Entscheidungsstichwort (Thema)

Bei einer unzuständigen Behörde angebrachter Rechtsbehelf wahrt die Einspruchsfrist bereits bei Absendung durch die unzuständige an die zuständige Behörde innerhalb der Frist. Anspruch einer Kapitalgesellschaft schweizerischen Rechts auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG

 

Leitsatz (redaktionell)

1. § 357 Abs. 2 S. 4 AO ist dahin auszulegen, dass ein bei einer unzuständigen Behörde angebrachter Rechtsbehelf die Einspruchsfrist wahrt, wenn er spätestens am letzten Tag der Frist von der unzuständigen an die zuständige Behörde abgesandt wird. In diesem Sinne übermittelt wird ein Einspruch nämlich nicht erst bei Eintritt des Übermittlungserfolgs (Eingang bei der zuständigen Behörde), sondern nach Wortlaut, Historie, Systematik und Zweck der Vorschrift sowie jedenfalls bei verfassungskonformer Auslegung bereits bei Vornahme der Übermittlungshandlung, also bei Absendung durch die unzuständige Behörde.

2. Diese Auffassung des erkennenden Senats steht nicht im Widerspruch zu der Aussage, dass der Steuerpflichtige das Risiko der rechtzeitigen Übermittlung trägt.

3. Der Senat geht davon aus, dass auch eine Aktiengesellschaft schweizerischen Rechts sich auf den Anspruch auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG berufen kann.

 

Normenkette

AO § 355 Abs. 1 S. 1, § 122 Abs. 2 Nrn. 1-2, § 356 Abs. 1 S. 1, § 357 Abs. 1 Sätze 1, 3, Abs. 2 S. 4; RAO § 249 Abs. 3; GG Art. 19 Abs. 4

 

Nachgehend

BFH (Urteil vom 28.04.2020; Aktenzeichen VI R 41/17)

 

Tenor

1. Der Lohnsteuer-Nachforderungsbescheid für 2008 bis 2011 vom 29. Oktober 2013 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 14. August 2014 wird dahingehend geändert, dass der Nachforderungsbetrag für das Jahr 2008 um 15.974,11 EUR (davon Lohnsteuer 14.262,60 EUR, Solidaritätszuschlag 784,44 EUR, pauschale Kirchensteuer 927,07 EUR) und für das Jahr 2011 um 22.006,22 EUR (davon Lohnsteuer 19.736,52 EUR, Solidaritätszuschlag 1.085,51 EUR, pauschale Kirchensteuer 1.184,19 EUR) reduziert wird.

2. Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.

3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Ermöglicht der Kostenfestsetzungsbeschluss eine Vollstreckung im Wert von mehr als 1.500 EUR, hat die Klägerin in Höhe des vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruches Sicherheit zu leisten. Bei einem vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruch bis zur Höhe von 1.500 EUR kann der Beklagte der vorläufigen Vollstreckung widersprechen, wenn die Klägerin nicht zuvor in Höhe des vollstreckbaren Kostenanspruchs Sicherheit geleistet hat.

4. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist in erster Linie, ob die Klägerin infolge eines beim falschen Finanzamt eingelegten Einspruchs die Einspruchsfrist versäumt hat bzw. ob ihr insoweit Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist. Die Beteiligten stimmen darin überein, dass der angefochtene Lohnsteuer-Nachforderungsbescheid materiell zumindest zum Teil rechtswidrig ist (bzw. wäre).

Die Klägerin ist eine Aktiengesellschaft schweizerischen Rechts […]. Die Klägerin ist in Deutschland beschränkt steuerpflichtig (vgl. Aktenvermerk, Rechtsbehelfsakte Bl. 59). Sie behält für ihre im Inland beschäftigten Arbeitnehmer Lohnsteuer ein und führt diese aufgrund von Lohnsteuer-Anmeldungen an den Beklagten, das Finanzamt, ab.

Das zentral zuständige Finanzamt X (vgl. Rechtsbehelfsakte Bl. 32) führte im Juli/August 2013 bei der Klägerin eine Lohnsteuer-Außenprüfung durch. Hinsichtlich der Prüfungsanordnung und des Prüfungsberichts wird auf Bl. 34 ff. der Gerichtsakte und Bl. 56 ff. der Lohnsteuerprüfungsakte (Arbeitgeber) Bezug genommen. Auf der Grundlage des Prüfungsberichts erließ das beklagte Finanzamt den streitgegenständlichen Nachforderungsbescheid vom 29. Oktober 2013 (Dienstag). Mit diesem Bescheid forderte das Finanzamt von der Klägerin für die Jahre 2008 bis 2011 einen Gesamtbetrag von 43.923,66 EUR für Lohnsteuer, Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer nach (davon insgesamt 17.745,46 EUR für das Jahr 2008, 847,47 EUR für das Jahr 2009, 794,31 EUR für das Jahr 2010 und 24.536,42 EUR für das Jahr 2011). Zugleich hob das Finanzamt den Vorbehalt der Nachprüfung für die Zeit vom 1. Januar 2008 bis zum 31. Dezember 2011 auf. Wegen des genauen Inhalts des Nachforderungsbescheids und der keinen Hinweis auf die Möglichkeit einer elektronischen Einspruchseinlegung enthaltenden Rechtsbehelfsbelehrung wird auf Bl. 33 der Gerichtsakte verwiesen.

Der 1. November 2013 (Freitag) war in Baden-Württemberg ein gesetzlicher Feiertag (Allerheiligen; vgl. Kalender Baden-Württemberg 2013, Gerichtsakte Bl. 206).

Mit Schreiben vom 28. November 2013 legte die Klägerin ohne Einschaltung eines Rechts- oder Steuerberaters gegen den Lohnsteuer-Nachforderungsbescheid vom 29. Oktober 2013 Einspruch ein und beantragte Aussetzung der Vollziehung. Aus dem Einspruchsschreiben gehen das Datum des angefochtenen Nachforderungsbescheids und die Steuernumme...

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