Nichtanwendungserlass zu dieser Entscheidung

 

Entscheidungsstichwort (Thema)

Nachträgliches Bekanntwerden neuer Tatsachen nach einer Lohnsteuer-Außenprüfung

 

Leitsatz (amtlich)

Hat das FA dem Arbeitgeber nach § 202 Abs.1 Satz 3 AO 1977 mitteilt, daß die Lohnsteuer-Außenprüfung nicht zu einer Änderung der Besteuerungsgrundlagen geführt hat, so ist es nach § 173 Abs.2 Satz 2 AO 1977 gehindert, beim nachträglichen Bekanntwerden neuer Tatsachen erstmals Lohnsteuer-Haftungs- oder Lohnsteuer-Nachforderungsbescheide bezüglich dieses Prüfungszeitraums zu erlassen.

 

Orientierungssatz

Eine Mitteilung nach § 202 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 darf nur ergehen, wenn die Lohnsteuer-Außenprüfung zu "keiner" Änderung der Besteuerungsgrundlagen geführt hat. Im Erlaß von Lohnsteuer-Haftungsbescheiden und Lohnsteuer-Nachforderungsbescheiden kann daher auch keine stillschweigende Mitteilung nach § 202 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 in dem Sinne erblickt werden, die Prüfung habe "im übrigen" zu keiner Änderung der Besteuerungsgrundlagen geführt (entgegen Literatur). Ob der erkennende Senat sich der BFH-Entscheidung vom 29.4.1987 I R 118/83 anschließen könnte, wonach die Mitteilung nach § 202 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 kein Verwaltungsakt sein soll, konnte im Streitfall dahingestellt bleiben.

 

Normenkette

AO 1977 §§ 164, 168, 173 Abs. 2 S. 2, § 202 Abs. 1 S. 3, § 118

 

Verfahrensgang

FG Hamburg (Entscheidung vom 19.11.1985; Aktenzeichen II 156/83)

 

Tatbestand

Am 3.April 1979 ordnete der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) bei der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) eine Lohnsteuer-Außenprüfung für die Jahre 1974 bis 1979 an. Nach Abschluß der Prüfung teilte das FA der Klägerin mit Schreiben vom 15.Mai 1979 nach § 202 Abs.1 Satz 3 der Abgabenordnung (AO 1977) mit, daß die Lohnsteuer-Außenprüfung zu keiner Änderung der Besteuerungsgrundlagen geführt habe. Das FA unterließ es allerdings, den Vorbehalt der Nachprüfung bei den von der Klägerin für die Zeit von Januar 1974 bis Februar 1979 eingereichten Lohnsteuer-Anmeldungen aufzuheben.

Im September 1980 wurde im Rahmen einer bei der Klägerin durchgeführten Betriebsprüfung festgestellt, daß sie im Oktober 1977 für einige ihrer Arbeitnehmer eine Auslandsreise veranstaltet und die unentgeltlichen Zuwendungen hierfür nicht lohnversteuert hatte. Die Kosten waren auf dem Konto "Werbekosten Betriebsmotivation" verbucht worden. Sie waren nach einem Vermerk des Betriebsprüfers bei der vorangegangenen Lohnsteuer-Außenprüfung nicht geprüft worden, da sich diese auf die Lohn- und Gehaltskonten beschränkt habe.

Das FA ordnete daraufhin am 12.August 1981 erneut eine Lohnsteuer-Außenprüfung bei der Klägerin an. Der Umfang dieser Prüfung wurde u.a. auf die Zuwendungen im Zusammenhang mit der Auslandsreise beschränkt. Die für die Teilnehmer aufgewendeten Reisekosten wurden als Arbeitslohn angesehen. Das FA erließ deshalb am 30.Oktober 1981 einen Lohnsteuer-Nachforderungsbescheid, in dem es zugleich den Vorbehalt der Nachprüfung der Lohnsteueranmeldungen für die Zeit vom 1.Januar 1977 bis 28.Februar 1979 aufhob. Den vorstehenden Betrag ermittelte es mit Zustimmung der Klägerin nach § 40 Abs.1 Nr.2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) pauschal unter Zugrundelegung eines Nettosteuersatzes.

