Entscheidungsstichwort (Thema)

Ort der Außenprüfung für Prüfungszeiträume vor 1991 bei Verlegung der Geschäftsleitung aus einem alten Bundesland in das Beitrittsgebiet

 

Leitsatz (NV)

Es ist ernstlich zweifelhaft i. S. d. § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO, ob das Finanzamt in den Fällen des Art. 97 a § 1 EGAO 1977 ohne entsprechenden Antrag des Steuerpflichtigen als Prüfungsort einen Ort außerhalb der Geschäftsräume des Steuerpflichtigen festlegen darf, falls sich die Geschäftsräume im Beitrittsgebiet und daher mehrere hundert Kilometer vom Bezirk des Finanzamtes entfernt befinden.

 

Normenkette

EGAO 1977 Art. 97a § 1; AO 1977 § 200 Abs. 2; FGO § 69 Abs. 2 S. 2, § 114

 

Tatbestand

Die Antragstellerin ist ein Bauträgerunternehmen in der Rechtsform der GmbH. Am 5. November 1991 beschlossen die Gesellschafter der Antragstellerin, den Sitz der Gesellschaft von B nach X (Beitrittsgebiet) zu verlegen. Im Januar 1992 informierte die Antragstellerin den Antragsgegner (Finanzamt -- FA --) über die Sitzverlegung.

Am 9. Februar 1993 ordnete das FA, das gemäß Art. 97 a § 1 Abs. 1 des Einführungs gesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977) für die Besteuerung der Antragstellerin hinsichtlich der Zeiträume vor dem 1. Januar 1991 und nach Art. 97 a § 1 Abs. 2 EGAO 1977 auch für die Feststellung des Einheitswertes des Betriebsvermögens auf den 1. Januar 1991 örtlich zuständig geblieben ist, eine Außenprüfung bei der Antragstellerin an. Die Prüfung soll sich auf Steuern der Jahre 1988 bis 1990 und die Einheitsbewertung des Betriebsvermögens auf den Beginn der Jahre 1988 bis 1991 erstrecken. Die Prüfungsanordnung enthält keine Angabe über den Ort der Prüfung. Sie wurde bestandskräftig.

Mit Schreiben vom 4. März 1993 bat die Antragstellerin, die Betriebsprüfung in X durchzuführen. Zur Begründung trug sie vor, ihre geschäftliche Oberleitung und sämtliche Unterlagen befänden sich in X, dort halte sich auch ihr Geschäftsführer C auf. Andere Personen beschäftige sie nicht. Das FA war nicht bereit, diesem Wunsch zu entsprechen. Durch Schreiben seiner Betriebsprüfungsstelle vom 19. März 1993 teilte es der Antragstellerin mit, es halte es für opportun, die Prüfung in B durchzuführen, die Antragstellerin möge die Buchhaltungsunterlagen zurück nach B bringen. Die Prüfung könne dann entsprechend dem Angebot des steuerlichen Beraters der Antragstellerin in dessen Büroräumen in B stattfinden. Dies lehnte die Antragstellerin ab, weil der Transport der umfangreichen Unterlagen nach B und zurück nach X zu zeit- und arbeitsaufwendig sei und die Prüfung auch vom FA X durchgeführt werden könne (Schreiben vom 6. April 1993).

Das FA legte daraufhin den Vorgang der zuständigen Oberfinanzdirektion (OFD) vor. Nachdem die Antragstellerin der OFD mitgeteilt hatte, sie bestehe auf X als Prüfungsort, wertete die OFD -- wie zuvor angekündigt -- das Schreiben der Antragstellerin vom 6. April 1993 als Beschwerde gegen die Festlegung des Prüfungsortes durch das FA. Die OFD wies die Beschwerde als unbegründet zurück (Beschwerdeentscheidung vom 18. Juni 1993).

Die Antragstellerin erhob wegen der Fest legung des Prüfungsortes Klage und beantragte beim FA, die Vollziehung des Verwaltungsaktes vom 19. März 1993 in Gestalt der Beschwerdeentscheidung auszusetzen. Das FA entsprach dem Antrag und setzte die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes für die Dauer des Klageverfahrens aus. Mit Urteil vom 13. Januar 1994 wies das Finanzgericht (FG) die Klage ab. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1994, 380 veröffentlicht. Die Antragstellerin legte gegen das Urteil form- und fristgerecht Revision ein.

