Entscheidungsstichwort (Thema)

Anlieferungsreferenzmenge Milch

 

Leitsatz (NV)

1. Die von der Landesstelle nach § 9 Abs. 2 Nr. 3 MGV erteilte Bescheinigung ist weder für den Käufer noch für das HZA verbindlich, soweit sie von einer nicht bestehenden Anlieferungsreferenzmenge (ARM) ausgeht.

2. § 10 Abs. 1 MGV begründet - jedenfalls in der Fassung der Bekanntmachung der MGV vom 18. Juli 1986 - keine von einem Antrag des Erzeugers unabhängige Verpflichtung zur Neuberechnung der ARM.

3. Die Rechtmäßigkeit der Herabsetzung der ARM ist allein danach zu beurteilen, ob die Voraussetzungen für eine Rücknahme nach der dem Erzeuger günstigen ursprünglichen Berechnung der ARM nach § 10 Abs. 1 MOG i.V.m. § 48 Abs. 2 und 4 VwVfG vorliegen.

4. Die Rücknahme der dem Erzeuger günstigen Berechnung der ARM nach § 10 Abs. 1 MOG i.V.m. § 48 Abs. 2 VwVfG hängt nicht von einer Ermessensbetätigung ab.

 

Normenkette

FGO § 44; MOG § 10 Abs. 1, § 34 Abs. 1; VwVfG § 48 Abs. 2, 4; MGV §§ 2, 4 Abs. 1, § 9 Abs. 2 Nr. 3, § 10

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist Milcherzeuger. Er liefert die auf seinem Betrieb erzeugte Milch an den Milchhof N. Der seiner Mutter gehörende Betrieb war 1954 an S verpachtet worden, der ebenfalls Milcherzeuger war und die Milch an die Molkerei O lieferte. Nachdem das Pachtverhältnis gekündigt worden war, blieb ungeklärt, ob der Betrieb am 31. März 1984 oder später zurückgegeben worden war und ob infolgedessen der ehemalige Pächter S beim Inkrafttreten der Milchgarantiemengenregelung am 2. April 1984 noch Milch angeliefert hatte. Nach Auskunft der O lieferte S ihr im April 1984 keine Milch mehr. Der Kläger hat nie Milch an O geliefert.

O berechnete 1984 für S eine Anlieferungsreferenzmenge (ARM) von ...kg, teilte diese aber weder dem S noch dem beklagten und revisionsklagenden Hauptzollamt (HZA) mit, sondern übersandte die Berechnung der ARM dem Kläger. Wenig später schrieb O dem Kläger, daß die ihm zugesandte Berechnung der ARM nur der Mitteilung der notwendigen Basisdaten diene, nicht aber als Vergabe einer Referenzmenge anzusehen sei. O erfaßte die berechnete ARM von ... kg auch nicht in der nach § 4 Abs. 5 der Milch-Garantiemengen-Verordnung (MGV) dem HZA zu meldenden Summe der erteilten Referenzmengen. Obwohl O davon ausging, S keine ARM-Berechnung übersandt zu haben, nahm sie ihm gegenüber die Referenzmengen von ... kg am ... 1988 zurück.

N berechnete dem Kläger für den Zwölfmonatszeitraum 1985/1986 eine ARM von ...kg, teilte ihm dies mit Schreiben vom April 1986 mit und unterrichtete das HZA entsprechend. Dabei berücksichtigte N die dem Kläger nach § 9 Abs. 2 Nr. 3 MGV vom Direktor der Landwirtschaftskammer (LWK) erteilte Bescheinigung, nach der infolge der Rückgewähr der Pachtsache mit Wirkung vom ... 1985 die ARM des verpachteten Betriebs in Höhe von ... kg auf den Kläger übergegangen war.

Ausgelöst durch eine bei N durchgeführte Außenprüfung wurde die von der LWK ausgestellte Bescheinigung zunächst von der Kreisstelle der LWK und später von der LWK selbst zurückgenommen. In einem dagegen angestrengten Verwaltungsgerichtsprozeß hat das Oberverwaltungsgericht (OVG) nach Angaben des Klägers zwischenzeitlich entschieden, daß es bei der dem Kläger von der LWK erteilten Bescheinigung verbleibe.

Nach Rücknahme der Bescheinigung durch die Kreisstelle berrechnete N im November 1986 die ARM für den Kläger neu mit ... kg, wobei sie die auf den ehemals verpachteten Betrieb entfallende Menge von ... kg nicht mehr berücksichtigte.

Das Finanzgericht (FG) hielt die Klage überwiegend für begründet.

