl II 1973, 591) fehlt die nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO n.F. gebotene Gegenüberstellung der abstrakten Rechtssätze des FG einerseits und des BFH andererseits (BFH-Beschluss vom 29. September 2000 X B 23/00, BFH/NV 2001, 437, m.w.N.). Es ist nicht ersichtlich, inwieweit das FG dem angefochtenen Urteil von der Entscheidung in BFHE 109, 254, BStBl II 1973, 591 abweichende Rechtssätze zugrunde gelegt hätte.

Der Einwand der Kläger, das FG habe nicht beachtet, dass sie bereits im Dezember 1994 sämtliche Rechte der Käufer des rechtsgültigen und genehmigten Grundstückskaufvertrags erworben und deshalb den Besitz an der Wohnung "in Erwartung des Eigentumserwerbs" innegehabt hätten, lässt nicht die Rüge abweichender Rechtssätze, sondern allenfalls die Rüge materiell-rechtlich fehlerhafter Entscheidung erkennen, die für sich allein keine Abweichung i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO n.F. darstellt (vgl. BFH in BFH/NV 2001, 437, m.w.N.).

3. Ein Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO n.F. ist nicht bezeichnet worden bzw. nicht gegeben.

a) Eine Überraschungsentscheidung und damit ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), § 76 FGO und § 96 Abs. 2 FGO liegt vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen musste (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1991 1 BvR 1383/90, BVerfGE 84, 188; BFH-Urteil vom 17. Februar 1998 VIII R 28/95, BFHE 186, 29, BStBl II 1998, 505; Beschlüsse vom 28. Mai 1998 III B 5/98, BFH/NV 1998, 1352; vom 23. April 1998 VII B 282/97, BFH/NV 1998, 1492). Der Anspruch auf rechtliches Gehör und die richterliche Hinweispflicht i.S. des § 76 Abs. 2 FGO verlangen jedoch nicht, dass das Gericht die maßgeblichen Rechtsfragen mit den Beteiligten umfassend erörtert. Auf nahe liegende rechtliche oder tatsächliche Gesichtspunkte braucht es zumindest dann nicht ausdrücklich hinzuweisen, wenn die Beteiligten fachkundig vertreten sind (vgl. BFH-Beschluss vom 20. August 1998 XI B 110/95, BFH/NV 1999, 329).

Ausgehend von diesen Grundsätzen haben die Kläger in ihrer Beschwerdebegründung nicht hinreichend dargetan, dass sie mit der Entscheidung des FG, sie seien nicht mit der Einräumung des Besitzes am 1. Juli 1995 wirtschaftliche Miteigentümer des Grundstücks geworden, weil die notariellen Verträge vom 16. August und 13. Dezember 1994 1993 wegen der fehlenden Genehmigung der Treuhandanstalt unwirksam waren, nicht zu rechnen brauchten. Bereits im Schriftsatz vom 21. Juni 2000 verneinte der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ―FA―) wirtschaftliches Eigentum der Kläger im Hinblick auf die fehlende Genehmigung der Verträge durch die Treuhandanstalt. Im weiteren Schreiben vom 4. August 2000 verwies das FA auf ein Schreiben des beurkundenden Notars vom 13. Februar 1996, wonach die Treuhand die erforderliche Genehmigung zur Vertragsänderung nicht erteilt habe. Angesichts dieser Einlassungen des FA mussten sich die fachkundig vertretenen Kläger darüber im Klaren sein, dass die Wirksamkeit der notariellen Verträge für die Entscheidung des FG von Bedeutung sein konnte. Ihrem Vorbringen in der Beschwerde, dass sie allein durch Vorlage der Zurechnungsfortschreibung vom 22. Februar 2000 davon ausgehen durften, ihr wirtschaftliches Eigentum am Grundstück ab dem 1. Januar 1995 sei nachgewiesen, kann nicht gefolgt werden. Das FA hat im Schriftsatz vom 7. August 2001 dargelegt, dass die Bewertungsstelle bei der Zurechnungsfortschreibung keine Kenntnis von der fehlenden Genehmigung der Vertragsänderungen des Jahres 1994 durch die Treuhandanstalt gehabt habe und falschen bewertungsrechtlichen Beurteilungen keine Bindungswirkung für das ertragsteuerliche Verfahren zukomme. Da das FG auch die rechtliche Beurteilung, wonach die Kläger nicht bereits am 1. Juli 1995 Eigenbesitz begründet haben, nicht aus einem geheimen Vorbehalt der Verkäufer der Miteigentumsanteile, sondern aus der den Vertragsparteien bekannten fehlenden Genehmigung der Verträge abgeleitet hat, brauchte das Gericht weder die Verkäufer noch den beurkundenden Notar als Zeugen zu hören. Auf die Frage, ob die Kläger die Nichterhebung der Beweise vor dem FG rechtzeitig gerügt haben oder aufgrund des Verhaltens des FG nicht mehr vor diesem rügen konnten, kommt es somit nicht entscheidend an.

