Leitsatz

1. Wird die Einkommensteuererklärung bei einem unzuständigen Finanzamt eingereicht, endet die Anlaufhemmung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO grundsätzlich erst dann, wenn die zuständige Behörde die Erklärung erhalten hat.

2. Nur ausnahmsweise kann auch die Abgabe der Einkommensteuererklärung bei einem unzuständigen Finanzamt genügen, um die Anlaufhemmung zu beenden. Dies ist der Fall, wenn das unzuständige Finanzamt seine Fürsorgepflicht gemäß § 89 AO verletzt, indem es die Erklärung lediglich zu den Akten nimmt, obwohl ihm seine eigene Unzuständigkeit ebenso bekannt ist wie die zuständige Behörde. Verletzt die Behörde ihre Fürsorgepflicht, ist der Steuerpflichtige im Rahmen des rechtlich Zulässigen so zu stellen, als wäre der Verstoß nicht passiert.

 

Normenkette

§ 175 Abs. 1 Nr. 1, § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, § 169 Abs. 1, § 150, § 89 AO, § 25 Abs. 3 EStG

 

Sachverhalt

Der Kläger war Insolvenzverwalter über den Nachlass des M.W. Das beklagte FA erließ am 7.4.2011 einen ESt-Bescheid für 2010, in welchem es Einkünfte aus selbstständiger Arbeit des M.W. i.H.v. 0 EUR schätzte und die ESt ohne Vorbehalt der Nachprüfung auf 0 EUR festsetzte. Das FA H schätzte mit Bescheid vom 22.9.2011 die Einkünfte des M.W. aus freiberuflicher Tätigkeit im Rahmen der gesonderten Feststellung des Gewinns 2010 auf 1.650.000 EUR. Am 19.10.2011 reichte der Kläger für M.W. beim FA H die Gewinnermittlung zum 31.12.2010 für die freiberufliche Tätigkeit des M.W. nebst der entsprechenden ESt-Erklärung ein. In dieser wurde ein Gewinn aus selbstständiger Arbeit i.H.v. 975.864 EUR angegeben. Das FA H erließ daraufhin am 31.10.2011 einen geänderten Gewinnfeststellungsbescheid, in dem es die Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit erklärungsgemäß feststellte. Am selben Tag übersandte es eine entsprechende Mitteilung über die gesonderte Gewinnfeststellung an das beklagte FA. Die ESt-Erklärung 2010 nahm das FA H lediglich zu den Akten. Es leitete die Erklärung weder an das FA weiter, noch informierte es über deren Eingang. Am 6.10.2016 erließ das FA einen nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO geänderten ESt-Bescheid, in dem es die Feststellungen des FA H der Besteuerung zugrunde legte. Die hiergegen erhobene Klage hatte Erfolg (Niedersächsisches FG, Urteil vom 26.6.2019, 9 K 49/18, Haufe-Index 13582131, EFG 2020, 8). Das FG war der Auffassung, dass das FA nicht mehr berechtigt gewesen sei, die Mitteilung über die gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen des FA H vom 2.3.2012 auszuwerten, da die vierjährige Festsetzungsfrist abgelaufen war.

 

Entscheidung

Der BFH hat die Revision des FA als unbegründet zurückgewiesen.

 

Hinweis

1. Streitig war im vorliegenden Fall, ob das beklagte FA den nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO geänderten ESt-Bescheid vom 6.10.2016 rechtzeitig, d.h. vor Ablauf der Festsetzungsfrist erlassen hat. Denn gemäß § 169 Abs. 1 Satz 1 AO ist eine Steuerfestsetzung nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist.

2. Entscheidend war dabei, ob die Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO durch die Abgabe der ESt-Erklärung bei dem unzuständigen FA H beendet wurde. Denn nach dieser Vorschrift beginnt die Festsetzungsfrist in den Fällen, in denen eine Steuererklärung einzureichen ist, mit dem Ablauf des Kalenderjahres zu laufen, in dem die Steuer­erklärung eingereicht wird. Die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 10 AO spielte im vorliegenden Fall keine Rolle.

3. Im Streitfall war der Kläger als Insolvenzverwalter über den Nachlass des M. W. zur Abgabe einer ESt-Erklärung für das Streitjahr verpflichtet. Er hatte am 19.10.2011 eine ESt-Erklärung eingereicht. Diese war formell und materiell ordnungsgemäß und damit grundsätzlich geeignet, den Lauf der Festsetzungsfrist gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO in Gang zu setzen. Aufgrund der eingereichten Unterlagen war es für die Finanzbehörden möglich, ein ordnungsgemäßes Veranlagungsverfahren in Gang zu setzen und die ESt-Veranlagung des Streitjahrs für den Kläger als Insolvenzverwalter über den Nachlass des Insolvenzschuldners vorzunehmen.

4. Dass die Erklärung teilweise unvollständig oder möglicherweise teilweise unrichtig war, steht dem Beginn der Festsetzungsfrist gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AOnicht entgegen. Denn die Erklärung war nicht derart lückenhaft, dass dies praktisch der Nichteinreichung der Erklärung entsprochen hätte.

5. Voraussetzung für die Beendigung der Anlaufhemmung der Festsetzungsfrist gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO ist jedoch grundsätzlich, dass die ESt-Erklärung bei dem zuständigen FA abgegeben wird. So soll verhindert werden, dass die Festsetzungsfrist bereits beginnt, bevor die Finanzbehörde etwas vom Entstehen und der Höhe des Steueranspruchs erfahren hat. Wird die Steuer­erklärung bei einer unzuständigen Finanzbehörde eingereicht, wird die Anlaufhemmung erst beendet, wenn die zuständige Behörde die Erklärung erhält. Denn erst dann ist diese in der Lage, tätig zu werden und die Veranlagung innerhalb der gesetzlichen Frist durchzuführen.

6. Dies gi...

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