Entscheidungsstichwort (Thema)

Zu den Voraussetzungen der Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977

 

Leitsatz (NV)

1. Das Finanzamt ist wegen Treu und Glauben nicht zur Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 befugt, wenn es Ermittlungen nicht angestellt hat, die sich ihm zur Aufklärung des Sachverhalts aufgedrängt haben.

2. Ein Verwertungsverbot bzgl. einer von einem Betriebsprüfer/Außenprüfer gewonnenen Erkenntnis setzt voraus, daß die Prüfungsmaßnahme, durch die die Erkenntnis gewonnen wurde, fehlerhaft war und diese Fehlerhaftigkeit vom Steuerpflichtigen ehestmöglich geltend gemacht wurde.

 

Normenkette

GG Art. 13; AO § 162 Abs. 10 S. 2, Abs. 2 S. 1, § 204 ff., § 210; AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 1, § 194 Abs. 3, § § 88 ff., § 155

 

Verfahrensgang

FG Rheinland-Pfalz

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) wohnt mit seiner Ehefrau in A. Seine Ehefrau betrieb in M ein Lebensmittelgeschäft. Der Kläger erzielte in den Streitjahren als Angestellter seiner Ehefrau Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Außerdem erklärte der Kläger als Eigentümer eines bebauten Grundstücks in L für 1971 und 1972 Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung. Dieses Grundstück ist auf ihn durch Übergabevertrag vom 1. Oktober 1970 von seiner Mutter gegen Einräumung eines lebenslänglichen Nießbrauchsrechts an 2/5 des Gebäudes übergegangen. Der jährliche Wert des Nießbrauchs wurde mit 12 000 DM beziffert. Das Gebäude wurde im Jahre 1971 vom Eigentümer aufgestockt und im eigenen Namen vermietet. Mit Zusatzvertrag vom 2. Januar 1971 wurde vereinbart, daß die Mutter des Klägers von allen Belangen des Grundstücks gegen Zahlung einer lebenslänglichen Rente von monatlich 1 000 DM, die den jeweiligen wirtschaftlichen Verhältnissen anzupassen ist, entbunden wird. Der Kläger gab die Zahlungen an die Mutter in den Einkommensteuererklärungen 1971 und 1972 in voller Höhe als bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung abziehbar an. In den Anlagen ,,V" heißt es jeweils: ,,./. Nießbrauch lt. Zusatzvertrag . . . ./. . . . DM." Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) ist dem bei den erstmaligen (Zusammen-) Veranlagungen 1971 und 1972 gefolgt.

Die für die Ermittlung der Verhältnisse des Betriebs der Ehefrau zuständige Betriebsprüfungsstelle des FA M hat mit Verfügung vom 3. Juli 1974 eine Betriebsprüfung bezüglich Einkommensteuer, Gewinnfeststellungen, Gewerbesteuer und Umsatzsteuer 1970 bis 1972 bzw. Einheitswert des Betriebsvermögens auf den 1. Januar 1969 bis 1. Januar 1972 beim Betrieb der Ehefrau des Klägers angeordnet. In dem dem FA auszugsweise übersandten Bericht über die Betriebsprüfung vertrat der Prüfer die Auffassung, daß die bei den Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit geltend gemachten Werbungskosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte und Verpflegungsmehraufwendungen zu versagen und lediglich der Werbungskostenpauschalbetrag gemäß § 9 a Satz 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zu gewähren sei. Bezüglich der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung aus dem Anwesen in L stellte sich der Prüfer auf den Standpunkt, daß die Zahlungen des Klägers Rentenzahlungen darstellten, die lediglich als Sonderausgaben mit dem Ertragsanteil anstatt in voller Höhe als Werbungskosten bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung abziehbar seien. Das FA folgte dem und erließ nach § 222 der Reichsabgabenordnung (AO) berichtigte Einkommensteuerbescheide für 1971 und 1972.

Die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage hatte Erfolg. In seinem in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1982, 333 veröffentlichten Urteil stellte das Finanzgericht (FG) im wesentlichen darauf ab, daß die den Kläger betreffenden Prüfungsergebnisse aufgrund einer Erstreckung der Prüfung auf den Kläger ohne Prüfungsanordnung gewonnen worden seien und deshalb nicht verwertet werden dürften. . . .

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Die tatsächlichen Feststellungen des FG lassen eine abschließende Entscheidung, insbesondere der Frage, ob das FA zur Änderung der Einkommensteuerbescheide für 1971 und 1972 befugt war, nicht zu.

1. Die hier zu entscheidende Frage, ob die Voraussetzungen zur Änderung der Einkommensteuerbescheide 1971 und 1972 gegeben waren, richtet sich nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977), weil die Einspruchsentscheidung während des zeitlichen Geltungsbereichs der AO 1977 erlassen wurde (Art. 97 §§ 1, 9 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung vom 14. Dezember 1976 - EGAO 1977 -, BGBl I, 3341, 1977, 667, BStBl I, 694; Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 10. Februar 1982 I R 190/78, BFHE 135, 396, BStBl II 1982, 682).