Der Einspruch hatte nur insoweit Erfolg, als das FA in der Einspruchsentscheidung den Nachforderungsbetrag 1977 unter Anwendung eines Bruttosteuersatzes ermäßigte.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage aus den in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1986, 362 wiedergegebenen Gründen ab. Es meinte, das FA habe den angefochtenen Nachforderungsbescheid zu Recht erlassen. Der Nachforderung stehe die Änderungssperre des § 173 Abs.2 AO 1977 nicht entgegen. Die Lohnsteuer-Voranmeldung für den Monat Oktober 1977 habe nach § 168 Satz 1 AO 1977 einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleichgestanden. Sie habe durch den Nachforderungsbescheid vom 30.Oktober 1981 nach § 164 Abs.2 Satz 1 AO 1977 geändert werden können, da der Vorbehalt der Nachprüfung zu diesem Zeitpunkt noch wirksam gewesen sei. Das FA sei nicht gehindert gewesen, trotz der vorangegangenen Mitteilung nach § 202 Abs.1 Satz 3 AO 1977 von dem (nicht aufgehobenen) Nachprüfungsvorbehalt Gebrauch zu machen.

Mit der Revision macht die Klägerin geltend, die Änderung der Lohnsteuer-Anmeldung für den Monat Oktober 1977 durch den Lohnsteuer-Nachforderungsbescheid sei nach § 173 Abs.2 AO 1977 unzulässig gewesen. Die Vorschrift schließe auch eine Änderung in den Fällen des § 164 Abs.2 AO 1977 aus, in denen ―wie im Streitfall― der Vorbehalt der Nachprüfung zwar noch wirksam sei, eine abschließende Lohnsteuer-Außenprüfung jedoch bei ihr als Arbeitgeberin stattgefunden habe. Dann bestehe nämlich kein Bedürfnis mehr, den Steuerfall weiter offenzuhalten. Eine andere Entscheidung würde dem Sinn und Zweck des § 173 Abs.2 AO 1977 widersprechen, den Rechtsfrieden herzustellen. Es könne dahinstehen, ob der Nachforderungsbescheid, obwohl der Vorbehalt der Nachprüfung nach Abschluß der ersten Lohnsteuer-Außenprüfung entgegen dem eindeutigen Wortlaut des § 164 Abs.3 Satz 3 AO 1977 nicht aufgehoben worden sei, wirksam habe erlassen werden können.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin führt zur ersatzlosen Aufhebung der Vorentscheidung und des Lohnsteuer-Nachforderungsbescheids betreffend die Lohnsteuer-Nachforderung 1977 vom 30.Oktober 1981 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 6.Juni 1983.

Es kann im Streitfall dahingestellt bleiben, ob ein Lohnsteuer-Nachforderungsbescheid eine Änderung der in den Lohnsteuer-Anmeldungen des betreffenden Anmeldungszeitraums liegenden Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung (§ 168 Satz 1 AO 1977) bewirkt und ob einer solchen Änderung die Sperre des § 173 Abs.2 AO 1977 deshalb entgegenstehen könnte, weil das FA unter Verletzung der Grundsätze von Treu und Glauben es unterlassen hat, den Vorbehalt der Nachprüfung bei den vorgenannten Steuerfestsetzungen nach Beendigung der Lohnsteuer-Außenprüfung im Jahr 1979 gemäß § 164 Abs.3 Satz 3 AO 1977 aufzuheben. Denn der angefochtene Lohnsteuer-Nachforderungsbescheid vom 30.Oktober 1981 durfte unabhängig von diesen Umständen jedenfalls deshalb nicht nach § 173 Abs.2 Satz 2 AO 1977 ergehen, weil das FA der Klägerin nach Beendigung der ersten Lohnsteuer-Außenprüfung nach § 202 Abs.1 Satz 3 AO 1977 mitgeteilt hatte, daß diese Prüfung zu keiner Änderung der Besteuerungsgrundlagen geführt hat.

Im Streitfall betraf die zweite, im Jahr 1981 bei der Klägerin durchgeführte Lohnsteuer-Außenprüfung bezüglich des Monats Oktober 1977 denselben Prüfungszeitraum wie die erste Lohnsteuer-Außenprüfung im Jahr 1979, da sich letztere auf die Jahre 1974 bis Februar 1979 erstreckte, also den Monat Oktober 1977 miterfaßte. Die erste Lohnsteuer-Außenprüfung führte zu keiner Änderung der Besteuerungsgrundlagen; dies wurde der Klägerin mit Schreiben des FA vom 15.Mai 1979 nach § 202 Abs.1 Satz 3 AO 1977 mitgeteilt.