Am 27. Mai 1994 teilte das FA der Antragstellerin mit, die Aussetzung der Vollziehung sei beendet und es beabsichtige nunmehr, am 15. Juli 1994 mit der Außenprüfung an Amtsstelle in B oder -- falls die Antragstellerin dies wünsche -- in den Büroräumen des steuerlichen Beraters der Antragstellerin in B zu beginnen. Den Antrag, die Aussetzung der Vollziehung bis zur Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) über die Revision zu verlängern, lehnte das FA am 14. Juni 1994 ab.

Daraufhin hat die Antragstellerin beim BFH als Gericht der Hauptsache die Aussetzung der Vollziehung "der Prüfungsanordnung vom 27. Mai 1994" beantragt.

 

Entscheidungsgründe

Dem Antrag der Antragstellerin war mit der Maßgabe zu entsprechen, daß die Vollziehung des Verwaltungsaktes vom 19. März 1993 in Gestalt der Beschwerdeentscheidung vom 18. Juni 1993 bis zu dem im Tenor genannten Zeitpunkt auszusetzen ist.

1. Der beschließende Senat legt den Antrag, die Vollziehung der "Prüfungsanordnung vom 27. Mai 1994" auszusetzen, dahingehend aus, daß die Antragstellerin beantragt, die Vollziehung des Verwaltungsaktes vom 19. März 1993 in der Gestalt der Beschwerdeentscheidung vom 18. Juni 1993 auszusetzen. Eine wörtliche Auslegung des Antrags widerspräche seinem klar erkennbaren Sinn.

Die Antragstellerin will mit dem Antrag nicht die Aussetzung der Vollziehung der -- vom 9. Februar 1993 stammenden und bestandskräftigen -- Prüfungsanordnung erreichen. Sie begehrt vielmehr, wie die Schriftsätze ihrer Prozeßbevollmächtigten eindeutig erkennen lassen, lediglich die Aussetzung der Vollziehung des Verwaltungsaktes über die Festlegung des Prüfungsortes, der von dem die Außenprüfung anordnenden Verwaltungsakt zu unterscheiden ist (s. BFH-Urteile vom 25. Januar 1989 X R 158/87, BFHE 156, 18, BStBl II 1989, 483; vom 24. Februar 1989 III R 36/88, BFHE 156, 54, BStBl II 1989, 445). Den Prüfungsort hat das FA durch Verwaltungsakt vom 19. März 1993 festgelegt. Ihn hat die OFD durch die Beschwerdeentscheidung bestätigt. Das Schreiben des FA vom 27. Mai 1994 enthält hinsichtlich der Festlegung des Prüfungsortes "B" keine diesen Verwaltungsakt abändernde Regelung, sondern wiederholt ihn im Hinblick auf die erforderliche Neufestlegung des Prüfungsbeginns lediglich. Daß im Schreiben vom 27. Mai 1994 als Prüfungsort neben dem Büro des steuerlichen Beraters der Antragstellerin alternativ auch die Räume des FA angeboten werden, hält der Senat für unerheblich. Es handelt sich insoweit nur um die Wiederholung des bereits während der mündlichen Verhandlung vor dem FG gemachten Angebots des FA.

2. Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ist zulässig.

Vorläufiger Rechtsschutz kann im Streitfall nur durch Aussetzung der Vollziehung gemäß § 69 der Finanzgerichtsordnung (FGO), nicht durch eine einstweilige Anordnung gemäß § 114 FGO erlangt werden. Der beschließende Senat teilt nicht die Auffassung des FG, die von der Antragstellerin erhobene Klage sei eine Verpflichtungsklage. Die Antragstellerin hat eine Anfechtungsklage erhoben. Sie hat den ihrer Ansicht nach gegen § 200 Abs. 2 Satz 1 der Abgabenordnung (AO 1977) verstoßenden und deshalb rechtswidrigen Verwaltungsakt über die Festlegung des Prüfungsortes angefochten und erstrebt gerade nicht den Erlaß einer Ermessensentscheidung, durch die abweichend von der gesetzlichen Regel des § 200 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 ein Prüfungsort außerhalb der Geschäftsräume festgelegt wird. Der Streitfall ist in bezug auf die Art des zu gewährenden vorläufigen Rechtsschutzes mit dem Sachverhalt vergleichbar, der dem BFH-Beschluß vom 25. September 1987 IV B 60/87 (BFH/NV 1989, 13) zugrunde liegt. Nach dieser Entscheidung kann vorläu figer Rechtsschutz gegen die zeitliche Festlegung des Beginns einer Außenprüfung nur im Wege der Aussetzung der Vollziehung gewährt werden, solange keine Ermessensentscheidung betreffend die Verlegung des Prüfungstermins begehrt wird.

