Entscheidungsstichwort (Thema)

Anwendung der AO 1977 auf vor dem 1.1.1977 entstandene Steueransprüche; Verjährungsfristen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Für Steueransprüche, die vor dem 1.Januar 1977 entstanden sind, richtet sich die Änderung ergangener Bescheide nach den Vorschriften der AO 1977.

2. Die Änderung solcher Bescheide, die vor diesem Zeitpunkt ergangen sind, ist jedoch nur innerhalb der Verjährungsfristen der §§ 144 f. AO zulässig.

 

Orientierungssatz

Bei der in § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO angesprochenen Verjährung handelt es sich um eine Frist, die i.S. des Art. 97 § 10 Abs. 1 Satz 2 EGAO 1977 "für die Aufhebung oder Änderung" einer Festsetzung von Steuer "von Bedeutung" ist.

 

Normenkette

AO § 144 S. 2, §§ 144, 222 Abs. 1 Nr. 2; AO § 107a DV § 2; EGAO 1977 Art. 97 § 10; AO 1977 § 173

 

Verfahrensgang

Hessisches FG (Entscheidung vom 27.11.1987; Aktenzeichen IX 402/81)

 

Tatbestand

Beim Arbeitgeber des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) wurde 1980 eine Lohnsteuer-Außenprüfung durchgeführt, die die Jahre 1977 bis 1979 betraf. Dabei wurde festgestellt, daß die Arbeitgeberanteile zur befreienden Lebensversicherung des Klägers zu Unrecht als Teil des Bruttoarbeitslohns versteuert worden waren.

In der Folgezeit beantragte der Kläger, die Einkommensteuerbescheide 1970 bis 1979 derart zu ändern, daß der in den Lohnsteuerkarten ausgewiesene Bruttoarbeitslohn um den jeweiligen Arbeitgeberanteil zur befreienden Lebensversicherung gekürzt wird. Der Antrag ging am 21.November 1980 beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt ―FA―) ein.

Hinsichtlich der Streitjahre 1971 bis 1973 lehnte das FA eine Änderung ab. Einspruch und Klage blieben erfolglos. Das Finanzgericht (FG) führte in seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1988, 276 veröffentlichten Urteil im wesentlichen folgendes aus:

Der Änderungsantrag des Klägers sei zu Recht abgelehnt worden. Zwar seien die Voraussetzungen des § 173 Abs.1 Nr.2 der Abgabenordnung (AO 1977) i.V.m. Art.97 § 9 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977) erfüllt. Die neuen Tatsachen seien dem FA aber nicht innerhalb der Verjährungsfrist des § 144 der Reichsabgabenordnung (AO) bekanntgeworden.

Nach Art.97 § 10 Abs.1 Satz 2 EGAO 1977 gälten für vor dem 1.Januar 1977 entstandene Ansprüche die Vorschriften der AO über die Verjährung und die Ausschlußfristen weiter, soweit diese u.a. für die Aufhebung oder Änderung der Festsetzung einer Steuer oder für die Geltendmachung von Erstattungsansprüchen von Bedeutung seien. Der Kläger wolle mit seinem Antrag erreichen, daß die im Wege des Lohnsteuerabzugs zu viel abgeführte Steuer auf die steuerfreien Arbeitgeberanteile zur befreienden Lebensversicherung erstattet werde. Da für die Streitjahre Einkommensteuerveranlagungen durchgeführt worden seien, müßten die entsprechenden Bescheide geändert werden, damit der Erstattungsanspruch fällig werde. Entstanden sei der Erstattungsanspruch allerdings bereits zum Zeitpunkt der Zahlung der nicht geschuldeten Lohnsteuer.

Nach dem Wortlaut des Art.97 § 10 Abs.1 Satz 2 EGAO 1977 könne der Kläger den Anspruch auf Änderung zwar zeitlich unbegrenzt geltend machen; denn die AO habe für Erstattungsansprüche der Steuerpflichtigen aufgrund einer berichtigten Steuerfestsetzung keine Verjährung, sondern lediglich eine Ausschlußfrist vorgesehen, innerhalb derer der Anspruch auf Erstattung habe verfolgt werden müssen (§ 151 AO). Die vorgenannte Übergangsregelung enthalte aber nach Ansicht des Senats eine verdeckte Regelungslücke, die im Wege der teleologischen Reduktion in einschränkender Weise geschlossen werden müsse. Hierfür sei der Rechtsgedanke des früheren § 222 Abs.1 Nr.2 AO heranzuziehen; danach müßten die neuen Tatsachen vor Ablauf der Verjährungsfrist bekanntgeworden sein. Zu diesem Ergebnis komme man durch einen Vergleich der Verjährungs- und Änderungsvorschriften der AO mit den Verjährungs- und Änderungsvorschriften der AO 1977 einerseits und durch die Prüfung der Frage andererseits, inwieweit die Übergangsregelung des Art.97 § 9 und § 10 Abs.1 EGAO 1977 die vom Gesetzgeber beabsichtigte Abwicklung der Übergangsfälle systematisch gelöst habe. Der Gesetzgeber hätte, wäre ihm die verdeckte Regelungslücke bekannt gewesen, aus Gründen der Rechtssicherheit auch Änderungsbegehren der hier streitigen Art zeitlich begrenzt; das ergebe sich sowohl aus § 222 Abs.1 Nr.2 AO als auch aus der Systematik der §§ 173 Abs.1 Nr.2 und 169 AO 1977.

Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung von § 144 AO i.V.m. Art.97 § 10 Abs.1 Satz 2 und § 9 EGAO 1977.

Er hält die Annahme des FG, es liege eine verdeckte Regelungslücke vor, die im Wege der teleologischen Reduktion geschlossen werden müsse, für unzutreffend. Eine "relevante Besonderheit" (Hinweis auf Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3.Aufl., S.362), die das Gesetz außer acht gelassen haben könnte, wäre im vorliegenden Fall die Unverjährbarkeit von Erstattungsansprüchen nach der AO. Für eine solche Annahme biete jedoch weder das Gesamtkonzept der EGAO 1977 noch Art.97 § 10 Abs.1 Satz 2 EGAO 1977 einen Anhaltspunkt. Denn nach dem Gesamtkonzept der Übergangsregelungen sollten für die Aufhebung oder Änderung von Verwaltungsakten nur die neuen Änderungsvorschriften wirksam sein. Soweit Steuern vor dem 1.Januar 1977 entstanden seien, seien sie bereits mit Verjährungs- oder Ausschlußfristen "belastet". Wären diese Belastungen durch das EGAO 1977 ebenfalls für unwirksam erklärt und die Verjährung nach den neuen Regeln angeordnet worden, so wäre in vielen Fällen eine verfahrensrechtliche Doppelbelastung insoweit entstanden, als sich Verjährungsfristen nach altem und neuem Recht addiert hätten. Um dieses auszuschließen, seien die Verfahrensregelungen zur Verjährung nach altem Recht fortgeführt worden.

Auch Art.97 § 10 Abs.1 Satz 2 EGAO 1977 selbst spreche dafür, daß der Gesetzgeber die Unverjährbarkeit von Erstattungsansprüchen bei der Regelung mit bedacht habe. Denn hiernach gälten nicht nur die Vorschriften der AO über die Verjährung weiter, sondern auch die über die Ausschlußfristen. Damit sei auch die Ausschlußfrist des § 151 AO gemeint, wonach ein Anspruch auf Erstattung nach Ablauf einer bestimmten Frist ausgeschlossen sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist im Ergebnis unbegründet.

1. Zu Recht ist das FG davon ausgegangen, daß die Änderung von Bescheiden über vor dem 1.Januar 1977 entstandene Einkommensteueransprüche (§ 3 Abs.1, 5 Nr.1 c des Steueranpassungsgesetzes ―StAnpG―; jetzt § 36 Abs.1 des Einkommensteuergesetzes ―EStG―) nicht zeitlich unbegrenzt zulässig ist.

Zwar richtet sich die Änderung der streitigen Einkommensteuerbescheide 1971 bis 1973 gemäß Art.97 § 9 EGAO 1977 bereits nach neuem Recht, hier also nach § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977. Nach Art.97 § 10 Abs.1 EGAO 1977 gelten jedoch die Vorschriften der AO 1977 über die Festsetzungsverjährung u.a. für die Aufhebung und Änderung der Festsetzung von Steuern erst für Steuern, die nach dem 31.Dezember 1976 entstanden sind. Für vorher entstandene Ansprüche gelten die Vorschriften der AO über die Verjährung und über die Ausschlußfristen weiter, soweit sie u.a. für die Aufhebung oder Änderung einer Steuerfestsetzung von Bedeutung sind.

Für die Aufhebung oder Änderung einer Steuer zugunsten des Steuerpflichtigen sah die AO aber in § 222 Abs.1 Nr.2 die Regelung vor, daß eine Änderung nur stattfand, "wenn durch eine Betriebsprüfung vor dem Ablauf der Verjährungsfrist neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die eine niedrigere Veranlagung rechtfertigen". Entgegen der Auffassung des FG handelt es sich also bei der in dieser Vorschrift angesprochenen Verjährung um eine Frist, die i.S. des Art.97 § 10 Abs.1 Satz 2 EGAO 1977 "für die Aufhebung oder Änderung" einer Festsetzung von Steuer "von Bedeutung" ist. Welche Fristen die AO für Erstattungsansprüche des Steuerpflichtigen aufgrund (also nach) einer Änderung der Steuerfestsetzung vorsah, ist in vorliegendem Zusammenhang unerheblich. Denn es geht hier nur um die Frage, ob die Voraussetzungen für eine Änderung vorliegen.

Richtig ist allerdings, daß § 222 Abs.1 Nr.2 AO eine Änderung nur nach einer Fehleraufdeckung im Rahmen einer Betriebsprüfung vorsah, und daß diese Voraussetzung nach der für die Änderung der hier streitigen Bescheide maßgeblichen Vorschrift des § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 keine Bedeutung mehr hat. Daraus ergibt sich aber nur, daß es hier nicht darauf ankommt, ob die Tatsachen oder Beweismittel, die der Kläger für eine Änderung anführt, i.S. des § 222 Abs.1 Nr.2 AO "durch" eine Betriebsprüfung bekanntgeworden sind (was das FG verneint hat). Daß die Aufhebung bzw. Änderung von Steuerverwaltungsakten nach § 222 Abs.1 Nr.2 AO insoweit von einer zusätzlichen Voraussetzung abhängig war, besagt nicht, daß die erstgenannte Voraussetzung, daß die Tatsachen vor Ablauf der Verjährungsfrist bekanntgeworden sein müssen, im Rahmen des Art.97 § 10 Abs.1 Satz 2 EGAO 1977 unberücksichtigt bleiben müßte. Nach Auffassung des Senats kommt vielmehr im Text des Art.97 § 10 Abs.1 Satz 2 EGAO 1977 ―hinreichend deutlich― zum Ausdruck, daß die Aufhebung oder Änderung von Steuerfestsetzungen betreffend vor dem 1.Januar 1977 entstandene Steueransprüche nicht mehr möglich sein soll, wenn dies nach altem Recht wegen des Ablaufs von Verjährungs- oder Ausschlußfristen nicht mehr möglich wäre. Diese Auslegung fußt insbesondere auf der offenbar bewußt weit gefaßten Formulierung der Vorschrift: "von Bedeutung sind".

Der Senat sieht mithin keine Veranlassung, dem Gesetzgeber, der in Art.97 § 10 Abs.1 EGAO 1977 gerade eine Übergangsregelung für die Fälle der Aufhebung bzw. Änderung von Steuerfestsetzungen treffen wollte und getroffen hat, zu unterstellen, er hätte die in diesem Zusammenhang besonders wichtige Frage, innerhalb welcher Fristen die Aufhebung oder Änderung in Übergangsfällen möglich sein solle, nicht regeln wollen oder versehentlich ungeregelt gelassen. Für die Annahme einer (verdeckten oder offenen) Regelungslücke ist deshalb kein Raum (im Ergebnis ebenso Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13.Aufl., § 173 AO 1977, Tz.43).

2. Nach den bis zum 31.Dezember 1976 gültigen Vorschriften der AO betrug die Verjährung von Einkommensteueransprüchen fünf Jahre (§ 144 Abs.1 AO). Die Verjährung begann u.a. bei Steuern vom Einkommen (mit Ausnahme der Steuern, die im Abzugsverfahren erhoben werden) mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuererklärung für den jeweiligen Veranlagungszeitraum abgegeben wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf die Entstehung des Steueranspruchs folgt (§ 145 Abs.2 Nr.1 AO).

Unbeschadet der Auslegung des Klammerzusatzes im § 145 Abs.2 Nr.1 AO ("mit Ausnahme der Steuern, die im Abzugsverfahren erhoben werden" ―vgl. hierzu Urteil des Bundesfinanzhofs vom 20.Januar 1989 VI R 78/85, BFH/NV 1989, 686 m.w.N.―) waren die Einkommensteueransprüche hier verjährt. Denn, wie das FG festgestellt hat, ist als letzte die Einkommensteuererklärung 1973 am 12.März 1974 abgegeben worden. Die fünfjährige Verjährungsfrist endete also am 31.Dezember 1979. Die hier geltend gemachten Tatsachen, auf die der Kläger seinen Änderungsanspruch stützt, sind dem FA aber nach den Feststellungen des FG erst im Jahre 1980 bekanntgeworden, so daß dieses zu Recht eine Änderung der Bescheide nach § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 abgelehnt hat.

 

Fundstellen

Haufe-Index 63146

BFH/NV 1990, 65

BStBl II 1990, 770

BFHE 160, 425

BFHE 1991, 425

BB 1990, 2395

BB 1990, 2395-2396 (LT1-2)

DB 1990, 2004 (T)

HFR 1990, 597 (LT)

StE 1990, 317 (K)

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