Eine Änderungsbefugnis des FA würde nicht bereits an dem Grundsatz von Treu und Glauben scheitern. Zwar hat die Rechtsprechung des BFH zu § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 im Anschluß an die Rechtsprechung zu § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO die Änderungsbefugnis unter Berufung auf den Grundsatz von Treu und Glauben dann abgelehnt, wenn dem FA Tatsachen und Beweismittel nur deshalb nachträglich bekanntgeworden sind, weil es Ermittlungen, die sich ihm zur Aufklärung des Sachverhalts aufgedrängt haben, nicht angestellt hat (Urteil vom 13. November 1985 II R 208/82, BFHE 145, 487, BStBl II 1986, 241). Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor. Denn aus der in den Anlagen ,,V" zu den Einkommensteuererklärungen 1971 und 1972 jeweils enthaltenen Wendung ,,Nießbrauch lt. Zusatzvertrag . . ." ist gerade nicht zu entnehmen, daß der Zusatzvertrag die Nießbrauchsvereinbarung in ihrem Kern abgelöst haben könnte. Ob dem FA nachträglich Tatsachen oder Beweismittel i. S. von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 bekanntgeworden sind, die es zur Änderung in dem vom Kläger beanstandeten Umfang berechtigten, kann der Senat mangels tatsächlicher Feststellungen des FG hierzu nicht beurteilen.

2. Der Senat sieht sich außerstande, die Vorentscheidung unter dem Gesichtspunkt eines Verwertungsverbots wegen Verletzung des Art. 13 GG zu bestätigen. Die Prüfung in Geschäftsräumen eines Steuerpflichtigen verletzt grundsätzlich nicht dessen Grundrecht aus Art. 13 GG. Dies hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bereits in seinem Beschluß vom 13. Oktober 1971 1 BvR 280/66 (BVerfGE 32, 54, 73 ff.) im einzelnen ausgeführt. Der erkennende Senat verweist darauf und schließt sich dem an.

3. Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben, weil die vom FG getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht die Entscheidung rechtfertigen, daß die Erkenntnisse des Betriebsprüfers in den Berichtigungsbescheiden nicht verwertet werden durften. Die Ausführungen des FG lassen nicht erkennen, a) welcher Rechtsnatur die Prüfungsmaßnahme des Prüfers gewesen ist, und b) ob er sich dabei auf einen Verwaltungsakt stützte.

Die rechtliche Beurteilung der Durchführung der Betriebsprüfung bzw. der Maßnahmen des Betriebsprüfers richtet sich nach den Vorschriften der AO. Denn nach § 1 EGAO 1977 wurden nur solche Verfahren nach den Vorschriften der AO 1977 zu Ende geführt, die am 1. Januar 1977 anhängig gewesen sind. Das Prüfungsverfahren war schon vor dem 1. Januar 1977 abgeschlossen.

a) Der Prüfer konnte seine Prüfungsbefugnis bezüglich des Klägers nicht schon aus dem die Ehefrau des Klägers betreffenden Prüfungsauftrag herleiten. Nach § 162 Abs. 10 Satz 2 AO war zwar die Prüfung auch insoweit zulässig, als es sich nicht um Verhältnisse der Personen oder Unternehmen, deren Bücher geprüft wurden, sondern um die Aufklärung der Verhältnisse von Arbeitnehmern handelt, die im Dienste der Personen oder Unternehmen gestanden haben oder stehen. Der Senat versteht den nicht eindeutigen Begriff ,,Verhältnisse" i. S. von § 162 Abs. 10 Satz 2 AO (dazu z. B. BFH-Urteil vom 12. Dezember 1972 VIII R 65/68, BFHE 109, 100, BStBl II 1973, 570) nicht anders, als er nunmehr in § 194 Abs. 1 Satz 4 AO 1977 verdeutlicht ist. Danach kommen diejenigen Verhältnisse in Betracht, die zu Steueransprüchen aus dem Arbeitsverhältnis führen (BFHE 109, 100, BStBl II 1973, 570; BFH-Urteil vom 24. April 1979 VIII R 64/77, BFHE 128, 139, BStBl II 1979, 744; Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung, 7. Aufl., § 162 A. 17; vgl. zu § 194 Abs. 1 Satz 4 AO 1977 auch Giesberts, Die steuerliche Betriebs- und Außenprüfung, 2. Aufl., 1981, Tz. 66; Frotscher, Die steuerliche Außenprüfung, 2. Aufl., 1980, 48); deshalb sind die Feststellungen des Prüfers zu den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung des Klägers nicht durch § 162 Abs. 10 Satz 2 AO gedeckt.

Die Gewinnung von Tatsachen und Beweismitteln durch den Betriebsprüfer/Außenprüfer kann auch in anderer Weise als im Rahmen einer Betriebsprüfung/Außenprüfung zulässig sein (zur grundsätzlichen Gleichstellung von Betriebsprüfung und Außenprüfung Urteil in BFHE 135, 396, BStBl II 1982, 682).

