Entscheidungsstichwort (Thema)

Progressionsvorbehalt für Lohnersatzleistungen

 

Leitsatz (redaktionell)

Daß Lohnersatzleistungen (hier: Arbeitslosengeld) bei der Berechnung des Einkommensteuertarifs einbezogen werden (sog. Progressionsvorbehalt für Lohnersatzleistungen) verletzt weder Art. 3 Abs. 1 GG noch das Rechtsstaats- oder Sozialstaatsprinzip.

 

Normenkette

GG Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1, 3; EStG 1982 § 32b Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1; AFG § 111 Abs. 1

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches FG (Urteil vom 13.12.1988; Aktenzeichen V 215/86)

 

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob § 32 b Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit Abs. 2 EStG in der Fassung des Zweiten Haushaltsstrukturgesetzes vom 22. Dezember 1981 (BGBl. I S. 1523 – EStG 1982) verfassungswidrig ist.

I.

Die miteinander verheirateten Beschwerdeführer wurden im Jahr 1984 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Die Beschwerdeführerin erzielte als Raumpflegerin einen Bruttoarbeitslohn von 33.919 DM. Der Beschwerdeführer war arbeitslos. Er bezog im Jahr 1984 Arbeitslosengeld in Höhe von 7.237 DM.

Das beklagte Finanzamt des Ausgangsverfahrens ermittelte das zu versteuernde Einkommen der Beschwerdeführer für den Veranlagungszeitraum 1984 mit 23.530 DM. Zur Ermittlung des Steuersatzes nach § 32 b Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 1 EStG 1982 bezog das Finanzamt das erhaltene Arbeitslosengeld unter Anwendung der Tabelle des Bundesministers der Finanzen (BMF) vom 31. Dezember 1983 (BStBl. I 1983 S. 527) mit einem Bruttobetrag von 10.488 DM ein. Bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens blieben die Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung außer Ansatz. Die Einbeziehung des Arbeitslosengeldes bei der Berechnung des Einkommensteuersatzes ergab eine um 519 DM höhere Einkommensteuer.

Gegen diesen Bescheid erhoben die Beschwerdeführer nach erfolglosem Einspruchsverfahren Klage zum Schleswig- Holsteinischen Finanzgericht mit der Begründung, die Berücksichtigung des Arbeitslosengeldes bei der Ermittlung des Steuersatzes in § 32 b Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 EStG 1982 sei verfassungswidrig. Das Schleswig-Holsteinische Finanzgericht wies die Klage ab. Die Revision wurde nicht zugelassen.

Das Schleswig-Holsteinische Finanzgericht führte aus, § 32 b Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 1 EStG 1982 sei bei der Einkommensteuerfestsetzung zutreffend angewandt worden. Gegen diese Vorschrift bestünden keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Weder das Sozialstaatsprinzip noch Art. 3 Abs. 1 GG stünden der Anwendung des Progressionsvorbehaltes auf Lohnersatzleistungen entgegen. Der Gesetzgeber sei im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit berechtigt, die jeweils erforderlichen gesetzlichen Regelungen und Absichten weitgehend von sozialpolitischen und gesellschaftspolitischen Erwägungen und Absichten abhängig zu machen.

Bei der Gestaltung der Tarifvorschrift des § 32 b Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 EStG 1982 habe sich der Gesetzgeber zulässigerweise auch von arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Sachgründen leiten zu lassen. Mit dem Progressionsvorbehalt habe er unter anderem das Ziel verfolgt, den Arbeitslosen zur möglichst schnellen Wiederaufnahme von Arbeit anzuspornen. Hierbei handele es sich um ein sachgerechtes Motiv, so daß die Vorschrift weder das Sozialstaatsprinzip noch den Gleichheitsgrundsatz verletze. Im übrigen verweist das Gericht auf die Ausführungen im Urteil des Bundesfinanzhofes (BFH) vom 29. April 1988 (BStBl. II 1988 S. 674 ff.).

II.

Mit ihrer rechtzeitig erhobenen Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer die Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 3 Abs. 1, 6 Abs. 1 GG sowie Verstöße gegen das Sozialstaats- und Rechtsstaatsprinzip.

Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe seien steuerfrei. Trotzdem werde das vom Beschwerdeführer bezogene Arbeitslosenentgelt bei der Ermittlung der Höhe des Steuersatzes einbezogen. Es handele sich um eine Sozialleistung, die insofern indirekt besteuert werde, als der Steuersatz erhöht werde. Dies sei ein Verstoß gegen das Sozialstaatsprinzip.

Art. 3 Abs. 1 GG sei deshalb verletzt, weil andere Sozialleistungen, wie z.B. Krankengeld, nicht einbezogen würden.

§ 32 b Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 1 EStG 1982 verstoße ferner gegen Art. 6 Abs. 1 GG. Die Beschwerdeführer stünden, lebten sie voneinander getrennt, erheblich günstiger da. Der Beschwerdeführer könnte seine Kinderfreibeträge auf die Beschwerdeführerin übertragen, die Arbeitslosenbezüge des Beschwerdeführers wirkten sich nicht steuersatzerhöhend aus. Zugleich hätte die Beschwerdeführerin mit der Steuerklasse II eine geringere steuerliche Belastung.

Der Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip sei darin zu sehen, daß Geldleistungen, die nach der Gesetzesdefinition des Einkommensteuergesetzes nicht Einkommen seien, trotzdem als Einkünfte bei der Berechnung des Steuersatzes und damit indirekt als Einkommen berücksichtigt würden. Die Steuergesetze dienten einzig dazu, den Ausgabenbedarf des Staates zu decken. Es sei nicht Aufgabe der Steuergesetzgebung, pädagogisch auf Arbeitslose einzuwirken, um sie „zur möglichst schnellen Wiederaufnahme von Arbeit anzuspornen”.

Außerdem verstoße die dem Bundesminister der Finanzen in § 51 Abs. 4 Nr. 2 EStG 1982 erteilte Ermächtigung, die für die Anwendung des § 32 b Abs. 2 Nr. 1 EStG 1982 maßgebenden Bruttobeträge festzusetzen, ebenfalls gegen das Grundgesetz. Es sei schon fraglich, ob eine Festsetzung überhaupt zulässig sei, da damit die Einkommenshöhe praktisch durch Ministerialerlaß festgesetzt werde. Auf jeden Fall sei diese Ermächtigung zu unbestimmt, als daß sie verfassungsrechtlich relevante Wirkung entfalten könne. Das Rechtsstaatsprinzip werde durchbrochen, da letztlich durch einen jährlichen Ministerialerlaß die Einkommenshöhe beeinflußt werde und zugleich Willkür ausgeübt werden könne.

III.

Die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerde nach § 93 a BVerfGG liegen nicht vor. Der Verfassungsbeschwerde kommt weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung von Grundrechten angezeigt.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig; ihr steht nicht der Grundsatz der Subsidiarität entgegen. Angesichts der Entscheidung des Bundesfinanzhofs vom 29. April 1988 (BStBl. II 1988 S. 674 ff.) war den Beschwerdeführern nicht zuzumuten, zunächst eine Nichtzulassungsbeschwerde zu erheben, da eine abweichende Entscheidung nicht zu erwarten war (BVerfGE 9, 3 ≪7 f.≫; 78, 155 ≪160≫).

Die Verfassungsbeschwerde hat aber keine Aussicht auf Erfolg. Die Einführung des Progressionsvorbehaltes in § 32 b Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 1 EStG 1982 ist nicht verfassungswidrig. Art. 3 Abs. 1 GG ist nicht verletzt, weil lediglich bestimmte Lohnersatzleistungen einbezogen werden. Der Steuergesetzgeber hat nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weitgehende Gestaltungsfreiheit hinsichtlich der Erschließung von Steuerquellen (BVerfGE 81, 108 ≪117≫). Grundsätzlich ist es Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, welche Sachverhalte er als gleich im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG werten will. Will er eine bestimmte Steuerquelle erschließen, andere hingegen nicht, dann ist der allgemeine Gleichheitssatz solange nicht verletzt, als die Differenzierung auf sachgerechten Erwägungen, beispielsweise finanzpolitischer, volkswirtschaftlicher, sozialpolitischer oder steuertechnischer Natur, beruht (BVerfGE 49, 343 ≪360≫; 50, 386 ≪392≫; 65, 325 ≪354≫).