Mit seiner Revision macht das HZA geltend, die Vorentscheidung beruhe auf einer fehlerhaften Anwendung des § 10 Abs. 1 MOG i.V.m. § 48 Abs. 2 bis 4 VwVfG.

Ob und auf welche Weise Vertrauensschutz zu gewähren sei, beurteile sich nicht nach § 48 Abs. 2, sondern nach § 48 Abs. 3 VwVfG. Die Festsetzung der ARM sei eine Maßnahme des Subventionsabbaus und habe damit marktordnungspolitische, nicht fiskalische Bedeutung. § 10 Abs. 1 MOG sei wegen des überragenden marktordnungspolitischen Interesses der Gemeinschaft so zu verstehen, daß bei der Auswahl der zur Verfügung stehenden Rücknahmevorschriften (§ 48 Abs. 2 oder Abs. 3 VwVfG) diejenige anzuwenden sei, die die Rücknahme erleichtere und nicht erschwere. Das sei ohne Zweifel § 48 Abs. 3 VwVfG.

Die Molkerei als Käufer sei als beliehener Unternehmer zur Rücknahme der von ihr berechneten ARM befugt gewesen. Wenn ihr das Recht zur - erstmaligen - Festsetzung der ARM zustehe, müsse sie auch das Recht zu ihrer Änderung haben. Dies sei auch praxisgerecht, weil die Molkerei über die erforderlichen Daten für die Berechnung der ARM verfüge und deshalb die Berechnung schneller vornehmen könne. Wenn bei der Rücknahme § 48 Abs. 3 VwVfG zu beachten sei, ergäben sich keine Rechtsfragen, die so schwierig seien, daß sie von der Molkerei nicht bewältigt werden könnten. Denn der Vertrauensschutz sei danach erst zu berücksichtigen, wenn ein Entschädigungsanspruch gegen das HZA geltend gemacht werde. Die Neuberechnung durch den Käufer sei von § 10 Abs. 1 MGV gewollt, weil nur so eine Kontrolle auf Käuferebene gewährleistet sei, die wegen der genossenschaftlichen Bindung von Molkerei und Erzeuger durch die Regelung bezweckt werde. Das HZA solle erst dann tätig werden, wenn die Molkerei eine Neuberechnung der ARM ablehne.

Sei aber § 48 Abs. 2 VwVfG gleichwohl anzuwenden, so sei dem Interesse der Gemeinschaft, die Funktionsfähigkeit der Milchgarantiemengenregelung und die Begrenzung der Milchproduktion zu gewährleisten, der Vorrang vor dem Schutz des Vertrauens in den Bestand der ARM-Berechnung einzuräumen.

 

Entscheidungsgründe

Auf die Revision des HZA wird die Vorentscheidung aufgehoben und die Sache, weil sie nicht spruchreif ist, zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Die Vorinstanz ist rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, daß § 10 Abs. 1 MOG i.V.m. § 48 Abs. 2 VwVfG die Rücknahme der dem Kläger günstigen Berechnung der ARM von einer Ermessensbetätigung des HZA abhängig mache.

1. Im Ergebnis zutreffend hat das FG die Klage gegen die von N im November 1986 vorgenommene Neuberechnung der ARM als zulässig angesehen.

Der Senat teilt die Auffassung der Vorinstanz, daß in bezug auf die angefochtene Neuberechnung der ARM nach § 34 Abs. 1 Satz 5 MOG und in sinngemäßer Anwendung der Vorschriften der §§ 347 bis 368 der Abgabenordnung (AO 1977) als außergerichtliches Vorverfahren das Einspruchsverfahren in Betracht kommt. Die MGV sieht kein von dieser eindeutigen Regelung abweichendes besonderes Beschwerdeverfahren vor.

Die Vorinstanz ist ebenfalls im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, daß das nach § 44 FGO erforderliche Vorverfahren durch die in der Sache ergangene Einspruchsentscheidung des HZA erfolglos abgeschlossen worden ist und insoweit die Voraussetzungen für eine gerichtliche Entscheidung der Sache gegeben sind.

2. Keinen Bedenken begegnen auch die Ausführungen der Vorinstanz darüber, daß bei der ursprüngichen Berechnung der ARM für den Kläger zu Unrecht eine vermeintlich für den rückübertragenden Betrieb des S bestehende ARM berücksichtigt worden und die dem Kläger günstige, damals berechnete ARM somit rechtswidrig ist.