So ist im zeitlichen Geltungsbereich der AO im Rahmen der Steueraufsicht eine Nachschau - abgesehen von den Fällen des § 160 Abs. 2 AO - bei Unternehmern im Sinne des Umsatzsteuergesetzes (UStG) statthaft gewesen (§ 193 Abs. 1 AO; zum Unternehmerbegriff Urteil des Reichsfinanzhofs - RFH - vom 23. November 1932 IV A 51/32, RStBl 1932, 1151). Dazu gehört auch der Vermieter unbeweglicher Gegenstände (vgl. z. B. BFH-Urteile vom 16. Dezember 1971 V R 41/68, BFHE 104, 262, BStBl II 1972, 238; vom 14. Oktober 1975 VII R 131/73, BFHE 117, 201, BStBl II 1976, 233; Beschluß des FG Düsseldorf vom 28. Februar 1961 VI B 5/59, EFG 1961, 467; s. auch List in Sölch/Ringleb/List, Umsatzsteuergesetz, § 4 Nr. 12 Tz. 5 ff.).

Zu berüchsichtigen ist ggf. die Zulässigkeit der Verwertung von anläßlich der Betriebsprüfung gewonnenen Erkenntnisse über die steuerlichen Verhältnisse anderer Personen als des Geprüften, wenn die Prüfung nicht nur der Erforschung von Verhältnissen Dritter oder der systematischen bzw. planmäßigen Suche nach Kontrollmaterial gedient hat (vgl. zum Rechtszustand nach der AO schon RFH-Gutachten vom 9. Mai 1928 I D 2/28, RFHE 24, I; RFH-Urteile vom 6. Juli 1932 IV A 144/32, RStBl 1932, 685; vom 28. Oktober 1932 V A 790/32, RStBl 1932, 1045; s. auch § 16 der Betriebsprüfungsordnung (Steuer) vom 23. Dezember 1965 - BpO (ST) -, BStBl I 1966, 46). Diese Befugnis ist nunmehr in § 194 Abs. 3 AO 1977 Gesetz geworden (vgl. Begründung zu § 194 Abs. 3 Entwurf einer Abgabenordnung 1974, BTDrucks 7/4292; zum Umfang Urteil in BFHE 140, 505, BStBl II 1984, 512).

Schließlich hat die Rechtsprechung des BFH auch anerkannt, daß der Prüfer anläßlich der Betriebsprüfung/Außenprüfung unter bestimmten Voraussetzungen auch sonstige Einzelermittlungen i. S. der §§ 204 ff. AO, §§ 88 ff. AO 1977 abgegrenzt von der Prüfung anstellen kann (Urteil in BFHE 140, 518, BStBl II 1984, 790; zum Verwertungsverbot bei Auskunftsersuchen z. B. Urteil vom 9. November 1984 VI R 157/83, BFHE 142, 402, BStBl II 1985, 191).

b) Die Meinungen darüber, wann Fehler bei Ermittlung des Sachverhalts durch Finanzbehörden zu einem Verwertungsverbot führen, sind geteilt (z. B. die Darstellung in Tipke/Kruse, a.a.O., § 162 A. 20 b; dieselben, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 88 AO 1977 Tz. 7, § 196 AO 1977 Tz. 7). Die Rechtsprechung des BfH zur AO bzw. AO 1977 unterscheidet einheitlich danach, ob die Aufklärung aufgrund eines Verwaltungsakts erfolgt ist oder nicht.

Ist ein solcher Verwaltungsakt wirksam geworden, ist eine Verwertung der aufgrund dieses Verwaltungsakts ermittelten Tatsachen und Beweismittel in einem Steuerbescheid nur dann unzulässig, wenn verbindlich feststeht, daß dieser Verwaltungsakt rechtswidrig ist (zur Anordnung einer Betriebsprüfung bzw. Außenprüfung BFH-Urteile vom 7. Juni 1973 V R 64/72, BFHE 109, 500, BStBl II 1973, 716; vom 30. Oktober 1974 I R 40/72, BFHE 114, 85, BStBl II 1975, 232; vom 9. Mai 1978 VII R 96/75, BFHE 125, 144, BStBl II 1978, 501; vom 27. Juli 1983 I R 210/79, BFHE 139, 221, BStBl II 1984, 285; vom 9. Mai 1985 IV R 172/83, BFHE 143, 506, BStBl II 1985, 580).

Fehlt ein solcher Verwaltungsakt, kann der Steuerpflichtige seine Rechte im Rahmen eines Rechtsbehelfsverfahrens gegen die Steuerfestsetzung (§ 210 AO bzw. § 155 AO 1977) wahrnehmen (vgl. z. B. BFH-Urteile in BFHE 139, 221, BStBl II 1984, 285; vom 14. August 1985 I R 188/82, BFHE 144, 339, BStBl II 1986, 2).

4. Die Sache geht an das FG zurück, damit es die nach den vorstehenden Ausführungen erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nachholt.

 

Fundstellen

Haufe-Index 423352

BFH/NV 1986, 713

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