Die Erwägungen des Gesetzgebers, die die Einführung des Progressionsvorbehaltes für einzelne Lohnersatzleistungen tragen, sind einsichtig und nachvollziehbar. Daß der Gesetzgeber zunächst nur die steuerliche Berücksichtigung eines Kernbereichs von Lohnersatzleistungen insoweit neu geregelt hat, beruht auf der von ihm gewonnenen Erkenntnis, daß das Zusammentreffen von Einkünften und Lohnersatzleistungen bei Beziehern dieser Gruppe praktisch besonders bedeutsam ist und daß gerade bei diesen Leistungsempfängern ein deutlicher Abstand zu den Einkommen der beschäftigten Arbeitnehmer erhalten bleiben müsse, damit die Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme nicht beeinträchtigt werde. Allein diese Erwägung, nämlich möglichst allen Arbeitslosen im Ergebnis lediglich die in § 111 Abs. 1 AFG genannten prozentualen Beträge ihrer letzten Nettobezüge zu belassen, damit die Arbeitsaufnahme wirtschaftlich sinnvoll bleibe, rechtfertigt die Einführung eines besonderen Steuersatzes. Darüber hinaus aber verfolgt die Regelung das von Verfassungs wegen nicht zu beanstandende Ziel, ungerechtfertigte steuerliche Begünstigungen abzubauen.

Die gesetzliche Regelung widerspricht auch nicht dem Sozial- und dem Rechtsstaatsprinzip. Der Gesetzgeber ist nicht gehindert, auch Arbeitslosenbezüge oder sonstige Einkommenssurrogate im Rahmen der Besteuerung zu berücksichtigen. Das Verfassungsrecht enthält keine Grundsätze, die einer Einbeziehung von Einkommenssurrogaten in die Besteuerung entgegenstehen, sofern hierbei die Grundsätze der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit beachtet werden.

§ 32 b Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 1 EStG 1982 widerspricht diesen Grundsätzen nicht. Bei Steuerpflichtigen, die lediglich Arbeitslosen-, Kurzarbeiter-, Schlechtwettergeld oder Arbeitslosenhilfe beziehen, wirkt sich der Progressionsvorbehalt wegen der in § 3 Nr. 2 EStG beibehaltenen Steuerfreiheit dieser Lohnersatzleistungen nicht aus. Folgen ergeben sich nur, wenn neben diesen Einkommenssurrogaten weitere steuerpflichtige eigene Einkünfte bezogen werden oder wenn der zur Einkommensteuer zusammenveranlagte Ehegatte Einkünfte im Sinne des § 2 Abs. 1 EStG erzielt hat.

Der Steuergesetzgeber verfolgte mit der Einführung des Progressionsvorbehaltes das Ziel, Empfänger von Arbeitslosengeld und -hilfe im Ergebnis nicht besser zu stellen als mit den in § 111 Abs. 1 AFG genannten Teilbeträgen der letzten Nettobezüge. Durch die auf das Kalenderjahr abgestimmte Besteuerung, die Gewährung von auf das Kalenderjahr bezogenen Freibeträgen und die progressive Ausgestaltung des Einkommensteuertarifs werden die während eines Jahres nur zeitweise bezogenen Einkünfte von der Besteuerung entlastet. Vor Einführung des Progressionsvorbehaltes führte dies dazu, daß Steuerpflichtige, die nur während eines Teil des Jahres arbeitslos waren, im Ergebnis nicht lediglich die in § 111 Abs. 1 AFG festgelegten 63 bzw. 68 vom Hundert ihrer letzten Aktivbezüge erhielten, sondern über ihre steuerliche Entlastung einen höheren Betrag. Darüber hinaus mußten Steuerpflichtige mit Aktivbezügen, die denen des Arbeitslosen einschließlich des Arbeitslosengeldes bzw. der Arbeitslosenhilfe entsprachen, eine erheblich höhere Steuer zahlen. Diese Folge ist zwar durch die Einführung des Progressionsvorbehaltes in § 32 b EStG 1982 nicht beseitigt, aber abgemildert worden.

