Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit; Darlegung der Fristenkontrolle; Aussetzung des Verfahrens wegen eines Änderungsbescheids

 

Leitsatz (NV)

1. Wird ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand damit begründet, daß der Prozeßbevollmächtigte des Steuerpflichtigen die Frist zur Klageerhebung infolge einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit versäumt habe, so reicht es für die Glaubhaftmachung (§ 56 Abs. 2 S. 2 FGO) nicht aus, wenn die befragten Ärzte lediglich die Möglichkeit einer solchen Störung bejahen. Eine Pflicht zur Aufklärung von Amts wegen (§ 76 FGO) besteht für das FG grds. nicht.

2. Zur Entschuldigung von Fehlern bei der Fristenkontrolle gehört auch die Darlegung, wie die Fristen kontrolliert werden.

3. Die im Beschluß des Großen Senats des BFH v. 25. 10. 1972 GrS 1/72 (BFHE 108, 1, BStBl II 1973, 231) ausgesprochene Regel, wonach das Verfahren über den ursprünglichen Bescheid bis zum Abschluß des Verfahrens über den Berichtigungsbescheid auszusetzen ist, gilt nicht, wenn die Klage gegen den ursprünglichen Bescheid unzulässig ist.

 

Normenkette

FGO §§ 56, 74, 76

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches FG

 

Tatbestand

Die Einspruchsentscheidungen des Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) wurden dem Prozeßbevollmächtigten der Kläger und Revisionskläger (Kläger) am 11. Februar 1983 mit Empfangsbekenntnis zugestellt. Die Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion (OFD), mit der ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung sowohl der Einkommensteuer 1978 als auch 1979 abgelehnt worden war, wurde am 3. März 1983 zugestellt.

Die Klageschriften vom 28. April 1983 gingen erst am 29. April 1983 beim FA ein und waren somit verspätet. Mit den gleichzeitig mit den Klagen eingereichten Schriftsätzen vom 28. April 1983 begründeten die Kläger ihre Anträge auf Wiedereinsetzung wie folgt: In der Zeit vom 2. März 1983 bis zum 18. März 1983 sei ihr Prozeßbevollmächtigter an Grippe erkrankt gewesen. Auch in dieser Zeit habe er das Büro zeitweise aufgesucht, um dringende Angelegenheiten zu erledigen. Am 4. März 1983 seien ihm die Einspruchsentscheidungen und die Beschwerdeentscheidung vorgelegt worden. Er habe sich vorgenommen, sofort nicht nur gegen die Einspruchsentscheidungen, sondern auch gegen die Beschwerdeentscheidung Klage zu erheben und sei der festen Meinung gewesen, dieses Vorhaben auch ausgeführt zu haben. Aus diesem Grunde habe er auch Anweisung gegeben, die ihm wegen der Klagefrist bezüglich der Beschwerdeentscheidung am 28. März 1983 erneut vorgelegten Akten wieder abzulegen. Erst auf eine Nachfrage des Klägers am 18. April 1983 habe er seinen Irrtum bemerkt. Sowohl die Befragung der Angestellten als auch die Durchsicht der Akten hätten ergeben, daß er - entgegen seiner festen Überzeugung - die Klageschriften tatsächlich nicht gefertigt habe. Im Zusammenhang mit diesem für ihn unerklärlichen Vorfall seien ihm ähnliche Vorkommnisse im häuslichen Bereich bewußt geworden. Bei seinen Nachforschungen zur Aufklärung der Ursache für die Störung sei er auf einen möglichen Zusammenhang mit einer während seines Wehrdienstes im Jahre 1943 aufgetretenen Erkrankung gekommen, die schlagartig eintretenden Gedächtnisschwund zur Folge gehabt habe und sich dadurch geäußert habe, daß er der festen Meinung gewesen sei, etwas gesagt oder getan zu haben, dies aber tatsächlich nicht der Fall gewesen sei. Die behandelnden Ärzte hätten ihm damals erklärt, die Störungen könnten nach entsprechender Behandlung behoben werden, nicht ausgeschlossen sei dagegen, daß im Alter erneut gleiche Symptome auftreten könnten. Die Frage, ob sein Versagen bei Erhebung der Klage Spätfolgen der damaligen Erkrankung im Hinblick auf sein Alter von nunmehr 63 Jahren sein könnten, hätten die von ihm nunmehr konsultierten Ärzte bejaht, ohne dies allerdings absolut bestätigen zu können. Zur Glaubhaftmachung der geschilderten Tatsachen versichere er an Eides Statt, daß die Angaben der Wahrheit entsprächen. Ergänzend tragen die Kläger vor, ihr Prozeßbevollmächtigter habe angeordnet, daß bei der Fristenkontrolle auch die Erledigung und nicht nur die rechtzeitige Vorlage des Falles überwacht werde.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage als unzulässig ab. Die Kläger hätten die Klagefrist nicht ohne Verschulden versäumt. Ihr Prozeßbevollmächtigter sei bereits ein Risiko dadurch eingegangen, daß er trotz seiner Grippeerkrankung die Bearbeitung selbst erledigen habe wollen. Seine sonstigen geschäftlichen Angelegenheiten habe er - davon abgesehen - zufriedenstellend erledigt. Im Hinblick auf die ihm bekannte Möglichkeit des Auftretens der Störungen im Alter habe er Vorsorge treffen müssen. Sein Alter und eine gewisse nervliche Überlastung könnten die Fristversäumung im übrigen auch nicht entschuldigen. Außerdem habe schon die fehlerhafte Fristenkontrolle zur Fristversäumung geführt.

