Leitsatz

Ein in einem Änderungsbescheid enthaltener Vorläufigkeitsvermerk, der an die Stelle des bereits im Vorgängerbescheid enthaltenen Vorläufigkeitsvermerks tritt, bestimmt den Umfang der Vorläufigkeit neu und regelt abschließend, inwieweit die Steuer nunmehr vorläufig festgesetzt ist, wenn für den Steuerpflichtigen nach seinem objektiven Verständnishorizont nicht erkennbar ist, dass der ursprüngliche Vorläufigkeitsvermerk trotz der Änderung wirksam bleiben soll (Anschluss an BFH-Urteil vom 19.10.1999 – IX R 23/98, BFHE 190, 44, BStBl II 2000, 282, Rz. 17).

 

Normenkette

§ 165 AO

 

Sachverhalt

Die Klägerin machte in ihrer Einkommensteuererklärung einen Verlust aus selbstständiger Arbeit geltend. Das FA legte die Verluste der Steuerfestsetzung zugrunde und erklärte den Bescheid nach § 165 Abs. 1 Satz 1 und 2 AO u.a. hinsichtlich der Einkünfte der Klägerin aus selbstständiger Arbeit teilweise für vorläufig, da die Gewinnerzielungsabsicht nicht abschließend beurteilt werden könne. Aus den Erläuterungen ging nicht hervor, welcher der mitgeteilten Vorläufigkeitsgründe sich auf § 165 Abs. 1 Satz 1 AO und welcher sich auf § 165 Abs. 1 Satz 2 AO bezog.

Mit Einkommensteuerbescheid vom 7.4.2006 änderte das FA die Festsetzung für das Streitjahr. Der Erläuterungsteil enthielt nur die Hinweise zum Vorläufigkeitskatalog des § 165 Abs. 1 Satz 2 AO und keinen Hinweis darauf, dass sich die Vorläufigkeit weiterhin auf die Einkünfte der Klägerin aus selbstständiger Arbeit beziehen sollte.

Mit Einkommensteuerbescheid vom 11.1.2011 änderte das FA die Festsetzung für das Streitjahr erneut und erkannte die Verluste der Klägerin aus selbstständiger Arbeit nicht mehr an. Das FG gab der hiergegen erhobenen Klage statt und hob den Änderungsbescheid vom 11.1.2011 auf (FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 22.8.2017, 3 K 2227/15, Haufe-Index 11344422, EFG 2017, 186).

 

Entscheidung

Der BFH hat die Revision des FA als unbegründet zurückgewiesen.

 

Hinweis

1. Der BFH hat der zum Teil "wilden" Praxis der FÄ in Bezug auf die Änderung von Vorläufigkeitsvermerken mit der vorliegenden Entscheidung Grenzen aufgezeigt. Zwar gilt der Grundsatz, dass der Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 AO grundsätzlich bis zu seiner ausdrücklichen Aufhebung wirksam bleibt, auch wenn er in einem Änderungsbescheid nicht ausdrücklich wiederholt wird. Dies gilt jedoch nicht, wenn das FA den Vorläufigkeitsvermerk in einem Änderungsbescheid inhaltlich abändert. Denn ein in einem Änderungsbescheid enthaltener Vorläufigkeitsvermerk, der an die Stelle des bereits im Vorgängerbescheid enthaltenen Vorläufigkeitsvermerks tritt, bestimmt den Umfang der Vorläufigkeit neu und regelt abschließend, inwieweit die Steuer nunmehr vorläufig festgesetzt ist.

2. Im Streitfall hat das FA dem Änderungsbescheid vom 7.4.2006 einen solchen inhaltlich geänderten Vorläufigkeitsvermerk beigefügt, da sich dieser nicht (mehr) auf die Einkünfte der Klägerin aus selbstständiger Arbeit i.S.d. § 18 EStG bezog. Für die Klägerin war nach "objektivem Verständnishorizont" nicht erkennbar, dass der ursprüngliche Vorläufigkeitsvermerk trotz der Änderung wirksam bleiben sollte.

3. Der BFH hat somit dem Interesse des Steuerpflichtigen an Rechtsklarheit Vorrang vor dem Interesse des FA an einer vorläufigen Steuerfestsetzung eingeräumt. § 165 Abs. 1 Satz 3 AO verlangt in formeller Hinsicht für die Begründung des Vorläufigkeitsvermerks, dass dessen Umfang und Grund anzugeben sind. Diese Angaben zeigen die Grenzen für die endgültige Festsetzung bzw. Feststellung auf. Denn der Steuerpflichtige muss wissen, welche Umstände der endgültigen Festsetzung bzw. Feststellung entgegenstehen und hinsichtlich welcher als ungewiss betrachteter Tatsachen (bei § 165 Abs. 1 Satz 1 AO) sich das FA eine weitere Überprüfung vorbehält.

4. Sind die Formulierung des Vorläufigkeitsvermerks und die Erläuterungen in dem Bescheid nicht hinreichend klar, so kann sich die Wirksamkeit des Vermerks auch durch Würdigung der Umstände des Einzelfalls ergeben. Zu prüfen ist dabei, ob der Umfang des Vorläufigkeitsvermerks aus Sicht eines objektiven Empfängers hinreichend erkennbar ist. Dies gilt auch für die Änderung eines Vorläufigkeitsvermerks in einem Änderungsbescheid. Da Umfang und Grund der Vorläufigkeit nach § 165 Abs. 1 Satz 3 AO anzugeben sind, muss der Steuerpflichtige den in einem Änderungsbescheid enthaltenen – geänderten – Vorläufigkeitsvermerk so verstehen, dass der Umfang der Vorläufigkeit im Änderungsbescheid abschließend umschrieben worden ist. Es ist dem Steuerpflichtigen nicht zuzumuten, darüber zu spekulieren, ob die Beschränkung des Vorläufigkeitsvermerks auf erneuter Prüfung oder auf einem Versehen der Finanzverwaltung beruht.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 16.6.2020 – VIII R 12/17

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