Das FG hat rechtsfehlerfrei erkannt, daß die dem Kläger nach § 9 Abs. 2 Nr. 3 MGV von der LWK erteilte Bescheinigung weder für den Käufer noch für das HZA verbindlich war, soweit diese von einer - nach den Ausführungen des FG nicht bestehenden - ARM für S ausging. Denn eine Feststellung darüber umfaßt der Regelungsgehalt der Bescheinigung nicht. Sie bescheinigt vielmehr nur den Übertragungsvorgang und die sich daraus für die Höhe der Referenzmenge möglicherweise ergebenden Folgen; dabei setzt sie zwar voraus, daß für den übergehenden Betrieb eine ARM berechnet worden ist. Die Berechnung ist aber nicht Gegenstand der Bescheinigung und der von dieser ausgehenden Rechtswirkungen.

Das entspricht auch der in § 2 MGV vorgesehenen Zuständigkeitsverteilung zwischen Bundesfinanzverwaltung und Landesstellen. Danach ist die Bundesfinanzverwaltung aufgrund ihrer allgemeinen Zuständigkeit zur Durchführung der MGV grundsätzlich für die Berechnung der ARM zuständig. Eine Zuständigkeitsregelung für Landesbehörden ist in dieser Verordnung nicht enthalten. Insoweit nimmt § 2 MGV nur auf die nach Landesrecht gegebene Zuständigkeit der Landesstellen für Entscheidungen über bestimmte Sachverhalte Bezug, hinsichtlich derer die in der MGV vorgesehenen Bescheinigungen ausgestellt werden. Ein solcher Sachverhalt ist bei der Bescheinigung nach § 9 Abs. 2 Nr. 3 MGV der Übertragungsvorgang und sich etwa daraus ergebende Folgen für die Höhe der ARM, nicht aber die Berechnung einer ARM für einen Betrieb, der auf einen anderen Erzeuger übergeht. Diese Berechnung obliegt nach §§ 2, 4 Abs. 1 i.V.m. § 10 MGV der Bundesfinanzverwaltung, die sich dabei auch des Käufers bedient (vgl. Senatsurteil vom 22. April 1986 VII R 184/85, BFHE 146, 302, 305). Für den Streitfall, in dem es darum geht, ob für S überhaupt eine ARM bestand, die auf den Kläger übergehen konnte, kommt es daher nicht auf die Rechtmäßigkeit und den Inhalt der von der LWK erteilten Bescheinigung an. Der Ausgang des diesbezüglichen Verwaltungsstreitverfahrens ist somit für den vorliegenden Rechtsstreit unerheblich.

3. Der Senat teilt ferner die Auffassung der Vorinstanz, daß § 10 Abs. 1 MGV jedenfalls in der zum Zeitpunkt der Neuberechnung der ARM durch N geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 18. Juli 1986 (BGBl I 1986, 1227) keine Verpflichtung für N zur Neuberechnung der ARM begründet hat. Denn diese Fassung sah für die Neuberechnung der ARM durch den Käufer einen entsprechenden Antrag des Erzeugers vor, den der Kläger hier nicht gestellt hat.

4. Die Rechtmäßigkeit der Neuberechnung der ARM des Klägers durch N ist daher in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats allein danach zu beurteilen, ob die Voraussetzungen für eine Rücknahme nach der dem Kläger günstigen ursprünglichen Berechnung der ARM nach § 10 Abs. 1 MOG i.V.m. § 48 Abs. 2 und 4 VwVfG vorliegen.

a) Anders als die Vorinstanz hat der Senat keine Bedenken dagegen, daß die Neuberechnung im Streitfall nicht vom HZA, sondern - trotz nicht bestehender Verpflichtung - von N ausgegangen ist. Zwar ist es grundsätzlich allein Aufgabe des HZA, eine rechtswidrige ARM-Berechnung nach § 10 Abs. 1 MOG zurückzunehmen. Dies folgt aus der allgemeinen Zuständigkeit der Bundesfinanzverwaltung für die Durchführung der MGV nach § 2 MGV. Im übrigen wäre der Käufer auch mit der eigenverantwortlichen - nach § 48 Abs. 2 VwVfG erforderlichen - Beurteilung der Schutzwürdigkeit des Vertrauens des Begünstigten überfordert. Das schließt aber nicht aus, daß eine dennoch zunächst vom Käufer ausgegangene, dem Erzeuger nachteilige Neuberechnung der ARM rechtmäßig sein kann, wenn die Voraussetzungen für eine Rücknahme der ursprünglichen Berechnung nach § 10 Abs. 1 MOG i.V.m. § 48 Abs. 2 und 4 VwVfG gegeben sind.

Zwar ist dem Käufer in der MGV keine Verpflichtung zur Neuberechnung einer den Erzeuger begünstigenden, fehlerhaft berechneten ARM auferlegt worden (s.o. unter Nr. 3). Ihm ist auch nicht eine entsprechende Befugnis ausdrücklich übertragen worden. Die Befugnis dazu folgt aber aus § 4 Abs. 1 MGV, wonach der Käufer die ARM für den Erzeuger berechnet, ohne daß dort eine Einschränkung auf die erstmalige Berechnung der ARM enthalten ist. Die Befugnis zur Berechnung der ARM schließt demgemäß auch die zu deren Berichtigung ein. Dadurch wird jedoch die grundsätzliche Zuständigkeit des HZA für die Rücknahme einer einmal berechneten ARM nicht berührt. Der Käufer wird - wie bereits erwähnt - nur unterstützend für die Bundesfinanzverwaltung tätig (vgl. Senatsurteil in BFHE 146, 302, 305). Der Erzeuger hat nach § 10 Abs. 3 MGV jederzeit die Möglichkeit, über die in der Neuberechnung etwa liegende Rücknahme der ARM einen Bescheid des HZA herbeizuführen und diesen Bescheid auf seine Rechtmäßigkeit hin im Einspruchs- und Klageverfahren überprüfen zu lassen (vgl. Senatsurteil vom 2. März 1993 VII R 99/91, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1993, 457).

Ist die Neuberechnung - wie im Streitfall - innerhalb der Jahresfrist ab Kenntnis der die Rechtswidrigkeit begründenden Tatsachen (§ 48 Abs. 4 VwVfG) zulässigerweise vom Käufer ausgegangen, so ist der Zeitpunkt seiner Neuberechnung auch entscheidend für die Frage, ob die in § 48 Abs. 4 VwVfG vorgeschriebene Frist von einem Jahr ab Kenntnis der Tatsachen, aus denen sich die Rechtswidrigkeit der zurückgenommenen Berechnung ergibt, eingehalten worden ist. Es kommt dann nicht - wie der Kläger meint - darauf an, ob und wann das HZA eine Entscheidung über die Rücknahme der ursprünglichen Berechnung der ARM trifft.

b) Der Senat kann aber die Bedenken des HZA gegen die Anwendung von § 48 Abs. 2 anstelle von § 48 Abs. 3 VwVfG für die Berücksichtigung des Vertrauens des Klägers in den Bestand der ihm günstigen Berechnung der ARM, die nach Auffassung des Senats im Ergebnis einen den Kläger begünstigenden Verwaltungsakt darstellt (vgl. Senatsurteil in HFR 1993, 457), nicht teilen. Er hält an der vorgenannten Auffassung auch unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich gegen seine Entscheidung (Senatsurteil vom 30. Oktober 1990 VII R 101/89, BFHE 162, 156) vorgebrachten Kritik (Schrömbges, Zeitschrift für Zölle + Verbrauchsteuern - ZfZ - 1991, 130ff.) fest. Insbesondere vermag das Argument, § 10 Abs. 1 Satz 1 MOG erfordere in Fällen wie dem vorliegenden zwingend die Anwendung von § 48 Abs. 3 VwVfG, nicht zu überzeugen (vgl. Senatsurteil vom 13. Juli 1993 VII R 92/92, BFH/NV 1994, 137). Es wird jedenfalls nicht durch den Wortlaut des § 10 Abs. 1 MOG gestützt, nach dem § 48 Abs. 2 oder Abs. 3 VwVfG ohne jede Präferenz für die eine oder andere Vorschrift je nach Fall anzuwenden ist. Der Senat hält daran fest, daß der fiskalische Aspekt der Festsetzung der ARM - die kein Verbot der Überproduktion enthält, überwiegt und deshalb § 48 Abs. 2 VwVfG anzuwenden ist (vgl. Dänzer-Vanotti, Anmerkung zum Senatsurteil in BFHE 162, 156, ZfZ 1991, 149).

5. Die Entscheidung darüber, ob die dem Kläger günstige Berechnung der ARM zurückzunehmen und zuungunsten des Klägers zu ändern ist, hängt jedoch nicht - wie die Vorinstanz angenommen hat - von einer Ermessensbetätigung ab. Denn § 10 Abs. 1 MOG, der in Fällen des Marktordnungsrechts anstelle von § 48 Abs. 1 VwVfG anzuwenden ist, läßt für eine Ermessensbetätigung keinen Raum (Senatsurteil vom 13. März 1990 VII R 47/88, BFHE 164, 141, 146). Das gilt auch für die Entscheidung, ob Vertrauensschutz nach § 48 Abs. 2 VwVfG zu gewähren ist. Ob die Voraussetzungen des § 48 Abs. 2 VwVfG vorliegen, ist eine Rechtsfrage, deren Beurteilung durch die Behörde gerichtlich voll zu überprüfen ist (BFHE 164, 141, 146; vgl. auch Bundesverwaltungsgericht - BVerwG -, Urteile vom 14. August 1986 BVerwG 3 C 9.85 in 451.90 Buchholz Nr. 66 EWG-Recht, und vom 6. Juni 1991 BVerwG 3 C 46.86, BVerwGE 88, 278, 283; Stelkens/ Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 3. Aufl., § 48 Rz. 95).

Die Vorentscheidung enthält allerdings - von dem darin vertretenen Standpunkt ausgehend, zu Recht - keine Feststellungen zu der Frage, ob der Kläger auf den Bestand der im April 1986 von N berechneten ARM berechtigterweise vertraut und was er im Vertrauen darauf getan hat. Dies hindert den Senat daran, in der Sache zu entscheiden. Dazu sind vor allem auch Feststellungen erforderlich, die es ermöglichen, eine Abwägung der Gemeinschaftsinteressen mit denen des Klägers vorzunehmen. Eine solche Abwägung - und damit die dafür erforderlichen Feststellungen - erübrigen sich nicht schon aus der Erwägung, es stehe ohnehin fest, daß das Gemeinschaftsinteresse im Streitfall den Vorrang habe. Davon könnte nur dann ausgegangen werden, wenn die Rücknahme der günstigen ARM-Berechnung im wesentlichen nur Auswirkungen für die Zukunft hätte (vgl. Senatsurteil in BFHE 164, 141). Hier aber hat die Rücknahme der für den Zwölfmonatszeitraum 1985/1986 berechneten ARM durch die Neuberechnung im November 1986 rückwirkenden Charakter, weil der Zwölfmonatszeitraum bereits am 31. März 1986 abgelaufen war. Zwar ist die rückwirkende Rücknahme einer den Kläger begünstigenden Berechnung durch § 48 Abs. 2 VwVfG nicht ausgeschlossen, sie kommt aber, wenn nicht ein in § 48 Abs. 2 Satz4 VwVfG genannter Fall gegeben ist, nur ausnahmsweise in Betracht (Senatsurteil in BFHE 164, 141, 147). Ist ein solcher Fall nicht gegeben, so ist bei der vorzunehmenden Interessenabwägung insbesondere § 48 Abs. 2 Satz 2 VwVfG zu beachten.

In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, daß auch der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) grundsätzlich den Schutz berechtigten Vertrauens anerkannt hat. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den hier einschlägigen § 48 Abs. 2 VwVfG hat er entschieden, daß das Gemeinschaftsrecht bei Rückforderung von zu Unrecht gewährten Leistungen nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, die auf einen Vertrauensschutz oder den Grundsatz des Wegfalls der ungerechtfertigten Bereicherung abstellen, soweit das Interesse der Gemeinschaft voll berücksichtigt wird (Urteil vom 21. September 1983 Rs. 205 bis 215/82, EuGHE 1983, 2633, 2669). Aus der Forderung, daß das Gemeinschaftsinteresse voll zu berücksichtigen ist, kann nicht gefolgert werden, daß das Gemeinschaftsinteresse immer Vorrang vor dem des Betroffenen haben müßte. Vielmehr ist unter den genannten Gesichtspunkten eine Abwägung zwischen den Interessen der Gemeinschaft und denen des Begünstigten - mit dem Ergebnis, daß im Einzelfall das berechtigte Vertrauen des Begünstigten zu schützen ist - durchaus als zulässig anzusehen, weil andernfalls die Gewährung des vom EuGH anerkannten Vertrauensschutzes praktisch ausgeschlossen wäre. Die Zulässigkeit einer solchen Interessenabwägung hat der EuGH für Fälle anerkannt, in denen sich der Begünstigte ausnahmsweise auf Umstände berufen kann, aufgrund deren sein Vertrauen zu schützen ist. Es ist Aufgabe des nationalen Gerichts, diese Umstände im Einzelfall zu würdigen (vgl. EuGH-Urteil vom 20. September 1990 Rs. C-5/89, EuGHE 1990, I-3453, 3457).

Das FG wird die fehlenden Feststellungen nachzuholen und auf deren Grundlage eine Abwägung der Gemeinschaftsinteressen mit denen des Klägers vorzunehmen haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 419433

BFH/NV 1994, 512

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