Es kann im Streitfall dahingestellt bleiben, ob der erkennende Senat sich der Entscheidung des I.Senats des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 29.April 1987 I R 118/83 (BFHE 149, 508, BStBl II 1988, 168) anschließen könnte, wonach eine Mitteilung i.S. des § 202 Abs.1 Satz 3 AO 1977 kein Verwaltungsakt sein soll. Auf diese Frage kommt es im Streitfall nicht an, weil hier nur zu untersuchen ist, welche Wirkung eine solche Mitteilung im Rahmen des § 173 Abs.2 AO 1977 entfaltet.

Nach Satz 1 dieser Vorschrift können Steuerbescheide, die aufgrund einer Außenprüfung ergangen sind und bei denen die Voraussetzungen zu ihrer Änderung nach § 173 Abs.1 AO 1977 an sich vorliegen, nur aufgehoben oder geändert werden, wenn eine Steuerhinterziehung oder eine leichtfertige Steuerverkürzung vorliegt. Das gilt nach Satz 2 dieser Vorschrift auch in den Fällen, in denen eine Mitteilung nach § 202 Abs.1 Satz 3 AO 1977 ergangen ist.

Der Senat sieht in der letztgenannten Vorschrift eine allgemeine Änderungssperre in dem Sinne, daß bezüglich des Prüfungszeitraums der Außenprüfung, die zu keiner Änderung der Besteuerungsgrundlagen geführt hat, weder bereits vor Beginn der Prüfung vorhandene Steuerbescheide nachträglich geändert noch neue Steuerbescheide erstmals erlassen werden dürfen. Denn nur eine solche Auslegung des § 173 Abs.2 Satz 2 i.V.m. § 202 Abs.1 Satz 3 AO 1977 wird dem Sinn und Zweck der Vorschriften gerecht, die in erster Linie dem Schutz der Steuerpflichtigen dienen sollen. Dieser soll nach Durchführung und Auswertung einer Außenprüfung vor Steuernachforderungen aufgrund neuer Tatsachen sicher sein (vgl. Klein/Orlopp, Kommentar zur Abgabenordnung, 4.Aufl., 1989, § 173 Anm.18).

Der Senat sieht in seiner Entscheidung keinen Widerspruch zu dem genannten Urteil des I.Senats des BFH in BFHE 149, 508, BStBl II 1988, 168. Denn dessen Entscheidung ist zu einem anderen Sachverhalt ergangen. Dort handelte es sich um die Frage, ob eine Mitteilung nach § 202 Abs.1 Satz 3 AO 1977 der Änderung eines Steuerbescheids nach § 164 Abs.2 AO 1977 entgegensteht, was der I.Senat verneinte. Der erkennende Senat ist daher nicht an die Ausführungen des I.Senats im vorgenannten Urteil zu Abschnitt II a) der Entscheidungsgründe gebunden, wonach die in § 173 Abs.2 Satz 2 AO 1977 getroffene Regelung "nach dem klaren Wortlaut der Vorschrift nur auf beabsichtigte Änderungen i.S. des § 173 Abs.1 AO 1977 Anwendung" findet.

Aus den Vorschriften der AO 1977 sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, daß eine solche Änderungssperre nicht eingreift, wenn neue Tatsachen ―wie hier durch eine zweite Lohnsteuer-Außenprüfung― bekannt werden, die in denselben Prüfungszeitraum fallen, aber einen lohnsteuerrechtlich relevanten Sachverhalt betreffen, den der erste Lohnsteuer-Außenprüfer nicht gesehen hat oder nicht hat erkennen können. Eine auf nur geprüfte Sachverhalte beschränkte Wirkung einer Mitteilung nach § 202 Abs.1 Satz 3 AO 1977 würde den vom Gesetzgeber in § 173 Abs.2 Satz 2 AO 1977 gewollten Schutz des Steuerpflichtigen vor Steuernachforderungen aufgrund neuer Tatsachen erheblich beeinträchtigen. Es würde dies zudem in der Praxis zu erheblichen Auseinandersetzungen zwischen Steuerpflichtigen und FA führen, da gerade in den Fällen, in denen eine solche Mitteilung ergeht, nach § 202 Abs.1 Satz 3 AO 1977 ein Prüfungsbericht nicht zu ergehen braucht, allenfalls sich aber in der Regel nur auf wenige Angaben über die Prüfung bestimmter Sachverhalte beschränken wird.

