Leitsatz (amtlich)

1. Zur Frage der Wirksamkeit einer Urteilsverkündung.

2. Der Senat eines FG ist auch dann ordnungsgemäß besetzt, wenn ein blinder Richter zum Vorsitzenden bestellt wird.

2. Der blinde Vorsitzende ist auch bei umfangreichen Sachen an der Mitwirkung nicht gehindert, wenn weder eine Augenscheinseinnahme erforderlich ist noch die Entscheidung von der Fähigkeit des Vorsitzenden abhängt, sonst einen optischen Eindruck zu gewinnen.

 

Normenkette

FGO §§ 94, 104 Abs. 1, § 119 Nr. 1; ZPO § 159 Abs. 1, § 160 Abs. 3 Nr. 7, §§ 163, 165

 

Verfahrensgang

Hessisches FG

 

Tatbestand

Über die Klage hat ein Senat des FG entschieden, dessen Vorsitzender blind war.

Das FG hat die Klage abgewiesen.

Der Kläger hat Revision eingelegt und seinen Klageanspruch weiterverfolgt. Er hat neben den Sachrügen eine Reihe von Verfahrensrügen erhoben. U. a. hat er gerügt, daß das Gericht wegen der Mitwirkung des blinden Vorsitzenden nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen sei.

 

Entscheidungsgründe

Seine Revision ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen.

1. Entgegen der Auffassung des Klägers liegt ein wirksames Urteil des FG vor.

Das Urteil ist durch seine Verkündung am 27. Februar 1981 entstanden. Die Verkündung wird durch das Sitzungsprotokoll bewiesen (§ 94 der Finanzgerichtsordnung - FGO - i. V. m. § 165, § 160 Abs. 3 Nr. 7 der Zivilprozeßordnung - ZPO -).

Die Beweiskraft des Protokolls wird auch nicht dadurch beeinträchtigt, daß der Teil des Protokolls, durch den die Verkündung beurkundet worden ist, nur von dem blinden Vorsitzenden unterschrieben worden ist. Die zur mündlichen Verhandlung zugezogene Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle durfte das Protokoll nur insoweit unterschreiben, als sie selbst Protokoll geführt hat. An der Verkündung des Urteils hat sie nicht teilgenommen. Denn der Vorsitzende hatte für die Verkündung von der Zuziehung eines Urkundsbeamten abgesehen (vgl. § 159 Abs. 1 ZPO). Unter diesen Umständen hatte der Vorsitzende den Teil des Protokolls, der die Verkündung enthielt, allein zu unterschreiben. Dies gilt auch für den Fall, daß der Vorsitzende diesen Teil des Protokolls der Urkundsbeamtin diktiert haben sollte. Denn in diesem Falle wäre sie nicht Protokollführerin, sondern nur Schreibkraft gewesen.

Der Vorsitzende war auch nicht i. S. des § 163 Abs. 2 ZPO an der Unterschrift gehindert. Daß er das geschriebene Protokoll nicht selbst lesen konnte, ist kein Hinderungsgrund, das Protokoll zu unterschreiben. Den Protokollinhalt konnte er durch Vorlesen aufnehmen und durch seine Unterschrift billigen. Es gelten hier nicht die strengen Regeln, die der Bundesgerichtshof (BGH) für die Tätigkeit eines Notars aufgestellt hat (vgl. hierzu den Beschluß vom 17. Dezember 1962 NotZ 8/62, BGHZ 38, 347, 351 f.). Selbst wenn man aber der Meinung sein sollte, daß ein blinder Vorsitzender i. S. des § 163 Abs. 2 ZPO verhindert ist, so würde dies nach Auffassung des erkennenden Senats nichts daran ändern, daß das Urteil des FG am 27. Februar 1981 verkündet worden ist. Auch wenn dem Protokoll nicht die Beweiskraft i. S. des § 165 ZPO zukommen sollte, gibt es keine ernstlichen Zweifel an der Verkündung des Urteils. Daraus folgt, daß das verkündete Urteil Grundlage der Revisionsprüfung ist.

Das verkündete Urteil ist auch nicht deshalb unwirksam, weil der Verkündungstermin vom 27. Februar 1981 nicht ordnungsgemäß bekanntgemacht worden ist, und zwar entweder durch verkündeten Beschluß oder durch schriftliche Ladung. Der Senat folgt dem Großen Senat des BGH in Zivilsachen, daß ein solcher Fehler das Entstehen des verkündeten Urteils nicht hindert, daß vielmehr eine Anfechtung nur möglich ist, wenn das Urteil auf diesem Fehler beruhen kann (vgl. den Beschluß vom 14. Juni 1954 GSZ 3/54, BGHZ 14, 39). Daß das Urteil im vorliegenden Falle auf diesem Fehler beruhen kann, ist aber weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

2. Der entscheidende Senat des FG war nicht deshalb vorschriftswidrig besetzt, weil ein blinder Vorsitzender an der Verhandlung und an der Urteilsfindung mitgewirkt hat.

Blinde Richter sind als Mitglieder des Spruchkörpers eines Tatsachengerichtes in der Lage, die ihnen als Richter obliegenden Aufgaben ordnungsgemäß zu erfüllen, soweit sie nicht an einer Augenscheinseinnahme im engeren Sinne (vgl. §§ 371 ff. ZPO) mitwirken oder es sonst für die Entscheidung auf das Gewinnen optischer Eindrücke ankommt (vgl. u. a. BGHZ 38, 347, 348; Urteil des BGH vom 28. September 1962 4 StR 301/62, BGHSt 18, 51; Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 21. Juli 1965 - 11 RA 208/64, BSGE 23, 184, hierzu Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - gemäß § 24 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vom 16. Mai 1966 1 BvR 473, 578/65, BVerfGE 20, 52, 55; Beschluß des BSG vom 11. Februar 1971 12 RJ 424/70, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1971, 1382, sowie das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 27. April 1982 6 C 140.81, BVerwGE 65, 240).

