Rz. 1

Stand: EL 124 – ET: 11/2020

Das rechtliche Gehör ist ein Kernstück jedes rechtsstaatlichen Gerichtsverfahrens. Art 103 Abs 1 GG bestimmt: "Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör." Dazu gehört auch das Recht, Einsicht in die Gerichtsakten zu nehmen (zu weiteren Hinweisen > Akteneinsicht). Grundsätzlich darf ein FG seinem Urteil keine ungünstigen Tatsachen zugrunde legen, zu denen der Beteiligte nicht hat Stellung nehmen können (vgl BFH-Beschluss vom 28.05.2020 – X B 12/20, HaufeIndex 14033735 zur Verwendung nicht allgemein zugänglicher Quellen, ohne diese dem Kläger zugänglich zu machen). Rechtliches Gehör ist verletzt, wenn das Gericht das rechtliche Vorbringen eines Beteiligten ersichtlich nicht in Erwägung zieht (BFH/NV 2010, 233), selbst wenn es ihm in der Sache nicht folgt (BFH/NV 2010, 229). Das Gericht ist jedoch nicht verpflichtet, sich mit jedwedem Vortrag eines Beteiligten in den Urteilsgründen auseinanderzusetzen. Wenn der Vortrag im Tatbestand des Urteils erwähnt wird, kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass das Gericht die Ausführungen zur Kenntnis genommen und erwogen hat (BFH/NV 2018, 966). Das rechtliche Gehör ist jedoch verletzt, wenn das Gericht entscheidet, ohne den Ablauf einer selbst gesetzten Frist abzuwarten (BFH/NV 2010, 228), oder wenn im Widerspruch zu den vorangegangenen eindeutigen Äußerungen des Berichterstatters die Klage abgewiesen wird (BFH 223, 308 = BStBl 2009 II, 309). Das Recht auf rechtliches Gehör ist auch dann verletzt, wenn ein Gericht unmittelbar nach der Niederlegung des Mandats durch den Prozessbevollmächtigten den Termin zur mündlichen Verhandlung während der Hauptferienzeit bestimmt und die Streitsache in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht nicht einfach ist (BFH-Beschluss vom 16.06.2020 – VIII B 151/19, HaufeIndex 14046514 = BB 2020, 2215). Zu einer sog Überraschungsentscheidung vgl auch BFH/NV 2007, 262; 2010, 662; 2015, 809; 2018, 342 und BFH-Beschluss vom 26.05.2020 – IX B 116/19, HaufeIndex 13 951 104. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist aber nicht verletzt, wenn der fachkundig vertretene Kläger in der mündlichen Verhandlung auf einen neuen Gesichtspunkt hätte reagieren können (BFH/NV 2011, 1185). Ist einem Beteiligten das rechtliche Gehör versagt worden, ist ohne Weiteres anzunehmen, dass das Urteil des FG auf einer Verletzung von Bundesrecht beruht (§ 119 Nr 3 FGO). Zur sog Anhörungsrüge > Rz 4 und > Rechtsbehelfe Rz 88.

 

Rz. 2

Stand: EL 124 – ET: 11/2020

Auch im Steuerverwaltungsverfahren gilt der Grundsatz des rechtlichen Gehörs. So bestimmt zB § 91 Abs 1 AO, dass die FÄ, wenn sie zuungunsten der Stpfl von deren > Steuererklärung abweichen wollen, den Stpfl vorher Gelegenheit zur Äußerung zu geben haben. Geringfügige Abweichungen müssen erst im > Steuerbescheid erläutert werden (AEAO zu § 91 Nr 1). Ein Verstoß gegen das Gebot, rechtliches Gehör zu gewähren, führt zur Rechtswidrigkeit des > Verwaltungsakt, wenn die Anhörung nicht spätestens bis zum Abschluss des Einspruchsverfahrens nachgeholt wird (§ 126 Abs 1 Nr 3 AO).

 

Rz. 3

Stand: EL 124 – ET: 11/2020

Ist die erforderliche Anhörung eines Beteiligten unterblieben und dadurch die rechtzeitige Anfechtung des Verwaltungsakts versäumt worden, muss das FA > Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren (§ 126 Abs 3 iVm § 110 AO). Davon kann im Allgemeinen aber nur ausgegangen werden, wenn die notwendigen Erläuterungen auch im > Verwaltungsakt selbst unterblieben sind (BFH 143, 106 = BStBl 1985 II, 601).

 

Rz. 4

Stand: EL 124 – ET: 11/2020

Wurde der Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht verletzt und das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen, ermöglicht eine sog Anhörungsrüge die Fortführung des Verfahrens und Beseitigung des Verfahrensfehlers (vgl § 133a FGO; > Rechtsbehelfe Rz 88 ff).

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