Mit ihrer Revision rügen die Kläger die Verletzung der §§ 56, 76 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Der Hinweis auf medizinische Indikationen und die eidesstattliche Versicherung seien zur Glaubhaftmachung als ausreichend anzusehen. Weitere Ermittlungen hätten dem FG oblegen. Auch bei einer Fristenüberwachung, bei der die Erledigung notiert werde, wäre aufgrund der Weisung des Prozeßbevollmächtigten vom 28. März, die Akten abzulegen, der Erledigungsvermerk eingetragen worden. In einem weiteren Schriftsatz beantragen die Kläger im Hinblick auf die Änderungsbescheide 1978 vom 20. Dezember 1983 und 1979 vom 2. April 1984, gegen die Einsprüche eingelegt worden seien, die Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung über diese Einsprüche auszusetzen.

Das FA beantragt, die Revisionen als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

I. Die Verfahren III R 208/84, 210/84 und 211/84 werden zu gemeinsamer Verhandlung und Entscheidung verbunden (§ 73 FGO).

II. Die Revisionen sind unbegründet.

Die Kläger haben ihre Klagen nicht innerhalb der gesetzlichen Frist (§ 47 FGO) erhoben.

Die begehrte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat das FG zu Recht versagt. Die Kläger haben nicht glaubhaft gemacht, daß ihr Prozeßbevollmächtigter, dessen Verschulden ihnen nach § 155 FGO i. V. m. § 85 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO) zuzurechnen ist, an der Versäumung der Klagefrist kein Verschulden trifft.

Als Grund für die - trotz rechtzeitiger Vorlage des Vorgangs - unterbliebene Abfassung der Klageschriften haben die Kläger eine krankhafte Bewußtseinsstörung ihres Prozeßbevollmächtigten genannt. Ob diese Angaben der Wiedereinsetzung schon deshalb entgegenstehen, weil der Prozeßbevollmächtigte, wie dies das FG unter Hinweis auf das Urteil des FG Nürnberg vom 11. Februar 1976 V 132/75 (Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1976, 242) annimmt, mit dem Eintritt der Störung habe rechnen müssen, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls fehlt es an dem in § 56 Abs. 2 Satz 2 FGO vorgeschriebenen Erfordernis der Glaubhaftmachung. Zur Glaubhaftmachung ist nicht die Vermittlung überzeugender Wahrscheinlichkeit (Vollbeweis) erforderlich; es genügt das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit. Dabei kann sich der Prozeßbeteiligte, der die Wiedereinsetzung begehrt, aller Mittel des Beweises, auch der Versicherung an Eides Statt, bedienen. Erforderlich ist allerdings das Angebot sog. präsenter Beweismittel, d. h. solcher Beweismittel, aufgrund deren der Beweis sofort und unmittelbar erhoben werden kann (§ 155 FGO i. V. m. § 294 ZPO; vgl. auch Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 24. Januar 1963 II 49/59, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1963, 224). Ein bloßes Anerbieten zur Glaubhaftmachung - also beispielsweise zur Einholung eines Sachverständigengutachtens durch das Gericht - ist nicht ausreichend (Baumbach / Lauterbach / Albers / Hartmann, Zivilprozeßordnung, 44. Aufl., § 294 Anm. 4).