Von den genannten Einschränkungen abgesehen, beeinträchtigt die Blindheit eines Richters nicht die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme i.S. des § 81 Abs. 1 FGO. Der blinde Richter ist nicht durch seine Blindheit gehindert, die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung entgegenzunehmen und in sich aufzunehmen. Soweit es auf den Inhalt von Urkunden ankommt, bedarf er zwar der Unterstützung durch eine Hilfskraft; dies ist aber unbedenklich. Dasselbe gilt für die Aufnahme des Akteninhalts durch den blinden Richter (vgl. BGH-Entscheidung vom 17. Dezember 1962 NotZ 8/62, NJW 1963, 1010, 1011).

Dies alles gilt auch für den vorsitzenden Richter (vgl. BSG-Beschluß in NJW 1971, 1382), es sei denn, daß er wegen der Zahl von Fällen, an denen er nicht mitwirken kann, nicht mehr in der Lage ist, einen richtunggebenden Einfluß auf den Spruchkörper auszuüben (vgl. Baumbach/Lauterbach, Zivilprozeßordnung, 42. Aufl., § 21 f. des Gerichtsverfassungsgesetzes Anm. 2 B, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung). Hieran ändert auch der Umstand nichts, daß der vorsitzende Richter gegenüber den beisitzenden Richtern zusätzliche Aufgaben zu erfüllen hat (vgl. z. B. § 76 Abs. 2, § 79, § 92, § 155 FGO i. V. m. § 216 ZPO, § 94 FGO i. V. m. § 163 Abs. 1 ZPO).

Für das finanzgerichtliche Verfahren ist anzunehmen, daß es nur wenige Fälle gibt, in denen ein blinder Vorsitzender von der Mitwirkung ausgeschlossen ist. Denn Augenscheinseinnahmen im engeren Sinne sind verhältnismäßig selten.

Entgegen der Auffassung des Klägers war der blinde Vorsitzende auch nicht wegen besonderer Umstände im vorliegenden Fall an der Mitwirkung gehindert. Der blinde Vorsitzende konnte den Kläger anhören und die geladenen Zeugen vernehmen. Auf das "Erscheinungsbild" des Klägers oder eines Zeugen kam es für die Entscheidung nicht an (vgl. hierzu BVerwGE 65, 240, 241 f.). Hinsichtlich des Kaufvertrages über den Erwerb der Grundschulden vom 6. Januar 1967 kam es für die Entscheidung nur auf den Inhalt dieses Vertrages, nicht aber auf das Aussehen der Vertragsurkunde an.

Das FG hat allerdings umfangreiche Beiakten herangezogen. Indessen war der blinde Vorsitzende gleichwohl nicht gehindert, die für die Entscheidung relevanten Teile dieser Beiakten mit Hilfe einer Vorlesekraft und der sehenden Richter aufzunehmen. Er war deshalb in der Lage, sich den gesamten Prozeßstoff anzueignen. Mit der Revision ist auch nicht geltend gemacht worden, daß wesentliche Teile der beigezogenen Akten keinen Eingang in die getroffene Entscheidung gefunden hätten.

Der Senat hat noch die Frage geprüft, ob sich aus dem Beschluß des BVerfG vom 16. Mai 1966 in BVerfGE 20, 52, 55 die Aussage ergibt, blinde Richter dürften in einem kollegial besetzten Tatsachengericht nur mitwirken, wenn lediglich über Rechtsfragen gestritten werde, bejahendenfalls, ob der Senat gemäß § 31 Abs. 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) an diese Aussage des BVerfG gebunden wäre.

Der erkennende Senat verneint bereits die erste Frage. In dem vorangegangenen sozialgerichtlichen Verfahren wurde seinerzeit lediglich über eine Rechtsfrage, nicht über Tatsachen gestritten. Vor diesem Hintergrund gelangte das BVerfG zu der Aussage: Ein blinder Richter besitze, wie das BSG zu Recht angeführt habe (BSGE 23, 184), die Fähigkeit, den mündlichen Vortrag der Beteiligten entgegenzunehmen und gedanklich zu verarbeiten, "wenn der Vortrag sich, wie im vorliegenden Falle, auf Rechtsfragen" beschränke und die Bildung des richterlichen Urteils von dem Sehvermögen unabhängig sei. Es ist nicht ersichtlich, daß das BVerfG dieser Aussage ausschließenden Charakter in dem Sinne geben wollte, die Mitwirkung eines blinden Richters in anderen Fällen, z. B. bei der Verhandlung und Entscheidung von Tatfragen, sei ausgeschlossen. Angesichts der vom BSG in dem (mit der Verfassungsbeschwerde angefochtenen) Urteil in BSGE 23, 184, 185 wiedergegebenen Fundstellen ist anzunehmen, daß sich das BVerfG mit der Rechtsprechung zur Frage der Mitwirkung von blinden Richtern in der Tatsacheninstanz im einzelnen auseinandergesetzt hätte, wenn es die Mitwirkung blinder Richter bei der Beweisaufnahme generell hätte ausschließen wollen. Der Senat ist deshalb der Auffassung, daß der wiedergegebene Satz des Beschlusses des BVerfG nicht so verstanden werden darf, als wenn ihm das Wort "nur" hinzugefügt worden wäre.

 

Fundstellen

Haufe-Index 75014

BStBl II 1984, 532

BFHE 1984, 514

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