Die Entscheidung des Senats steht nicht im Widerspruch zu seinen Urteilen vom 30.August 1988 VI R 21/85 (BFHE 155, 68, BStBl II 1989, 193) und vom 21.Juni 1989 VI R 31/86 (BFHE 157, 377, BStBl II 1989, 909). In beiden Entscheidungen hat der Senat betont, daß Lohnsteuer-Nachforderungsbescheide und Lohnsteuer-Haftungsbescheide sachverhaltsbezogen sind, da die zu verschiedenen Zeiten und aufgrund verschiedener Tatumstände entstandenen Steuer- bzw. Haftungsschulden zu verschiedenen Nachforderungs- bzw. Haftungsfällen führen, die lediglich aus praktischen Gründen in einem ―mehrere Sachverhalte betreffenden― Sammelbescheid zusammengefaßt sind. Daher ist nach dem Urteil des Senats in BFHE 155, 68, BStBl II 1989, 193 auch nach Ergehen eines Lohnsteuer-Haftungsbescheids, in dem für einen bestimmten Zeitraum die Lohnsteuer für mehrere Arbeitnehmer pauschaliert und vom Arbeitgeber nachgefordert worden ist, es nicht ausgeschlossen, für denselben Zeitraum einen weiteren Lohnsteuer-Nachforderungs- und Pauschalierungsbescheid zu erlassen, der andere Arbeitnehmer betrifft. Nach dem Urteil in BFHE 157, 377, BStBl II 1989, 909 gilt das Gleiche, wenn der aufgrund einer erneuten Außenprüfung festgestellte Sachverhalt zwar dieselben Arbeitnehmer wie ein vorhergehender Lohnsteuer-Nachforderungs- oder Haftungsbescheid betrifft, aber einen anderen Zeitraum.

In beiden Entscheidungen hat der Senat es ausdrücklich abgelehnt, in Lohnsteuer-Nachforderungs- bzw. Lohnsteuer-Haftungsbescheiden, die aufgrund früherer Lohnsteuer-Außenprüfungen ergangen sind, die konkludente Zusage des FA zu sehen, daß es hinsichtlich desselben Prüfungszeitraums wegen anderer Sachverhalte keine weiteren Lohnsteuer-Nachforderungs- bzw. Haftungsbescheide gegen den Arbeitgeber erlassen werde. Im Urteil in BFHE 157, 377, BStBl II 1989, 909 ist der Senat auch nicht der Auffassung des FG in der Vorentscheidung gefolgt, aufgrund einer Lohnsteuer-Prüfung ergangene Haftungsbescheide träfen insoweit eine negative Feststellung, daß für weitere nicht der Lohnsteuer unterworfene geldwerte Vorteile aus den Arbeitsverhältnissen keine Nachversteuerung durchzuführen sei (vgl. auch v. Bornhaupt, Betriebs-Berater ―BB― 1990, Beilage 1 zu Heft Nr.1, S.15/16).

Beide vorgenannten Urteile des Senats betreffen nicht Mitteilungen nach § 202 Abs.1 Satz 3 AO 1977, da solche nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes nur ergehen können, wenn die Außenprüfung zu "keiner" Änderung der Besteuerungsgrundlagen geführt hat. Es kann daher im Erlaß von Lohnsteuer-Haftungs- und Lohnsteuer-Nachforderungsbescheiden auch keine stillschweigende Mitteilung nach § 202 Abs.1 Satz 3 AO 1977 in dem Sinne erblickt werden, die Prüfung habe "im übrigen" zu keiner Änderung der Besteuerungsgrundlagen geführt (anderer Ansicht Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13.Aufl., § 202 AO 1977 Tz.6; Koch, Kommentar zur Abgabenordnung, 3.Aufl., § 173 Rdnr.31; Doman, BB 1979, 516). Von dieser Rechtsansicht ist der Senat inzidenter bereits in den beiden vorgenannten Entscheidungen ausgegangen; denn sonst wäre er jeweils zu einem anderen Ergebnis gelangt.

Die Vorentscheidung ist aufzuheben, da sich das FG von anderen Rechtsgrundsätzen hat leiten lassen. Die Sache ist entscheidungsreif. Im Hinblick darauf, daß der angefochtene Lohnsteuer-Nachforderungsbescheid vom 30.Oktober 1981 wegen der Änderungssperre des § 173 Abs.2 Satz 2 AO 1977 nicht hat ergehen dürfen, sind er und die Einspruchsentscheidung des FA vom 6.Juni 1983 in bezug auf die Lohnsteuer-Nachforderung 1977 ersatzlos aufzuheben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 63134

BFH/NV 1990, 81

BStBl II 1991, 537

BFHE 161, 539

BFHE 1991, 539

BB 1991, 680

BB 1991, 680-682 (LT1)

DB 1990, 2453-2454 (LT1)

HFR 1991, 65 (LT)

StE 1990, 423 (K)

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