Leitsatz (amtlich)

Das FG ist, auch wenn die Revision gegen sein Urteil nur kraft Zulassung stattfindet, im Falle von Fragen zur Auslegung oder Gültigkeit von Gemeinschaftsrecht nicht zur Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften verpflichtet. Sieht das FG von der Vorlage an den Gerichtshof ab, so liegt darin kein Verfahrensmangel; insbesondere werden die Parteien nicht ihrem gesetzlichen Richter entzogen.

 

Orientierungssatz

1. Eine grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache kann nicht in der (negativen) Entscheidung des FG über die Zulassung der Revision gesehen werden, da bei Zulassung des Rechtsmittels nicht über diese, sondern über die Rechtssache als solche zu entscheiden wäre.

2. NV: An die Sorgfaltspflicht eines berufsmäßigen Vertreters, dessen Verschulden eigenem Verschulden der Partei gleichzuachten ist, sind hohe Anforderungen zu stellen; erforderlich ist die äußerste, den Umständen des Falles angemessene und vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt. Die Versäumung einer gesetzlichen Frist kann daher nicht als unverschuldet angesehen werden, wenn sie darauf beruht, daß sich der Prozeßbevollmächtigte nach dem plötzlichen Tode eines nahen Angehörigen zwei Wochen lang nicht um seine Kanzlei gekümmert und keinen Vertreter bestellt hat (vgl. BFH-Beschluß vom 29.9.1971 I R 174/70). Ein Verschulden am Versäumen der Frist könnte allerdings verneint werden, wenn ein naher Angehöriger des Prozeßbevollmächtigten kurz vor Fristende plötzlich verstorben ist und Maßnahmen zur Fristwahrung nach den Umständen des Einzelfalles nicht zumutbar waren.

 

Normenkette

EWGVtr Art. 177; FGO § 115 Abs. 2 Nrn. 1, 3, § 56 Abs. 1; GG Art. 101 Abs. 1

 

Nachgehend

BVerfG (Beschluss vom 03.10.1989; Aktenzeichen 2 BvR 440/87)

 

Tatbestand

I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) übersiedelte 1984 aus Belgien in die Bundesrepublik Deutschland. Er führte am 13.Juli 1984 seinen Personenkraftwagen aus Belgien ein und erwirkte am 26.Oktober 1984 die verkehrsrechtliche Zulassung des Fahrzeugs. Bis zu diesem Zeitpunkt war das Fahrzeug in Belgien zugelassen und auch besteuert gewesen. Die gegen die vom Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt --FA--) vorgenommene Besteuerung des Haltens in der Zeit vom 13.Juli bis 26.Oktober 1984 gerichtete Klage wies das Finanzgericht (FG) aus der Erwägung ab, die vom Kläger gerügte Doppelbesteuerung des --endgültig eingeführten-- Fahrzeugs verstoße weder gegen primäres noch gegen sekundäres Gemeinschaftsrecht. Die Revision wurde nicht zugelassen, weil die Rechtssache wegen der eindeutigen Rechtslage keine grundsätzliche Bedeutung habe.

++/ Ausfertigung der Entscheidung wurde dem Kläger am 1. August 1986 zugestellt. /++

Der Kläger legte wegen Nichtzulassung der Revision Beschwerde ein. ++/ Der Schriftsatz ist beim FG am 10. September 1986 eingegangen. /++ Er begründet sie damit, die Nichtzulassung der Revision verbaue ihm die Überprüfung seiner Rechtsauffassung aus der Sicht des europäischen Rechts; diesem schweren Mangel könne nur die Revision abhelfen, weil die Revisionsinstanz bei ähnlichen Zweifeln gemäß Art.177 Abs.3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV) zur Anrufung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) verpflichtet wäre. Dessen Rechtsprechung scheine seine --des Klägers-- Rechtsauffassung zu bestätigen. Auf ein in den Herkunftsstaat zurückgeführtes Fahrzeug seien alle Regeln des Warenverkehrs und die hier geltenden Verbote doppelter Steuer- und Abgabenbelastung anzuwenden.

++/ Zugleich beantragte der Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unter Hinweis darauf, daß am 29. August 1986 die Ehefrau seines Prozeßbevollmächtigten verstorben sei. /++

Nachträglich hat der Kläger noch ausgeführt, das Abschneiden eines zusätzlichen Rechtsweges ohne nähere Begründung sei eine Grundsatzfrage; ihre Richtigkeit müsse durch ein höchstes Gericht überprüfbar sein, zumal es an einer eindeutigen Rechtslage wegen der Implikationen des Gemeinschaftsrechts fehle.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Beschwerde hat keinen Erfolg.