b) Schließlich beruht die Entscheidung des FG auch nicht auf einem klaren Verstoß gegen den Inhalt der Akten. Ein Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten ist nur dann ein Zulassungsgrund, wenn das FG seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde legt, der schriftlich festgehaltenem Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht, oder wenn eine nach den Akten klar feststehende Tatsache unberücksichtigt geblieben ist. Dementsprechend setzt eine schlüssige Rüge eines "Verstoßes gegen den klaren Inhalt der Akten" die Darlegung des Beschwerdeführers voraus, dass ein von den Beteiligten vorgetragener oder aus den Akten erkennbarer Sachverhalt vom FG nicht zur Kenntnis genommen worden sei, dass Maßnahmen zur Sachverhaltsaufklärung dem FG sich hätten aufdrängen müssen oder das FG falsche Beweisregeln bei seiner Ermittlung des Gesamtergebnisses des Verfahrens angewendet habe (BFH-Beschluss vom 16. November 1993 I B 115/93, BFH/NV 1994, 551). Der Beschwerdeführer muss substantiiert darlegen, dass die Vorentscheidung unter Zugrundelegung der dort vertretenen materiell-rechtlichen Auffassung möglicherweise anders getroffen worden wäre, wenn dem FG der vermeintliche Verfahrensfehler nicht unterlaufen wäre.

Ob die Beschwerdebegründung den Aktenteil, den das FG nicht berücksichtigt haben soll, ausreichend bezeichnet, kann dahingestellt bleiben. Die Kläger haben jedenfalls nicht substantiiert dargelegt, dass die Vorentscheidung unter Zugrundelegung der dort vertretenen materiell-rechtlichen Auffassung möglicherweise anders getroffen worden wäre, wenn dem FG der behauptete Verfahrensfehler nicht unterlaufen wäre. Sie haben ―ohne jegliche Begründung― lediglich vorgetragen, das FG hätte bei Beachtung dieser vertraglichen Vereinbarungen das wirtschaftliche Eigentum der Kläger ab 1. Juli 1995 nicht verneint. Zudem ist nicht ersichtlich, inwieweit die Bestimmungen unter IV. (Seite 3) des Vertrags vom 18. September 1996 Rückschlüsse auf das wirtschaftliche Eigentum der Kläger zulassen. Entgegen der vertraglichen Regelung konnte der unmittelbare Besitz am Vertragsgegenstand nicht mit dem 31. Oktober 1993 auf die Kläger übergegangen sein, weil die Wohnung zu diesem Zeitpunkt unstreitig von den Veräußerern noch fremdvermietet war.

4. Im Übrigen sieht der Senat von einer Darstellung des Sachverhalts und einer weiteren Begründung nach Maßgabe des § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO n.F. ab.

 

Fundstellen

Haufe-Index 737841

BFH/NV 2002, 944

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