Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtsschutzinteresse für eine Klage betreffend die Höhe des Kinderlastenausgleichs, Verfahrensaussetzung - Kostenentscheidung im Beschwerdeverfahren wegen Aussetzung eines Klageverfahrens

 

Leitsatz (amtlich)

1. Das Rechtsschutzinteresse für eine Klage betreffend die Höhe des Kinderlastenausgleichs für Eltern mit einem Kind im Jahre 1986 entfällt nicht dadurch, daß das FA den angefochtenen Einkommensteuerbescheid während des Klageverfahrens von sich aus für vorläufig erklärt (Festhalten an den Grundsätzen des BFH-Beschlusses vom 18. September 1992 III B 43/92, BFHE 169, 110, BStBl II 1993, 123).

2. Derartige Klageverfahren sind allerdings entsprechend § 74 FGO auszusetzen, bis das BVerfG über den Vorlagebeschluß des BFH vom 16. Juli 1993 III R 206/90 (BFHE 171, 534, BStBl II 1993, 755) --Az* des BVerfG 2 BvL 42/93-- entschieden hat. Dem steht nicht entgegen, daß der Vorlagebeschluß unmittelbar nur den Veranlagungszeitraum 1987 betrifft.

 

Orientierungssatz

Im Beschwerdeverfahren wegen Aussetzung eines Klageverfahrens, das das FG nach Anordnung des Ruhen des Verfahrens wieder aufgenommen hat, ist eine Kostenentscheidung nicht zu treffen (vgl. BFH-Rechtsprechung).

 

Normenkette

FGO § 143; EStG § 32 Abs. 6 Fassung: 1985-06-26; FGO §§ 68, 74, 128 Abs. 2 Hs. 2; AO 1977 § 165

 

Tatbestand

I. Im noch nicht abgeschlossenen Klageverfahren ist streitig, ob den Klägern und Beschwerdeführern (Kläger) im Streitjahr (1986) für ihre 1970 geborene Tochter ein höherer Kinderfreibetrag zusteht als in § 32 Abs.6 des Einkommensteuergesetzes i.d.F. des Steuersenkungsgesetzes 1986/1988 (EStG 1986) vorgesehen.

Das Finanzgericht (FG) ordnete zunächst auf übereinstimmenden Antrag der Kläger sowie des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt --FA--) im Hinblick auf den Vorlagebeschluß des FG Baden-Württemberg vom 2. September 1986 1 K 337/85 (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1987, 33), zum Kinderlastenausgleich in den Jahren 1983 bis 1985, mit Beschluß vom 25. Januar 1989 das Ruhen des Verfahrens an.

Nach Ergehen der Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 29. Mai 1990 1 BvL 20/84 u.a. (BVerfGE 82, 60, BStBl II 1990, 653) und vom 12. Juni 1990 1 BvL 72/86 (BVerfGE 82, 198, BStBl II 1990, 664) zum Kinderlastenausgleich in den Jahren 1983 bis 1985 bat das FG die Beteiligten um Stellungnahme. Das FA änderte daraufhin den angefochtenen Einkommensteuerbescheid und erklärte die Veranlagung der Kläger im Änderungsbescheid vom 10. November 1993 hinsichtlich der Höhe des Kinderfreibetrages für vorläufig. Die Kläger erklärten diesen Bescheid gemäß § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Gegenstand des Verfahrens.

Mit Beschluß vom 2. März 1994 nahm das FG das Klageverfahren wieder auf. Es begründete diese Entscheidung damit, daß das BVerfG inzwischen eine Entscheidung zum Kinderlastenausgleich für die Veranlagungszeiträume 1983 bis 1985 getroffen habe.

Dagegen wenden sich die Kläger mit ihrer Beschwerde. Sie sind der Auffassung, das Klageverfahren müsse weiterhin ruhen oder ausgesetzt werden. Denn inzwischen sei beim BVerfG unter dem Az. 2 BvL 42/93 ein Normenkontrollverfahren zum Kinderlastenausgleich für den Veranlagungszeitraum 1987 anhängig. Dieses Verfahren habe für den Streitfall grundsätzliche Bedeutung, da der gesetzliche Kinderfreibetrag im Streitjahr (1986) ebenso hoch gewesen sei wie im Jahre 1987.

Die Kläger beantragen, den Beschluß des FG aufzuheben.

Das FA beantragt, die Beschwerde der Kläger als unbegründet zurückzuweisen.

Es ist der Ansicht, die Voraussetzungen, die der Bundesfinanzhof (BFH) im Beschluß vom 7. Februar 1992 III B 24, 25/91 (BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408) für die Aussetzung eines Klageverfahrens wegen eines beim BVerfG anhängigen Musterverfahrens aufgestellt habe, seien im Streitfall nicht erfüllt. Es fehle bereits die Anhängigkeit eines entsprechenden Musterverfahrens beim BVerfG, da das von den Klägern genannte Normenkontrollverfahren nicht für das Streitjahr 1986 anhängig gemacht worden sei.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet.

Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, weil das FG nicht berücksichtigt hat, daß im Streitfall auch eine Aussetzung des Verfahrens entsprechend § 74 FGO in Betracht kommt.

1. Die Beschwerde ist zulässig.

Ihre Statthaftigkeit ergibt sich aus § 128 Abs.2 Halbsatz 2 FGO. Es sind auch keine Gründe ersichtlich, die gegen das erforderliche Rechtsschutzinteresse der Kläger sprächen (s. zu diesem Erfordernis z.B. den Beschluß des erkennenden Senats vom 13. Dezember 1990 III B 519/90, BFH/NV 1991, 469).

Das Ruhen oder die Aussetzung des Klageverfahrens ist jedenfalls nicht deswegen ausgeschlossen, weil das FA den angefochtenen Einkommensteuerbescheid hinsichtlich der Höhe des Kinderfreibetrages für vorläufig erklärt hat. Anders als in den Fällen der Beschlüsse des X.Senats des BFH vom 10. November 1993 X B 83/93 (BFHE 172, 197, BStBl II 1994, 119) und vom 9. August 1994 X B 26/94 (BFHE 174, 498, BStBl II 1994, 803) wurde der Bescheid im Streitfall nicht von Anfang an oder noch im Einspruchsverfahren für vorläufig erklärt, sondern erst während des Klageverfahrens. Für diese Fallgestaltung hat der erkennende Senat mit Beschluß vom 18. September 1992 III B 43/92 (BFHE 169, 110, BStBl II 1993, 123) entschieden, daß durch die Vorläufigkeitserklärung das Rechtsschutzinteresse für das angestrengte Klageverfahren und damit auch für eine Aussetzung dieses Verfahrens nicht entfällt. An dieser Auffassung hält der Senat fest.

Sie gilt auch für eine mögliche Anordnung des Ruhens des Verfahrens. Die Ruhensanordnung nach § 155 FGO i.V.m. § 251 der Zivilprozeßordnung (ZPO) ist ein Sonderfall der Aussetzung des Verfahrens (so schon Urteil des erkennenden Senats vom 1. Dezember 1967 III 205/65, BFHE 91, 261, BStBl II 1968, 302; s. auch Koch in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 3.Aufl., Vor § 74 Rdnr.3).

2. Die Beschwerde ist auch begründet.

a) Das FG konnte zwar nicht mehr das weitere Ruhen des Verfahrens anordnen, da das dafür erforderliche Einverständnis des FA fehlte. Dieses hatte mit dem Erlaß des Änderungsbescheides vom 10. November 1993 --lange nach Ablauf der Wartefrist des § 251 Abs.2 Satz 1 ZPO und nach Wegfall des Grundes für die ursprüngliche Ruhensanordnung-- eindeutig zu erkennen gegeben, daß es mit der Andauer des Ruhens des Verfahrens nicht mehr einverstanden war. Damit war eine notwendige Voraussetzung für das weitere Ruhen des Verfahrens oder eine erneute Ruhensanordnung entfallen bzw. nicht gegeben (§ 251 Abs.1 Satz 1 ZPO; vgl. auch den Beschluß des erkennenden Senats vom 29. November 1991 III R 207/90, BFH/NV 1992, 610).

b) Doch hat das FG nicht berücksichtigt, daß im Streitfall nach Aktenlage eine Aussetzung des Klageverfahrens entsprechend § 74 FGO in Betracht kommt.

Nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung des erkennenden Senats (s. Beschlüsse in BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408; in BFHE 169, 110, BStBl II 1993, 123, und vom 9. September 1994 III B 81/93, BFHE 175, 209, BStBl II 1994, 949) kann eine Aussetzung des Klageverfahrens entsprechend der Vorschrift des § 74 FGO geboten sein, wenn vor dem BVerfG bereits ein nicht als aussichtslos erscheinendes Musterverfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm anhängig ist, den FG und dem BFH zahlreiche Parallelverfahren (Massenverfahren) vorliegen und keiner der Beteiligten des Klageverfahrens ein besonderes berechtigtes Interesse an einer Entscheidung des FG über die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen gesetzlichen Regelung trotz des beim BVerfG anhängigen Verfahrens hat.

Im Streitfall sind diese Voraussetzungen erfüllt.

aa) Dem BVerfG liegt --worauf auch die Kläger in ihrer Beschwerdeschrift hingewiesen haben-- unter dem Az. 2 BvL 42/93 ein Normenkontrollverfahren vor, dem der Anrufungsbeschluß des erkennenden Senats vom 16. Juli 1993 III R 206/90 (BFHE 171, 534, BStBl II 1993, 755) zugrunde liegt. In diesem Beschluß hält der Senat § 32 Abs.6 EStG 1986 insoweit für verfassungswidrig, als danach Eltern mit einem Kind nur einen Kinderfreibetrag von 2 484 DM beanspruchen können.

Der Beschluß betrifft zwar formell nur den Veranlagungszeitraum 1987. Doch geht es im Streitfall um dieselben Normen und die gleichen Rechtsfragen. Auch im Jahre 1986 betrug der Kinderfreibetrag gemäß § 32 Abs.6 EStG 1986 2 484 DM und belief sich das Kindergeld für das erste oder einzige Kind nur auf 50 DM monatlich (§ 10 Abs.1 des Bundeskindergeldgesetzes i.d.F. der Bekanntmachung vom 21. Januar 1986). Den für die Umrechnung des Kindergeldes in einen fiktiven Steuerfreibetrag maßgebenden Steuersatz von 40 v.H. hat der Senat im genannten Beschluß (sogar) aus statistischen Erhebungen für das Jahr 1986 abgeleitet (s. BFHE 171, 534, BStBl II 1993, 755, Abschn.B II. Nr.2 b, bb der Entscheidungsgründe).

Lediglich die durchschnittlichen Gesamtleistungen der Sozialhilfe für ein Kind waren im Streitjahr 1986 mit 4 775 DM (s. hierzu das Urteil des erkennenden Senats vom 14. Januar 1994 III R 194/90, BFHE 173, 528, BStBl II 1994, 429, Abschn.II Nr.4 a, aa der Entscheidungsgründe) etwas geringer als 1987. Doch lagen sie --bei gleicher Ermittlungsmethode wie im Vorlagebeschluß-- auch im Streitjahr (1986) noch erheblich über der steuerlichen Gesamtentlastung (bestehend aus Kinderfreibetrag und dem in einen Steuerfreibetrag umgerechneten Kindergeld). Diese Gesamtentlastung blieb --mit 3 984 DM (zur Ermittlung s. den Vorlagebeschluß in BFHE 171, 534, BStBl II 1993, 755, Abschn.B II. Nr.2 b der Entscheidungsgründe)-- um 791 DM (= 16,57 v.H.) hinter den Gesamtleistungen der Sozialhilfe zurück. Der Vomhundertsatz von 16,57 liegt wie im Fall des Vorlagebeschlusses (ebenfalls) noch eindeutig außerhalb der dort für möglich gehaltenen Toleranzgrenze von bis zu 15 v.H.

Danach wird eine Entscheidung des BVerfG im Verfahren 2 BvL 42/93 über den Kinderlastenausgleich des Jahres 1987 zwangsläufig auch Auswirkungen für das Streitjahr 1986 haben (vgl. hierzu auch den Senatsbeschluß in BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408, Nr.1 b, letzter Absatz der Entscheidungsgründe).

Der Senat hält dieses Normenkontrollverfahren auch nicht für (offensichtlich) aussichtslos. Daran hat der Beschluß des BVerfG vom 14. Juni 1994 1 BvR 1022/88 (BStBl II 1994, 909) nichts geändert, da er den Kinderlastenausgleich für Eltern mit drei und mehr Kindern betrifft.

bb) Allein beim erkennenden Senat sind mindestens 90 Revisionen anhängig, in denen es --wie im Streitfall-- um die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Kinderlastenausgleichs für Eltern mit einem Kind im Jahre 1986 geht. Der Senat geht davon aus, daß auch den FG noch eine Vielzahl gleicher Fälle vorliegt, so daß eine Aussetzung des Verfahrens auch unter dem Gesichtspunkt des "Massenverfahrens" geboten wäre.

cc) Schließlich sind auch keine Gesichtspunkte erkennbar, die ein berechtigtes Interesse der Beteiligten an einer Entscheidung des FG zur Sache begründen könnten, bevor das BVerfG im Verfahren 2 BvL 42/93 entschieden hat. Die Kläger wollen eine derartige Entscheidung gerade nicht. Das FA hat lediglich rein formal geltend gemacht, daß die Voraussetzungen für eine Aussetzung des Klageverfahrens nicht vorlägen. Gründe, die für eine vorrangige Entscheidung des FG in der Sache sprächen, sind nicht vorgetragen worden.

3. Der Senat beschränkt sich auf die Aufhebung des Beschlusses vom 2. März 1994, mit dem das Klageverfahren wieder aufgenommen wurde. Das FG wird unter Berücksichtigung der oben dargestellten Rechtsauffassung des Senats entscheiden, ob das Klageverfahren entsprechend § 74 FGO auszusetzen ist.

4. Eine Kostenentscheidung ist in diesem Verfahren nicht zu treffen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 4. August 1988 VIII B 83/87, BFHE 154, 15, BStBl II 1988, 947, und vom 20. Oktober 1987 VII B 82/87, BFH/NV 1988, 387).

 

Fundstellen

Haufe-Index 65685

BFH/NV 1995, 45

BStBl II 1995, 415

BFHE 176, 435

BFHE 1995, 435

BB 1995, 863

BB 1995, 863-865 (LT)

DB 1995, 962 (L)

DStR 1995, 881-882 (KT)

HFR 1995, 325-326 (LT)

StE 1995, 268 (K)

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