Die Zugangsvoraussetzung gemäß § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO ist erfüllt. Das FA hat die weitere Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes durch Schreiben vom 14. Juni 1994 abgelehnt.

3. Der Antrag ist auch begründet.

a) Die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes soll auf Antrag ausgesetzt werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte (§ 69 Abs. 2 Satz 2 FGO). Die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes ist ernstlich zweifelhaft, wenn bei Prüfung der Sach- und Rechtslage aufgrund der präsenten Beweismittel und des unstreitigen Sachverhalts erkennbar wird, daß aus gewichtigen Gründen Unsicherheit oder Unentschiedenheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung von Tatfragen besteht und sich bei abschließender Klärung dieser Fragen der Verwaltungsakt als rechtswidrig erweisen kann (vgl. BFH-Urteil vom 17. Mai 1978 I R 50/77, BFHE 125, 423, 426, BStBl II 1978, 579; Koch in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., 1993, § 69 Anm. 77 m. w. N.).

b) Aus gewichtigen Gründen besteht Unsicherheit hinsichtlich der Beantwortung der im Revisionsverfahren zu entscheidenden Rechtsfrage, ob -- wie das FA und das FG meinen -- in den Fällen des Art. 97 a § 1 EGAO 1977 die Regelung des § 200 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 kein zwingendes Recht ist, sondern das FA nach pflichtgemäßem Ermessen auch ohne entsprechenden Antrag des Steuerpflichtigen als Prüfungsort einen Ort außerhalb der Geschäftsräume des Steuerpflichtigen festlegen darf, falls sich -- wie im Streitfall -- die Geschäftsräume mehrere hundert Kilometer vom Bezirk des FA entfernt befinden. Wird diese Frage verneint, kann sich der angefochtene Verwaltungsakt als rechtswidrig erweisen.

aa) Gemäß § 200 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 hat der Steuerpflichtige die in Abs. 1 der Vorschrift genannten Unterlagen in seinen Geschäftsräumen, oder, soweit ein zur Durchführung der Außenprüfung geeigneter Geschäftsraum nicht vorhanden ist, in seinen Wohnräumen oder an Amtsstelle vorzulegen. Die Unterlagen sind dem Betriebsprüfer daher grundsätzlich in den Geschäftsräumen vorzulegen, wenn dort ein geeigneter Raum vorhanden ist. Nur wenn kein für die Durchführung der Außenprüfung geeigneter Geschäftsraum oder Arbeitsplatz in einem Geschäftsraum zur Verfügung gestellt werden kann (s. § 200 Abs. 2 Satz 2 AO 1977), ist der Steuerpflichtige verpflichtet, die Unterlagen außerhalb seiner Geschäftsräume vorzulegen. Ein Auswahlermessen hinsichtlich des Ortes der Außenprüfung steht dem FA somit nach § 200 Abs. 2 AO 1977 nicht zu, wenn ein zur Durchführung der Prüfung geeigneter Geschäftsraum des Steuerpflichtigen vorhanden ist (s. BFH-Urteil vom 11. März 1992 X R 116/90, BFH/NV 1992, 757).

bb) Ob ein Geschäftsraum bereits dann nicht für die Durchführung der Prüfung geeignet ist, wenn er mehrere hundert Kilometer vom Bezirk des für die Außenprüfung zuständigen FA entfernt liegt und die Prüfung an diesem Ort daher dem FA erhöhten Zeitaufwand und Reisekosten ver ursachen würde, hält der beschließende Senat im Gegensatz zum FA für sehr zweifelhaft. Zutreffend hat das FA zwar darauf hingewiesen, daß sich aufgrund der Regelungen über die örtliche Zuständigkeit der FÄ (§§ 17 ff. AO 1977) die Geschäftsräume der der Außenprüfung unterliegenden Steuerpflichtigen in der Regel -- sieht man von den Fällen des § 20 Abs. 3 und 4 AO 1977 ab -- im Bezirk des für die Außenprüfung zuständigen FA befinden. Daraus ist aber nicht zu schließen, nur die im Bezirk des zuständigen FA liegenden Geschäftsräume seien i. S. des § 200 Abs. 2 AO 1977 zur Durchführung der Außenprüfung geeignet. Die Geeignetheit der Geschäftsräume hängt nicht von deren Lage im Bezirk des zuständigen FA ab. Vielmehr bestimmt sich die örtliche Zuständigkeit der FÄ grundsätzlich nach dem Ort der Geschäftsleitung bzw. dem Wohnsitz des Steuerpflichtigen.