++/ Es kann dahinstehen, ob ihr der Erfolg schon deshalb versagt bleiben muß, weil sie verspätet, nach Ablauf der in § 115 Abs. 3 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FG0) bestimmten Frist, eingelegt worden ist, was zur Unzulässigkeit des Rechtsmittels führen würde, wenn davon auszugehen wäre, daß Gründe, die eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 56 FGO) rechtfertigen, nicht vorliegen. An die Sorgfaltspflicht eines berufsmäßigen Vertreters, dessen Verschulden eigenem Verschulden der Partei gleichzuachten ist, sind hohe Anforderungen zu stellen; erforderlich ist die äußerste, den Umständen des Falles angemessene und vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Versäumung einer gesetzlichen Frist als nicht unverschuldet angesehen worden, wenn sie darauf beruht, daß sich der Prozeßbevollmächtigte nach dem plötzlichen Tode eines nahen Angehörigen zwei Wochen lang nicht um seine Kanzlei gekümmert und keinen Vertreter bestellt hat (Beschluß des Bundesfinanzhofs vom 29. September 1971 I R 174/70, BFHE 103, 135 f., BStBl II 1972, 19). Nach Auffassung des Senats könnte allerdings ein Verschulden am Versäumen der Frist --die die Partei voll auszuschöpfen berechtigt ist-- verneint werden, wenn ein naher Angehöriger des Prozeßbevollmächtigten kurz vor Fristablauf plötzlich verstorben ist und Maßnahmen zur Fristwahrung nach den Umständen des Einzelfalles nicht zumutbar waren. Ob letzteres, ggf. nach ergänzender Glaubhaftmachung (vgl. § 56 Abs. 2 Satz 2 FGO), hier anerkannt werden könnte, braucht nicht entschieden zu werden. Denn die Revision könnte auch bei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zugelassen werden, weil kein Zulassungsgrund gegeben ist. /++

In der Beschwerdeschrift hat der Kläger einen Verfahrensmangel geltend gemacht (§ 115 Abs.2 Nr.3 FGO), der in der Nichtzulassung der Revision liegen soll. Darauf, daß das FG die Revision nicht zugelassen hat, kann aber die angefochtene Entscheidung --über die Klage-- nicht beruhen, wie sich auch daraus ergibt, daß das FG seine letzte Entscheidung über die Zulassung erst aufgrund der Nichtzulassungsbeschwerde trifft (vgl. § 115 Abs.5 Satz 1, § 130 Abs.1 FGO). Das FG war auch nicht etwa zur Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH --für den Bereich von Vorabentscheidungen gesetzlicher Richter im Sinne von Art.101 Abs.1 Satz 2 des Grundgesetzes (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 22.Oktober 1986 2 BvR 197/83, Abschn.B I 1 a --Recht der internationalen Wirtschaft/Außenwirtschaftsdienst des Betriebs-Beraters (RIW/AWD) 1987, 62--)-- verpflichtet. Das FG ist, auch wenn eine zulassungsfreie Revision (§ 116 FGO) nicht eingelegt werden kann, kein Gericht, dessen Entscheidungen nicht mit Rechtsmitteln nach innerstaatlichem Recht angefochten werden können. Denn wegen Nichtzulassung der Revision ist die Nichtzulassungsbeschwerde statthaft und damit eine Rechtsmittelmöglichkeit gegeben (vgl. zur übereinstimmenden Rechtslage im Verwaltungsstreitverfahren Bundesverwaltungsgericht --BVerwG--, Beschlüsse vom 7.Dezember 1983 3 B 90.82, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des BVerwG 451.90 Nr.43, vom 20.März 1986 3 B 3.86, Buchholz a.a.O., Nr.59 = Europarecht 1986, 282, und vom 22.Juli 1986 3 B 104.85, RIW/AWD 1986, 914), mittels der die spezifische Zielsetzung von Art.177 Abs.3 EWGV gewahrt ist (vgl. EuGH-Urteil vom 24.Mai 1977 Rs.107/76, EuGHE 1977, 957, 972, hinsichtlich der Möglichkeit der Einleitung eines Verfahrens zur Hauptsache auf eine letztinstanzliche Entscheidung im Verfahren wegen einstweiliger Verfügung). Daraus folgt, daß das FG nicht gemäß Art.177 Abs.3 EWGV (grundsätzlich) zur Vorlage an den EuGH verpflichtet, sondern als Instanzgericht dazu nur befugt ist (Art.177 Abs.2 EWGV). Unterläßt das FG die Einholung einer Vorabentscheidung, so liegt darin kein Verstoß gegen Verfahrensrecht (anders ohne nähere Begründung, Herrmann, Die Zulassung der Revision und die Nichtzulassungsbeschwerde im Steuerprozeß, 1986, Anm.210), insbesondere wird dadurch kein Beteiligter seinem gesetzlichen Richter entzogen.

Soweit sich der Kläger --nachträglich-- auf grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache berufen hat, kann sein Vorbringen schon wegen Verspätung nicht berücksichtigt werden (vgl. § 115 Abs.2 Nr.1, Abs.3 Satz 1 und Satz 3 FGO). Der Senat weist jedoch darauf hin, daß eine grundsätzliche Bedeutung nicht in der (negativen) Entscheidung über die Zulassung gesehen werden kann, da bei Zulassung des Rechtsmittels nicht über diese, sondern über die Rechtssache als solche zu entscheiden wäre. Deren grundsätzliche Bedeutung hat der Kläger indessen nicht wie erforderlich dargelegt.

 

Fundstellen

Haufe-Index 61875

BStBl II 1987, 305

BFHE 148, 489

BFHE 1987, 489

BB 1987, 749-749 (ST)

DB 1987, 1130-1130 (ST)

HFR 1987, 255-256 (ST)

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