Es liegt auf der Hand, daß Steuerpflichtige, die im Kalenderjahr neben eigenen Einkünften Lohnersatzleistungen bezogen haben, wirtschaftlich leistungsfähiger sind, als Steuerpflichtige, die gleich hohe Einkünfte ohne Lohnersatzleistungen erzielt haben. Die Einbeziehung der Lohnersatzleistungen zur Berechnung des Steuersatzes ist daher verfassungsrechtlich unbedenklich.

§ 32 b Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 1 EStG 1982 verletzt auch nicht Art. 6 Abs. 1 GG. Durch die Einbeziehung des Arbeitslosengeldes in die Bemessungsgrundlage zum Zwecke der Berechnung des Steuersatzes fällt keine höhere Steuer an als bei einer getrennten Veranlagung, da die Anwendung der Splittingtabelle den Nachteil der Anwendung des Progressionsvorbehaltes auf Lohnersatzleistungen aufwiegt. Bei einem zu versteuernden Einkommen von 23.530 DM hätte die Beschwerdeführerin bei einer getrennten Veranlagung nach der Grundtabelle 4.439 DM Einkommensteuer, demnach mehr als die festgesetzten 3.811 DM, zu entrichten.

Schließlich vermag die Rüge der Verletzung des Rechtsstaatsprinzips der Verfassungsbeschwerde ebenfalls nicht zum Erfolg zu verhelfen. Insoweit wird nach dem Vorbringen der Verfassungsbeschwerde schon nicht deutlich, inwiefern die Ermächtigung des § 51 Abs. 4 Nr. 2 EStG (i.d.F. der Bekanntmachung vom 6. Dezember 1981 ≪BGBl. I S. 1249≫, geändert durch Art. 26 des Zweiten Haushaltsstrukturgesetzes vom 22. Dezember 1981 ≪BGBl. I S. 1523≫), zu unbestimmt sein sollte. Dessenungeachtet begegnet die Ermächtigung an den Bundesminister der Finanzen, die für die Anwendung des § 32 b Abs. 2 Nr. 1 EStG 1982 maßgebenden Beträge festzusetzen, keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Bereits aus der gesetzlichen Regelung des § 32 b EStG 1982 in Verbindung mit § 111 Abs. 2 AFG und der jeweiligen Verordnung über die Leistungssätze des Unterhaltsgeldes, des Arbeitslosengeldes, der Arbeitslosenhilfe, des Kurzarbeitergeldes und des Schlechtwettergeldes läßt sich mit hinreichender Bestimmtheit entnehmen, in welcher Höhe das Arbeitslosengeld zur Berechnung des Steuersatzes einzubeziehen ist. Aus den genannten Vorschriften ergibt sich insbesondere auch, daß nicht die individuell ermittelten steuerlichen oder sonstigen gesetzlichen Abzüge, sondern die in § 111 Abs. 2 AFG in Verbindung mit der Verordnung des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung genannten, nach Steuerklassen unterschiedenen Abzüge zu berücksichtigen sind. Die Ermächtigung an den Bundesminister der Finanzen zur Festsetzung der maßgebenden Beträge betrifft lediglich die konkrete Bezifferung der in Ansatz zu bringenden Beträge. Die tabellarische Übersicht erleichtert der Verwaltung die Rechtsanwendung. Die Verwaltung ist im übrigen von Verfassungs wegen nicht gehindert, im Interesse der Einheitlichkeit und Praktikabilität Richtlinien zu erlassen, um die Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes weiter zu konkretisieren. Insofern ist von Verfassungs wegen auch nichts dagegen zu erinnern, daß die tabellarische Übersicht nicht im Wege der Rechtsverordnung erlassen worden ist.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Fundstellen

NJW 1996, 449

NVwZ 1996, 372

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