cc) In den Fällen des Art. 97 a § 1 EGAO 1977 gilt zwar dieser Grundsatz nicht. Dies führt aber entgegen der Auffassung des FA nicht zwingend dazu, daß auch die Regelung des § 200 Abs. 2 AO 1977 nicht oder nur unter Beachtung des Interesses der FÄ an einem effektiven und kostengünstigen Einsatz der Prüfer anzuwenden ist.

Art. 97 a § 1 EGAO 1977 dient der Verwaltungsvereinfachung und Verwaltungsökonomie. Durch ihn soll u. a. vermieden werden, daß sich die im Aufbau befindlichen Finanzbehörden im Gebiet der früheren DDR (Beitrittsgebiet) mit Steuerfällen befassen müssen, auf die das bis zum Jahresende 1990 geltende Steuerrecht der Bundesrepublik Deutschland anzuwenden ist (s. BTDrucks 11/7817, S. 104). Diese Steuerfälle sind noch von dem jeweiligen vor der Verlegung der Geschäftsleitung bzw. des Wohnsitzes in das Beitrittsgebiet örtlich zuständigen FA zu bearbeiten.

Dem Wortlaut des Art. 97 a EGAO 1977 läßt sich nicht entnehmen, daß die Ausnahmeregelung die Anwendung des § 200 Abs. 2 AO 1977 berührt. Auch der Zweck der Vorschrift spricht nicht -- jedenfalls nicht klar und eindeutig -- für die Rechtsauffassung des FA und des FG. Die Entlastung der FÄ im Beitrittsgebiet hängt nicht davon ab, wo das nach Art. 97 a § 1 EGAO 1977 zuständige FA die Außenprüfung durchführt. Es ist auch nicht einsichtig, wieso das FA den ihm durch eine Prüfung in X entstehenden zusätzlichen Aufwand für unzumutbar, den der Antragstellerin durch eine Prüfung in B entstehenden zusätzlichen Aufwand jedoch für zumutbar hält.

dd) Ob der Grundsatz von Treu und Glauben ein Abweichen von dem Regel-Ausnahmeverhältnis gemäß § 200 Abs. 2 AO 1977 erlaubt, wenn der Steuerpflichtige eine Außenprüfung für die Jahre vor 1991 erkennbar durch Verlegung seiner Geschäftsräume in das Beitrittsgebiet erschweren oder gar verhindern will, ist im Streitfall nicht zu prüfen. Das FA hatte zwar bereits 1990 eine Außenprüfung bei der Antragstellerin geplant. Diese Prüfung fand aber -- nachdem die Antragstellerin um eine Verlegung des Prüfungstermins gebeten hatte -- aus amtsinternen Gründen (Ausscheiden des seinerzeit mit der Prüfung beauftragten Beamten aus der Finanzverwaltung) nicht statt. Daß die Antragstellerin Sitz und Geschäftsleitung nach X verlegt hat, um die erwartete Außenprüfung zu erschweren oder zu verhindern, ist nicht zu erkennen.

ee) Die präsenten Beweismittel und der unstreitige Sachverhalt lassen auch nicht erkennen, daß die von der Antragstellerin in X genutzten Geschäftsräume aus sonstigen Gründen zur Durchführung der Außenprüfung ungeeignet waren oder sind. Die Antragstellerin hatte zwar im Schreiben vom 6. April 1993 vorgetragen, C leiste seit 1991 in X "unter miesesten Umständen bezüglich der Wohn- und Bürosituation" Aufbauarbeit. Im Klageverfahren hat sie diese Angabe relativiert und behauptet, die Raumsituation habe sich seit 1991 erheblich gebessert und seit Anfang 1993 stünden für die Durchführung der Prüfung geeignete Geschäftsräume in X zur Verfügung.

c) Ob die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte, ist nicht entscheidungserheblich und kann daher unerörtert bleiben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 420290

BFH/NV 1995, 469

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Steuer Office Excellence. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge