Leitsatz

Die für eine Vorlage an das BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 GG erforderliche Überzeugung des Gerichts von der Verfassungswidrigkeit der Höhe der Aussetzungszinsen (§ 237 Abs. 1 Satz 1 AO i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO) liegt für einen Verzinsungszeitraum bis Dezember 2011 nicht vor (Anschluss an BFH, Urteil vom 1.7.2014, IX R 31/13, BFHE 246, 193, BStBl II 2014, 925).

 

Normenkette

§ 237, § 238 AO, Art. 100 GG

 

Sachverhalt

Streitig war ursprünglich ein Veräußerungsgewinn gemäß § 17 EStG. Nach verbösernder Einspruchsentscheidung und Zurücknahme der Klage setzte das FA gegen die Kläger Zinsen zur Einkommensteuer vom 3.6.2008 bis zum 5.12.2011 i.H.v. 108.202 EUR fest. Die dagegen gerichtete Klage hat das FG abgewiesen (FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15.1.2014, 3 K 3079/13, Haufe-Index 6539086, EFG 2014, 724).

 

Entscheidung

Die Revision des Klägers hatte keinen Erfolg. Der BFH hat erneut seine Vorlagepflicht verneint, weil er von der Verfassungswidrigkeit des § 238 Abs. 1 Satz 1 AO in den angegebenen zeitlichen Grenzen (noch) nicht überzeugt sei.

 

Hinweis

1. In letzter Zeit wird zunehmend infrage gestellt, ob § 238 Abs. 1 Satz 1 AO noch verfassungsgemäß ist. Dabei geht es vor allem um zwei Aspekte:

a) Bezweifelt wird zum einen die Zulässigkeit eines festen Zinssatzes; gefordert wird stattdessen ein flexibler Zinssatz. Was im Zivilrecht gelte und praktiziert werde (vgl. § 247 BGB), könne im Steuerrecht nicht an praktischen Schwierigkeiten scheitern.

b) Anstoß erregt aber vor allem die Höhe des Zinssatzes von 0,5 % pro Monat. Sie sei angesichts der allgemeinen Zinsentwicklung nicht mehr zu rechtfertigen.

2. Der BFH hat sich in dem im Leitsatz der Besprechungsentscheidung erwähnten Urteil vom 1.7.2014 ausführlich mit den Argumenten der Kritiker auseinandergesetzt und hat sich damals für den Zeitraum bis zum 21.3.2011 nicht die Überzeugung bilden können, dass die Norm verfassungswidrig sei. Die Entscheidung ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass der Gesetzgeber zwar möglicherweise (irgendwann) verpflichtet ist, die Höhe des gesetzlichen Zinses im Steuerrecht den gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen anzupassen, dass ihm dafür jedoch eine Beobachtungs- und Reaktionszeit zugebilligt werden muss, die nach Ansicht des Senats bis zu dem angegebenen Termin noch nicht eindeutig abgelaufen war. Verfassungswidrig ist die Untätigkeit des Gesetzgebers erst, wenn sein Handeln unabweisbar geboten ist. Der Senat hat deshalb seine Vorlagepflicht verneint und die Klage abgewiesen.

3. In der Besprechungsentscheidung hat der Senat diese Rechtsprechung ohne erneute Auseinandersetzung mit der Kritik auf den Zeitraum bis Dezember 2011 ausgeweitet. Erwartungen, dass der BFH bereits ab Mitte 2014 von einer verfassungswidrigen Untätigkeit des Gesetzgebers ausgehen werde (z.B. Ortheil, BB 2015, 675), sind damit enttäuscht worden. Das Urteil ist auf Wunsch des BMF nachträglich zur Aufnahme in die sog. amtliche Sammlung (BFHE) vorgesehen worden. Entscheidungen, die lediglich in BFH/NV veröffentlicht sind, werden nicht im BStBl veröffentlicht.

4. Unterdessen mehren sich die Stimmen, die eine Reform der Vollverzinsung (Drüen, FR 2014, 218; Behrens, FR 2015, 214) oder zumindest eine Anpassung des gesetzlichen Zinssatzes fordern. Kürzlich war in diesem Zusammenhang sogar von Wucherzinsen die Rede (Dziadkowski, FR 2015, 922).

5. Als problematisch wird dabei immer auch wieder angeführt, dass Nachzahlungszinsen nicht als Werbungskosten/Betriebsausgaben abziehbar sind, während Erstattungszinsen zu steuerpflichtigen Einnahmen führen. Mit diesem Argument wird der en­gagierte Berater beim BFH allerdings nicht mehr durchdringen. Der sachlich allein zuständige VIII. Senat entscheidet mittlerweile in ständiger Rechtsprechung, dass § 20 Abs. 1 Nr. 7 Satz 3 EStG verfassungsgemäß ist (BFH, Urteil vom 12.11.2013, VIII R 36/10, BFH/NV 2014, 606, BFHE 243, 506; BFH, Urteil vom 12.11.2013, VIII R 1/11, BFH/NV 2014, 830; BFH, Urteil vom 24.6.2014, VIII R 29/12, BFH/NV 2014, 1996, BFHE 246, 306; BFH, Urteil vom 24.6.2014, VIII R 28/12 [NV], Haufe-Index 7577859; BFH, Urteil vom 15.4.2015, VIII R 30/13 [NV]). Gegen mehrere dieser Entscheidungen sind Verfassungsbeschwerden anhängig; deren Ausgang bleibt abzuwarten (BVerfG, 2 BvR 482/14; 2 BvR 2674/14; 2 BvR 2671/14).

6. Auf die Frage, welche Anpassungen sie im Steuerrecht angesichts der niedrigen Zinsen für erforderliche halte, hat die Bundesregierung am 9.9.2015 lediglich mitgeteilt, sie prüfe eine Anpassung der bilanzsteuerrechtlichen Abzinsungssätze. Von einer Anpassung des gesetzlichen Zinssatzes war dort nicht die Rede (BT-Drucks. 18/5950, 4).

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 14.4.2015 – IX R 5/14

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