Allein mit dem vom Prozeßbevollmächtigten der Kläger - eidesstattlich versicherten - Irrtum hinsichtlich der Erledigung des Vorgangs ist der vorgebrachte Entschuldigungsgrund nicht glaubhaft gemacht. Insoweit könnte auch ein bloßes - das Verschulden nicht ausschließendes - Versehen vorliegen. In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, daß es sich, worauf das FG zutreffend hingewiesen hat - im beruflichen Bereich um einen einmaligen Vorgang gehandelt hat (vgl. auch BFH-Urteil vom 23. Januar 1986 IV R 16/84, BFH/NV 1987, 451). Möglich erscheint es auch, die Ursache für das Versagen in der Grippeerkrankung zu sehen. Sollte der Prozeßbevollmächtigte der Kläger in dieser Hinsicht seine Kräfte überschätzt haben, wäre ihm dies - wie auch vom FG ausgeführt - ebenfalls als Verschulden anzulasten. Davon geht auch der Prozeßbevollmächtigte der Kläger aus, wenn er nach einer besonderen medizinischen Erklärung für sein Versagen sucht. Dafür hat er aber ausreichende Beweismittel nicht vorlegen können. Die diesbezüglich mitgeteilten Äußerungen der von ihm konsultierten Ärzte genügen nicht, weil diese lediglich die Möglichkeit seiner Vermutung bejahen. Mangelnde Sachverhaltsaufklärung (§ 76 FGO) kann dem FG in diesem Zusammenhang nicht vorgehalten werden. Wie dargelegt, ist es vielmehr grundsätzlich Sache der Kläger, die für die Entscheidung über die Wiedereinsetzung maßgebenden Tatsachen glaubhaft zu machen. Die Notwendigkeit, von Amts wegen noch zusätzliche eigene Ermittlungen anzustellen, wie dies im Falle von einander widersprechenden Beweismitteln in Betracht kommen kann (Beschluß des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 21. November 1974 III ZB 8/74, HFR 1975, 350), hat sich im Streitfall nicht aufgedrängt (vgl. hierzu Gräber, Finanzgerichtsordnung, Kommentar, § 56 Anm. 12).

Zutreffend hat das FG das Verschulden der Kläger auch in der im Streitfall fehlenden Fristenkontrolle gesehen. Ausreichende Entschuldigungsgründe haben die Kläger insoweit nicht angegeben. Zwar hat ihr Prozeßbevollmächtigter eine Anweisung an sein Personal vorgebracht, bei der Fristenkontrolle auch die Erledigung zu überwachen. Wie die Fristen kontrolliert worden sind, hat er dagegen nicht dargelegt. Damit läßt sich nicht beurteilen, ob die Fristenkontrolle den von der Rechtsprechung des BFH verlangten Erfordernissen gerecht wird (vgl. hierzu Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 110 AO 1977 Tz. 22). Nicht entlasten kann die Kläger auch die vorgetragene Anweisung des Prozeßbevollmächtigten an sein Personal, den Vorgang abzulegen, und zwar hinsichtlich der Klagen gegen die Einspruchsentscheidungen schon deshalb, weil sie erst nach Ablauf der Klagefrist ergangen ist. Davon abgesehen könnte darin allenfalls dann ein Entschuldigungsgrund liegen, wenn der dieser Anweisung zugrunde liegende Irrtum hinsichtlich der Erledigung des Vorgangs entschuldigt wäre, was aber nicht der Fall ist.

Die in den Revisionsverfahren unter Hinweis auf den Beschluß des Großen Senats des BFH vom 25. Oktober 1972 GrS 1/72 (BFHE 108, 1, BStBl II 1973, 231) beantragte Aussetzung der Verfahren kann nicht in Betracht kommen. Wenn im Beschluß des Großen Senats in BFHE 108, 1, BStBl II 1973, 231 als Regel ausgesprochen ist, daß das Verfahren über den ursprünglichen Bescheid bis zum rechtskräftigen Abschluß des Verfahrens über den Berichtigungsbescheid auszusetzen sei, so gilt dies, wie sich eindeutig aus der Begründung des Beschlusses des Großen Senats ergibt, nur für die Fälle, in denen der Fortgang des Verfahrens gegen den ursprünglichen Bescheid vom Ausgang des Verfahrens gegen den Berichtigungsbescheid abhängt. Im Streitfall steht unabhängig vom Ausgang der Verfahren über die Berichtigungsbescheide die Unzulässigkeit der Klagen gegen die ursprünglichen Bescheide fest. Auch mit einem - auch im Revisionsverfahren grundsätzlich möglichen - Antrag nach § 68 FGO (§ 123 Satz 2 FGO) ließe sich die Unzulässigkeit der Klagen wegen Fristversäumnis nicht beheben (BFH-Urteil vom 11. Dezember 1986 IV R 184/84, BFHE 148, 422, BStBl II 1987, 303). Damit entfällt die Notwendigkeit, die Verfahren über die ursprünglichen Bescheide auszusetzen. Einem Fortgang dieser Verfahren, hier also der Bestätigung der Abweisung der gegen die ursprünglichen Bescheide gerichteten Klagen, steht nichts im Wege.

 

Fundstellen

Haufe-Index 415456

BFH/NV 1989, 370

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